学者是身份的象征?处理医学学科的学科文化记忆

IF 0.6 2区 哲学 Q2 HISTORY & PHILOSOPHY OF SCIENCE
Matthis Krischel, Julia Nebe, Timo Baumann
{"title":"学者是身份的象征?处理医学学科的学科文化记忆","authors":"Matthis Krischel,&nbsp;Julia Nebe,&nbsp;Timo Baumann","doi":"10.1002/bewi.202300018","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"<p>Medizinische Fachgesellschaften, Berufsverbände und Standesvertretungen verfügen über eine ausgeprägte fachkulturelle Erinnerung mit langen Traditionen. Solche Institutionen richten Jubiläums- und Gedenkveranstaltungen aus, haben historische Arbeitskreise – und neben externen Historiker:innen publizieren auch Mitglieder in wissenschaftlich-klinischen sowie berufspolitischen Zeitschriften über die Geschichte des jeweiligen medizinisches Fachs. Die parallel zu fast jedem Fach existierenden wissenschaftlichen Gesellschaften, Berufsverbände und Standesvertretungen beschäftigen sich nicht zuletzt auch mit der Benennung von Preisen und betreiben „Aufarbeitungsprojekte“, etwa zur Medizin im Nationalsozialismus. Viele wissenschaftliche Auszeichnungen, die insbesondere Fachgesellschaften verleihen, tragen den Namen einer Identifikationsfigur, typischerweise eines bekannten früheren Mitglieds; darüber hinaus sind auch oft ganze Institutionen nach einer solchen Person benannt. Mittels Beispielen aus den Fächern Humangenetik, Kreislaufforschung, Urologie und Zahnheilkunde möchten wir in diesem Beitrag schlaglichtartig aufzeigen, nach welchen Kriterien Fachvertreter:innen als Identifikationsfiguren ausgewählt werden, um Preise und Institutionen zu benennen – oder eben auch nicht; und, warum andere Personen eine solche Rolle erst erlangten, mittlerweile aber wieder verloren haben. Einleitend stellen wir dar, wie sich die Beschäftigung mit der (nationalsozialistischen) Geschichte der Medizin und Lebenswissenschaften historisch verändert hat und reflektieren kritisch die Aufarbeitungsforschung, die im Spannungsfeld zwischen historischem Erkenntnisinteresse, historisch-politischer Bildung, Geschichtspolitik und Auftragsforschung verortet ist.</p><p>Die gewählten Fallbeispiele stammen insbesondere aus unseren eigenen Forschungen zur Medizingeschichte und der Erinnerungskultur in medizinischen Institutionen mit Bezug zum Nationalsozialismus und deren Reflexion in der Nachkriegszeit. Die Frage nach einer Verstrickung in den Nationalsozialismus („NS-Belastung“) ist relevant, weil sie noch immer schwerer zu wiegen scheint als die nach dem Verhalten von Akteuren in anderen (Unrechts-)Kontexten.<sup>1</sup> In diesem Beitrag werden nun Bezüge zu diesem Themenkomplex eröffnet, um das Spektrum von möglichen Konjunkturen von Erinnerungskultur und Geschichtspolitik von der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart exemplarisch zu illustrieren.<sup>2</sup> Gleichzeitig versuchen wir, durch den Vergleich übergreifende Trends aufzufinden.</p><p>Um als Identifikationsfigur dienen zu können, nach der etwa ein Preis oder eine Institution benannt sein kann, muss die Person sowohl <i>nach innen</i>, also für die benennende Körperschaft, eine Projektionsfläche für Identität und Gemeinschaft bieten als auch geeignet sein, diese Körperschaft <i>nach außen</i> hin zu repräsentieren. In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich u. a. durch generationellen Wandel und das damit verbundene Wegfallen von Loyalitäten in vielen Fachgesellschaften ein kritischer Blick auf ehemals gerühmte Fachvertreter:innen entwickelt, wenn sie als NS-belastet gelten müssen – wobei jedoch die Antwort auf die Frage, was als Belastung gilt, selbst historisch wandelbar und mutmaßlich von Faktoren wie dem Geschlecht abhängig ist. Gleichzeitig kommen aber auch aus der Öffentlichkeit mehr kritische Nachfragen. Über soziale Medien ist es leichter als in der Vergangenheit möglich, fragliche Benennungen öffentlich zu machen. Für eine Fachgesellschaft, die u. a. Professionalität ausstrahlen möchte, kann hier also Handlungsbedarf – konkret das Lösen einer als belastet wahrgenommenen Person von einem Preis oder einer Institution – bestehen, um die Reputation einer als „historisch-ethisch korrekt handelnden“ Institution aufrecht zu erhalten.<sup>3</sup></p><p>Schwerpunktmäßig seit dem Jahr 2000 haben zahlreiche medizinische Institutionen – darunter Fachgesellschaften sowie Kammern, Berufsverbände und Fakultäten – ihre Geschichte aufarbeiten lassen. Der schon seit den 1980er-Jahren üblich gewordene Begriff der Aufarbeitung kann dabei ähnlich kritisch gesehen werden wie der bis dahin eher verbreitete Begriff der Vergangenheitsbewältigung.<sup>4</sup> Die Begriffe sind seit der unmittelbaren Nachkriegszeit bis heute für die juristische, politische, gesellschaftliche, geschichtswissenschaftliche und erinnerungskulturelle Beschäftigung mit der (NS-)Vergangenheit, der (NS-)Belastung von Akteuren und der Rehabilitation von (im Nationalsozialismus) verfolgten und diskriminierten Personen verwendet worden. Bereits um das Jahr 2015 waren dabei so viele Studien zu den Aufarbeitungsprojekten verschiedener medizinischer Fachgesellschaften zusammengekommen, dass ein erster Versuch des Vergleichs und der Synthese unternommen werden konnte.<sup>5</sup></p><p>Seit der Jahrtausendwende war es bei Behörden und Ministerien üblich geworden, Aufträge zur Aufarbeitung an externe Expert:innen zu vergeben,<sup>6</sup> manche sehen gar eine durch die Republik rollende „Auftragswelle“.<sup>7</sup> Beispielhaft dafür ist die 2010 veröffentlichte, medial breit rezipierte Studie zum Auswärtigen Amt,<sup>8</sup> die seit 2005 von einer unabhängigen Historikerkommission im Auftrag des Außenministeriums erstellt worden war. Mit dieser Vergabe des entsprechenden Aufarbeitungsauftrags an externe Wissenschaftler:innen (anstatt einer Bearbeitung <i>in house</i>) wurde zugleich ein neuer Standard gesetzt, an dem sich in der Folge auch viele medizinische Fachgesellschaften orientierten; sie entschieden sich häufig dafür, medizinhistorische Universitätsinstitute zu beauftragen.<sup>9</sup> Es war die Erkenntnis gewachsen, dass die zugrundeliegende historische Forschung im eigenen Hause gar nicht geleistet werden könne.<sup>10</sup> Solche Projekte sind von medizinhistorischen Instituten gerne bearbeitet worden, brachten sie doch die projektleitenden und -bearbeitenden Historiker:innen in Kontakt mit Kliniker:innen und gleichzeitig Drittmittel ein.</p><p>Darauf, dass in solchen Kooperationen, die sich immer an der Grenze zur Auftragsforschung bewegen, der Drittmittelgeber dem beauftragten Institut die Fragestellung vorgibt, hat Ralph Jessen hingewiesen – schließlich „suchen nicht professionelle Historiker ein Forschungsobjekt, sondern umgekehrt suchen sich die Forschungsobjekte professionelle Historiker“.<sup>11</sup> Dabei geben nach unserer Erfahrung die Drittmittelgeber heute keinerlei Antworten vor, sondern wünschen im Gegenteil möglichst unabhängige Untersuchungen, die in wissenschaftlich anerkannte Publikationen münden. Jessen stellt dazu heraus: „Wer gegen das Unabhängigkeitsgebot verstößt, desavouiert als Auftraggeber sein eigenes Anliegen, und die Historiker, die sich darauf einlassen, ruinieren ihren Ruf.“<sup>12</sup> Gleichzeitig fällt aber auf, dass in einem zunehmend durch Drittmittel strukturierten Forschungsmilieu Leerstellen entstehen, wenn zwischen 1933 und 1945 aktive Institutionen heute keine Nachfolger haben oder diese für eine Projektfinanzierung zu finanzschwach sind. Dies passt zu Jessens Befund, dass eine an Auftragsforschung angrenzende Aufarbeitungsforschung Personal und andere Ressourcen für Forschung einsetzt, deren Themen von außen gesetzt werden. Zudem kann an historischen Instituten, die regelmäßig solche Aufarbeitungsprojekte durchführen, eine strukturelle Abhängigkeit von Drittmittelprojekten verstärkt werden.<sup>13</sup></p><p>Anhand der Projekte, die zustande kamen, lassen sich in einer vergleichenden Rückschau Trends bei den Identifikationsfiguren ausmachen. Wir betrachten in diesem Beitrag Phänomene, die Dietmar von Reeken und Malte Thießen in ihrem Band <i>Ehrregime</i> untersucht haben: Jede Zeit hat ihre eigenen Maßstäbe, wer wen wie erinnert, ehrt oder als Vorbild für geeignet hält.<sup>14</sup> Zentral ist dabei nach Alexander Pinwinkler und Johannes Koll der Umstand, dass „Ehrungen und Entehrungen nicht isoliert von ihren historischen, politischen und gesellschaftlichen Kontexten betrachtet werden“ können.<sup>15</sup> Im Unterschied zu diesen Vorarbeiten zielt unser Beitrag jedoch stärker auf die Frage ab, unter welchen Umständen Gelehrte in medizinischen Fächern als Identifikationsfiguren installiert (und demontiert) werden. Das Benennen eines Preises oder einer Institution nach einer Person ist zwar durchaus dazu geeignet, die Person bzw. ihr Andenken zu ehren. Im Gegensatz zu Ehrenmitgliedschaften oder Ehrenpräsidentschaften sind solche Benennungen jedoch tendenziell eher bereits verstorbenen Fachvertreter:innen und -pionier:innen vorbehalten. Die Benennung von Institutionen und Preisen nach Personen ist darüber hinaus im Gesundheitswesen so üblich, dass sie gelegentlich eher als „Möblierung“ des fachkulturellen Erinnerungsraumes wahrgenommen wird denn als Ehrung des Namensgebers.<sup>16</sup> Einen Aspekt, den das Übernehmen der Rolle als Identifikationsfigur mit einer Ehrung gemeinsam hat, ist jedoch zweifellos der „Zukunftsbezug“, also die „Aufforderung an die Mitglieder des Kollektivs, es dem Geehrten“ (oder der Identifikationsfigur) gleichzutun.<sup>17</sup> Und nur dann, wenn die Vorstellung für die Mitglieder des Kollektivs attraktiv ist, es einem Gelehrten einer früheren Generation gleichzutun, kann dieser Gelehrte die Rolle als Identifikationsfigur ausfüllen.</p><p>Wir gehen von der These aus, dass in der Erhebung von Gelehrten zu Identifikationsfiguren die Wertvorstellungen und standespolitischen Ziele medizinischer Fachgesellschaften und Institutionen sowie ihrer Mitglieder exemplarisch sichtbar werden. Relevante Qualitäten solcher Fachgesellschaften sind, wie Heiner Fangerau und Christiane Imhof gezeigt haben, die Repräsentation von Professionalisierung und Spezialisierung nach außen sowie die gegenseitige Anerkennung und kollegiale Verantwortungsübernahme nach innen.<sup>18</sup></p><p>Gelehrte müssen diese internen und externen Funktionen somit zunächst einmal erfüllen, um in den Kreis möglicher Identifikationsfiguren überhaupt aufgenommen werden zu können. Folglich orientieren sich die Konjunkturen der Identifikation durch herausgehobenes Erinnern an internen und externen Faktoren, die einzelne Fachvertreter:innen als Identifikationsfiguren empfehlen oder ungeeignet machen können.<sup>19</sup> Zu den internen Faktoren zählen hier etwa: Lehrer-Schüler-Verhältnisse, persönliche Sympathien oder Animositäten sowie das Handeln der potentiellen Identifikationsfiguren im wissenschaftlichen und institutionellen Kontext (Forschung, Lehre, Rollen in Fachgesellschaften oder Standesorganisationen). Zu den externen Faktoren zählen: das (vermutete) Interesse der Öffentlichkeit an potentiell problematischen Handlungen in bestimmten Kontexten (Kolonialismus, Nationalsozialismus, DDR, etc.), die Projektion des Images einer Fachgesellschaft als „professionelle, historisch-ethisch korrekt handelnde“ Institution nach außen,<sup>20</sup> und die Wahrnehmung eines allgemeinen gesellschaftlichen Wertewandels, durch den Aspekte in den oder aus dem öffentlichen Blick geraten können.</p><p>Richtet sich dieser Blick der Öffentlichkeit auf Wissenschaft und Medizin im Nationalsozialismus, so scheinen in den letzten ca. 20 Jahren in kurzer Folge mehrere graduelle Neugewichtungen von Kriterien vorgenommen worden zu sein: Während in der alten BRD gerade Mediziner meist als <i>reingewaschen</i> gegolten hatten, die in der Entnazifizierung nicht verurteilt worden waren oder zumindest im Amt bleiben konnten, schreckte Ernst Klee mit seinem <i>Personenlexikon</i> die Öffentlichkeit um die Jahrtausendwende auf. NS-Mitgliedschaften auf der Ebene von Lexikoneinträgen konnten nun nicht mehr ignoriert werden.<sup>21</sup> In direkter Folge erschienen seither Mitgliedschaften in SS, SA oder NSDAP<sup>22</sup> etwa im Online-Portal <i>Wikipedia</i> als zentrale Marksteine von Belastung oder Nicht-Belastung. Erst später sind Personen ohne Parteizugehörigkeit, wie der Chirurg Ferdinand Sauerbruch (1875–1951) oder der Medizinhistoriker Paul Diepgen (1878–1966), kritischer daraufhin untersucht worden, durch welche Handlungen sie das NS-Regime und seine Politik vielleicht dennoch gestützt haben. Dies eröffnete umgekehrt aber auch die Frage, als wie belastet Personen einzuschätzen sind, die aus Opportunismus als „Märzgefallene“ oder unter gewissem Druck der Partei oder anderen NS-Organisationen beitraten, wenn dazu kein Engagement für die Vertreibung von Kollegen aus rassistischen Gründen, für die Eugenik, die sogenannte Rassenlehre, Euthanasie-Morde oder andere NS-Medizinverbrechen trat.<sup>23</sup></p><p>Zunächst betrachten wir die Umbenennung von wissenschaftlichen Auszeichnungen und Institutionen unter den Vorzeichen eines veränderten Kenntnisstandes über die namensgebende Person und aktuellen Veränderungen in der Bewertung ärztlichen Handels im Nationalsozialismus. Wer als Namensgeber zu welchen Zeiten infrage kommen konnte, lässt sich entlang der deutschen Geschichte periodisieren:</p><p>(1) In Medizin und Gesellschaft hatte sich das Bild begangener NS-Medizinverbrechen in der Folge des Nürnberger Ärzteprozesses (1946–1947) auf rund 350 Haupttäter fokussiert.<sup>24</sup> Auch in den Nachfolgeprozessen, wie etwa dem Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965), wurden nur einzelne, persönlich schwer belastete Medizintäter verurteilt.<sup>25</sup> Weitere Beteiligte ebenso wie die nationalsozialistisch geprägten Strukturen des Gesundheitswesens wurden in der Folge eher verdrängt und vergessen. Diese weiteren Beteiligten blieben somit zunächst im Kreis derjenigen, die im Falle besonderer wissenschaftlicher Leistungen als Vorbilder präsentiert werden konnten. Die 68er-Revolte änderte daran wenig, denn kritische Studenten hatten wenig Einfluss auf die Benennung von Preisen, auch wenn ab diesem Zeitpunkt das „absichtsvolle Vergessen“ im Nachkriegsdeutschland stärker kritisiert wurde.<sup>26</sup> Wie unten gezeigt wird, sieht die wissenschaftliche Enkelgeneration in Loyalitäten zwischen Schülern und Lehrern ein entscheidendes Beharrungsmoment, das eine Aufarbeitung verhinderte.<sup>27</sup> Zudem stellte sich der Systemkonflikt zwischen der BRD und der vorgeblich antifaschistischen DDR einer vertieften Aufarbeitung entgegen: Die DDR prangerte NS-Täter, die ja alle in den Westen gegangen seien, an; eine eigene vertiefte Aufarbeitung in der BRD musste auf dieser Ebene kontraproduktiv erscheinen.<sup>28</sup></p><p>(2) Die akademische Medizingeschichte begann sich ab den 1980er Jahren dem Themenkomplex Medizin und Nationalsozialismus zuzuwenden. Als öffentlich sichtbarer Startpunkt wird häufig der Gesundheitstag 1980 angeführt, der in Berlin als Gegenveranstaltung zum 83. Deutschen Ärztetag stattfand und auf dem die NS-Medizinverbrechen offen diskutiert wurden. Noch in der Dekade erschienen erste Standardwerke und im <i>Deutschen Ärzteblatt</i> eine Serie von Artikeln, deren Autoren an medizinhistorischen Instituten angesiedelt waren.<sup>29</sup> In den 1990er Jahren konnte sich Forschung zur NS-Medizin im Mainstream der deutschen Medizingeschichte etablieren. Auch medizinische Fachgesellschaften und andere Institutionen begannen ab diesem Jahrzehnt Aufarbeitungsprojekte, unter denen das der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde als das Erste gilt.<sup>30</sup></p><p>(3) In der Folge begannen zahlreiche Institutionen, einen zunehmend kritischen Blick auf ihre Geschichte zu werfen. Ein prominentes Forschungsprojekt zur (eigenen) Geschichte im Nationalsozialismus ging dabei ab 1997 von der Max-Planck-Gesellschaft aus, weitere wichtige Marksteine waren ein an externe Experten vergebenes Forschungsprojekt der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), dessen Ergebnisse ab 2010 vorgestellt wurden sowie die <i>Nürnberger Erklärung</i> des Deutschen Ärztetages von 2012.<sup>31</sup> Darin erkennt die verfasste Ärzteschaft an, dass die Medizinverbrechen im Nationalsozialismus „nicht die Taten einzelner Ärzte“ waren, sondern „unter Mitbeteiligung führender Repräsentanten der verfassten Ärzteschaft sowie medizinischer Fachgesellschaften und ebenso unter maßgeblicher Beteiligung von herausragenden Vertretern der universitären Medizin sowie von renommierten biomedizinischen Forschungseinrichtungen“ geschahen. Als Konsequenz verpflichtete sich die verfasste Ärzteschaft u. a. dazu, weitere historische Forschung und Aufarbeitung aktiv durch finanzielle und institutionelle Unterstützung zu fördern.<sup>32</sup> Dies musste dazu führen, dass die Eignung von Protagonist:innen aus der Mitte des 20. Jahrhunderts als Vorbilder für heute hinterfragt wurde. Die nun gestarteten Drittmittelprojekte untersuchten zunehmend nicht nur NS-Mitgliedschaften, sondern beachteten aus dem Forschungsverlauf innerhalb der Medizingeschichte heraus<sup>33</sup> die Mittäterschaft an Medizinversuchen. Die Kategorisierung wurde dabei gegenüber 1946/47 erweitert; ob Versuche etwa an nicht einwilligungsfähigen Personen wie Kindern durchgeführt worden waren, galt nun allein schon (auch ohne nachweisbare Personenschäden) als bedeutsam.<sup>34</sup> Da nach Hochrechnungen mindestens 50 Prozent der Ärzte und rund 20 bis 25 Prozent der Ärztinnen in der NSDAP gewesen waren,<sup>35</sup> scheint eine Differenzierung innerhalb dieser großen Gruppe von Täter:innen nötig.</p><p>(4) Parallel zur juristischen Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen kamen auch Geschlechterfragen auf. Impulse hierzu stammten aus der seit den 1960er Jahren aufstrebenden Frauenforschung. Es sollte jedoch eine Generation dauern, bis die bis dahin vielfach propagierte These „War is men's business, not ladies’“<sup>36</sup> korrigiert wurde. Prominent thematisierte die Sozialwissenschaftlerin Christina Thürmer-Rohr 1987 die „Mittäterschaft von Frauen“ auch in patriarchal geprägten Systemen.<sup>37</sup> Die Diskussion um diese Idee führte auch in der NS-Forschung zu der Einsicht, dass Frauen nicht weiter nur als Objekte der zweifellos männlich geprägten NS-Gesellschaft verstanden werden können.<sup>38</sup> Frauen „steigen auch eigentätig ein, gewinnen Privilegien, ernten fragwürdige Anerkennung und profitieren von ihren Rollen“.<sup>39</sup> Damit bildet die Kategorie Geschlecht in aktuellen Aufarbeitungsprojekten eine wichtige Säule, wie etwa ein aktueller Beitrag zur reichdeutschen Rassenforscherin Karin Magnussen illustriert.<sup>40</sup> Gleichzeitig besteht zur Frage, welchen Einfluss Geschlecht auf die Auswahl einer Person als Identifikationsfigur hat, noch Forschungsbedarf. Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war die (akademische) Medizin überwiegend männlich geprägt und bei den tradierten Gründervätern medizinischer Fachrichtungen handelte es sich fast ausschließlich um Männer. Dabei gab es über das gesamte letzte Jahrhundert hinweg schon prominente Fachvertreterinnen. Diese Pionierinnen haben im Kontext der heute zunehmend weiblich geprägten Medizin – mittlerweile sind rund zwei Drittel der Medizinstudierenden Frauen<sup>41</sup> – ein größeres Potential, nun auch als Vorbilder benannt zu werden. Gleichzeitig stellt sich im Kontext von dabei ebenfalls möglichen moralischen Verfehlungen dieser Pionierinnen die Frage, ob „Schuld auch weiblich sein kann“<sup>42</sup> – und ob an Frauen andere Anforderungen als an Männer gestellt werden, um als Identifikationsfiguren dienen zu können.</p><p>Zu Beginn aber geht es um zwei klassische männliche Vorbilder, die das Spektrum aufzeigen sollen, das von Neubewertung bis hin zum fehlenden Beweis der Nicht-Verstrickung reicht.</p><p>Dass etwas massiv in Bewegung geraten war, spiegelte sich zunächst darin wider, dass ein Auszuzeichnender seinen Preis unter dem bisherigen Namen nicht annehmen wollte. Anhand des Beispiels Hans Nachtsheim lässt sich prägnant zeigen, wie sich Anforderungen änderten, die an einen Namensgeber gestellt werden. Im Zuge eines Forschungsprojekts,<sup>43</sup> das sich der Nachkriegsgeschichte der Humangenetik in Deutschland ab den 1970er Jahren widmete, berichtete einer der etwa 30 vor wenigen Jahren interviewten Zeitzeugen davon, dass er 1989 den Hans-Nachtsheim-Preis der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie und Humangenetik erhalten sollte.<sup>44</sup> Doch hatte ihm die damals seit zehn Jahren vergebene Auszeichnung missfallen. Im Interview schilderte er:</p><p>Hans Nachtsheim war ja ein glühender Eugeniker und auch in gewisser Weise unverbesserlich. Er hat ja dann auch im Bundestag, also lange nach dem Krieg, das [Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses<sup>45</sup>] verteidigt. Das sei ja gar kein Nazi-Gesetz, im Gegenteil, die ganze Welt hätte Deutschland um dieses Gesetz beneidet. Er hat […] auch die Zwangssterilisierung noch verteidigt. […] Ich wollte den Preis nicht annehmen. Weil er diesen Namen trug. […] Das heißt also[,] ich stand vor diesem Dilemma[,] entweder diesen Preis nicht anzunehmen[,] oder eben anzunehmen und […] etwas zu sagen. Dann habe ich mich für das letztere entschieden[,] weil das eben eine Chance war […]. Aufgrund dieser meiner Rede […] hieß der Preis vom nächsten Jahr an dann nicht mehr Hans-Nachtsheim-Preis […]. Das hat offensichtlich der Fachgesellschaft die Augen geöffnet.<sup>46</sup></p><p>Der Namensgeber hatte von 1941 bis 1945 die Abteilung für experimentelle Erbpathologie am „Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik“ geleitet. Das damals junge Fach „Erbpathologie“ suchte sich von der Pathologischen Anatomie abzugrenzen und Krankheit vom Erbgut her zu verstehen.<sup>47</sup> Der Wissenschaftshistoriker Alexander von Schwerin schätzt ein, dass „der mythisch-biologische Volksstaat“ aber kein Anliegen Nachtsheims war<sup>48</sup> und Ute Deichmann ordnet ihn – im Kontext der Zeit – weder als Antisemiten noch als Rassisten ein.<sup>49</sup> In der Nachkriegszeit sah dies auch die internationale wissenschaftliche Gemeinschaft so, denn Nachtsheim wurde 1951 als einziger deutscher Forscher am <i>UNESCO Statement on the Nature of Race and Race Differences</i> beteiligt, einer Überarbeitung des ein Jahr vorher veröffentlichten <i>Statement on Race</i>. Das erste Statement sollte nach der Erfahrung von auf Rassismus basierendem Völkermord während des Zweiten Weltkriegs die Grundlagen des „wissenschaftlichen Rassismus“ beseitigen, welchen u. a. Anthropologen gelegt hatten. Das zweite Statement, in dessen Erarbeitung eine größere Gruppe von biologischen Anthropologen eingebunden war, hielt an der grundsätzlichen Stoßrichtung fest, bildete jedoch präziser den Forschungsstand zur Diversität menschlicher Populationen innerhalb der <i>scientific community</i> der Biowissenschaftler ab.<sup>50</sup> Für Nachtsheims Mitwirken mag zudem gesprochen haben, dass er als einer von wenigen führenden deutschen Erbforschern nicht Mitglied der NSDAP geworden war und sich aus Deutschland geflohene Kollegen wie Richard Goldschmidt (1878–1958) und Hans Grünberg (1907–1982) für ihn einsetzten.<sup>51</sup></p><p>Gleichzeitig hatte Nachtsheim wissentlich von der Priorität profitiert, welche die biologische Forschung im „Dritten Reich“ genoss.<sup>52</sup> Zwar arbeitete er schwerpunktmäßig mit Kaninchen, führte aber 1943 auch Unterdruck-Experimente mit epilepsiekranken Kindern aus der Heil- und Pflegeanstalt Brandenburg-Görden durch.<sup>53</sup> Sein Ko-Experimentator Gerhard Ruhenstroth-Bauer (1913–2004) beschrieb die Versuche in einem Leserbrief in der Wochenzeitung <i>Die Zeit</i> im Jahr 2000. Dort betonte er, Nachtsheim und er selbst seien während der Experimente zusammen mit den Kindern in der Unterdruckkammer gewesen und alle Beteiligten hätten eine zusätzliche Sauerstoffzufuhr veranlassen können. Es sei zu keinem epileptischen Anfall gekommen. Ruhenstroth-Bauer gibt an, erst 60 Jahre nach den Versuchen erfahren zu haben, dass die Heil- und Pflegeanstalt Brandenburg-Görden eine „Kindermordzentrale“ gewesen sei und zeigte sich darüber schwer erschüttert.<sup>54</sup></p><p>Ruhenstroth-Bauer und Nachtsheim hatten im Januar 1944 in der <i>Klinischen Wochenschrift</i> über ihre Experimente berichtet. Dabei schrieben sie über ihre tierexperimentellen Studien an Kaninchen:</p><p>Der charakteristische Unterschied im Verhalten von epileptischen Jung- und Alttieren gegenüber dem Sauerstoffmangel ließ es wünschenswert erscheinen, auch beim Menschen jugendliche und erwachsene Epileptiker vergleichend zu prüfen. […] [Der an den Experimenten beteiligte Josef Gremmler]<sup>55</sup> untersuchte nur Erwachsene, ohne durch Hypoxämie einen epileptischen Anfall bei ihnen auslösen zu können. Wir beabsichtigen, nach Abschluß unserer auch die Klinik interessierenden eigenen Untersuchungen an jugendlichen Epileptikern über die näheren Ergebnisse zu berichten.<sup>56</sup></p><p>Zu diesem Zeitpunkt hatten die Experimentatoren bereits Versuche an 11- bis 13-jährigen Jugendlichen vorgenommen und planten weitere Versuche an 5- bis 6-jährigen Kindern, zu denen es aber mutmaßlich nicht kam.<sup>57</sup> Die 1944 veröffentliche Arbeit zitierte Nachtsheim selbst in der Nachkriegszeit mindestens zweimal<sup>58</sup> – offenbar, ohne dabei den Absatz problematisch zu finden oder Nachfragen zu befürchten.</p><p>Nachtsheims Engagement für die Eugenik ab 1933 mag durchaus seinen Überzeugungen entsprochen haben; gleichzeitig verstand er aber auch, dass das im selben Jahr verabschiedete „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN), welches die Zwangssterilisation von Personen mit bestimmten, für erblich gehaltenen Krankheiten erlaubte, der „Erbpathologie“ eine zentrale Rolle in der nationalsozialistischen Gesundheits- und Biopolitik einräumen sollte – und folglich auch jede Forschung, die daran anschlussfähig war, gute Aussichten auf Förderung erhalten würde.<sup>59</sup> Aus unterschiedlichen Gründen, etwa, weil auch in anderen Ländern Sterilisationsgesetze bestanden, wurden die gemäß dem GzVeN durchgeführten Zwangssterilisationen nicht im Nürnberger Ärzteprozess angeklagt und das Gesetz selbst sehr spät – erst 2007! – als nationalsozialistisches Unrechtsgesetz geächtet. Diese Art von Kontinuität erlaubte es Nachtsheim, an seinen eugenischen Überzeugungen festzuhalten, ja diese im Nachkriegsdeutschland als Experte sogar weiter zu propagieren, und gleichzeitig als unbelasteter Repräsentant der deutschen Biowissenschaft zu reüssieren.</p><p>Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs konnte Nachtsheim seine Karriere ab 1946 als Professor für Genetik fortsetzen, erst an der Humboldt-Universität, später an der Freien Universität Berlin und als Direktor des „Max-Planck-Instituts für vergleichende Erbbiologie und Erbpathologie“ in Berlin-Dahlem. Für das Verhalten deutscher Biowissenschaftler vor 1945 fand er deutliche Worte. So schrieb er 1947: „Die deutsche Fachwissenschaft trifft – mit wenigen Ausnahmen – eine ähnlich schwere Schuld wie den deutschen Generalstab, der sich – unfaßlich für viele Deutsche – willig zum Handlanger der Verbrechen Hitlers machen ließ.“<sup>60</sup> Wie erwähnt setzte sich Nachtsheim aber auch in der Bundesrepublik weiter aktiv für Eugenik ein. Er wollte das GzVeN nicht als nationalsozialistisches Unrechtsgesetz verstanden wissen und forderte ein neues Gesetz zur Sterilisation aus eugenischer Indikation in Westdeutschland.<sup>61</sup> Noch 1963 sprach er von einer „Pflicht zur praktischen Eugenik“.<sup>62</sup></p><p>Ebendieses Engagement für die Eugenik in der Nachkriegszeit war der Auslöser für den Wandel der Erinnerung an Nachtsheim in den 1980er Jahren, konkret: für die Umbenennung des Hans-Nachtsheim-Preises der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie und Humangenetik. Der oben erwähnte Zeitzeuge erinnert sich:</p><p>[Der Preis] trug den Namen auf Betreiben von Friedrich Vogel, der damals übermächtigen Gestalt der Nachkriegs-Humangenetik. Hans Nachtsheim war sein Lehrer, [gewesen, den er] sehr bewundert[e]. [Vogel] hat es durchgesetzt, dass dieser Preis so benannt wird, im vollen Bewusstsein […] von Hans Nachtsheims Einstellungen [der Eugenik gegenüber]. Aber ich wusste natürlich, dass [ich] es mir ein für alle Mal mit Friedrich Vogel verscherzen würde. […] Und es war dann […] tatsächlich so […], [dass] mir später Steine in den Weg gelegt wurden.<sup>63</sup></p><p>Nachtsheim konnte in den Nachkriegsjahren als Identifikationsfigur für die deutsche Humangenetik fungieren, weil er nicht nur als exzellenter Wissenschaftler galt und weil sein Engagement für den Nationalsozialismus viel geringer gewesen war als bei fast allen anderen deutschen Anthropologen und Humangenetikern dieser Generation. Durch aktive Kritik an der NS-Rassenideologie und Mitarbeit in internationalen Gremien konnte er darüber hinaus zur Re-Integration der deutschen Wissenschaft in die internationale <i>scientific community</i> beitragen. Nachtsheims paralleles Engagement für die Eugenik disqualifizierte ihn in den 1950er und 60er Jahren noch nicht; zu sehr waren diese Einstellungen noch allgemein verbreitet.<sup>64</sup></p><p>Dass Friedrich Vogel (1925–2006) im Jahr 1979 vorschlug, einen Preis nach Hans Nachtsheim zu benennen, war damals insofern kein Kennzeichen einer exponierten Minderheitenmeinung. Der kurz zuvor verstorbene Nachtsheim war Vogels Mentor gewesen; Nachtsheim vorzuschlagen, kann als Indiz für persönliche Verbundenheit gelesen werden, sollte diesen aber wohl auch über seinen Tod hinaus in der fachkulturellen Erinnerung der Humangenetik festschreiben.<sup>65</sup> Mit dem Abstand weiterer 10 Jahre wollten relativ jüngere Fachvertreter:innen<sup>66</sup> sich aber von der eugenischen Tradition der deutschen Humangenetik distanzieren und kritisierten 1989 die Benennung des Preises.<sup>67</sup> In diesem Fall waren es Initiativen aus der Fachgesellschaft heraus, welche <i>ihr Fach</i> von der Eugenik distanzieren wollten<sup>68</sup> oder Anstoß an Nachtsheims eugenischen Einstellungen nahmen. Diese Einstellungen führten letztendlich dazu, dass der Preis ab dem Jahr 1988 nicht mehr vergeben wurde.<sup>69</sup> Nachtsheim konnte mittlerweile keine Identifikationsfigur mehr sein. Spätestens als im Jahr 2000 Nachtsheims Beteiligung an Humanexperimenten einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde, hätte die Verknüpfung seines Namens mit einem Preis überdacht werden müssen.</p><p>Einen etwas anderen Verlauf nahm die Entwicklung in der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK) um das Jahr 2012. Deren damaliger Präsident Georg Ertl beschrieb später, in einer Vorstandssitzung vorgeschlagen zu haben, die „Rolle der Deutschen Gesellschaft für Kreislaufforschung und ihrer Mitglieder im Nationalsozialismus“ näher erforschen lassen zu wollen:</p><p>Es war nicht das erste Mal, dass sich die DGK mit dieser Frage beschäftigte, sie wurde bereits seit längerem diskutiert. Eine Debatte, die sich allerdings als schwierig gestaltete, weil es offenbar doch eine ausgeprägte Zurückhaltung gab, noch lebende Akteure dieser Zeit zu belasten oder das Andenken Verstorbener zu ‚beflecken‘.<sup>70</sup></p><p>An der Universität Düsseldorf wurde daraufhin ein medizinhistorisches Forschungsprojekt begonnen. Einer der vielen dabei untersuchten Mediziner war Rudolf Thauer, seit 1937 Mitglied und von 1951 bis 1976 Geschäftsführer dieser Fachgesellschaft.<sup>71</sup> Nach ihm war ein Posterpreis der DGK benannt.</p><p>Thauer war bereits von der überregionalen Presse behandelt worden. Die <i>FAZ</i> hatte 2003 getitelt: „Früherer Direktor des Kerckhoff-Instituts im Zwielicht. Thauer angeblich in der NS-Zeit an Menschenversuchen beteiligt“. Hauptberuflich war Thauer seit 1951 Direktor des Kerckhoff-Instituts in Bad Nauheim, wo Kreislauferkrankungen erforscht wurden. Die <i>FAZ</i> hatte in ihrem Artikel von 2003 auch auf das im selben Jahr erschienene <i>Personenlexikon</i> von Ernst Klee verwiesen, das rund 4.300 Personen aufführt, die „während der Zeit des Nationalsozialismus Karriere machten“.<sup>72</sup> Klee wies in seiner Kurzbiografie zu Thauer (mit mäßiger Genauigkeit) darauf hin, dass dieser 1933 in die SA und 1937 in die NSDAP eingetreten sei.<sup>73</sup> Überlegt werde, so die <i>FAZ</i> weiter, in Bad Nauheim den Rudolf-Thauer-Weg umzubenennen.<sup>74</sup></p><p>Thauer hatte in der NS-Zeit am „Institut für animalische Physiologie“ in Frankfurt am Main, das Karl Wezler (1900–1987) leitete, Versuche gemacht, die eine Absenkung der Körpertemperatur von Student:innen bis 34,4 °C zum Gegenstand hatten. Bei der Tagung „Seenot und Winternot“, die im Oktober 1942 vom Sanitätswesen der Luftwaffe veranstaltet wurde, meldete sich Wezler zu Wort und wies auf diese Versuche hin. Nach heutigen Begriffen handelte es sich bei den Versuchen in Frankfurt um leichte Unterkühlungen. Diese Versuche mit kalter Luft hatten eine ganz andere Qualität als diejenigen mit kaltem Wasser im Konzentrationslager Dachau – über deren Ergebnisse DGK-Mitglied Ernst Holzlöhner (1899–1945) auf derselben „Seenot“-Tagung berichtete. Holzlöhner hatte dort zunächst postuliert, Tierversuche seien nicht auf den Menschen übertragbar. Bei einer Körpertemperatur von unter 28 °C sei keine Rettung mehr möglich. Tatsächlich wurden bei Kälteversuchen im KZ Dachau bis dahin etwa 15 und insgesamt 80 bis 90 Gefangene ermordet.<sup>75</sup></p><p>Die Wortmeldung Wezlers erfolgte in der mündlichen Diskussion direkt nach dem Vortrag Holzlöhners. In derselben Diskussion widersprach Franz Grosse-Brockhoff (1907–1981), Assistent an Hermann Reins physiologischem Institut in Göttingen: Ergebnisse von Tierversuchen seien sehr wohl auf den Menschen übertragbar.<sup>76</sup> Dementgegen fühlte sich Wezler herausgefordert, die zusammen mit Thauer gewonnenen Erkenntnisse dadurch aufzuwerten, dass er betonte, (auch) sie seien am Menschen gewonnen. Unklar ist allerdings, ob Thauer und Wezler – beide nahmen an der Tagung in Nürnberg teil – bereits damals verstanden hatten, dass parallel in Dachau Probanden in Versuchen ermordet wurden.<sup>77</sup></p><p>Rudolf Thauer wechselte 1943/44 von Frankfurt an die Medizinische Akademie Danzig. Schon Ernst Klee wies auf Thauers in Danzig geleitetes Projekt „Die Beeinflussung der Wärmeregulation durch Medikamente und Gifte unter besonderer Berücksichtigung der allgemeinen Auskühlung im Wasser“ hin. Es handelte sich um einen Forschungsauftrag des Militärs.<sup>78</sup> Ob Thauer in Danzig die kombinierten Gift-Kälte-Versuche am Menschen oder am Tier durchzuführen plante, ist wegen fehlender Akten nicht zu klären.<sup>79</sup> Bei der Jahrestagung der DGK im Jahr 2017 wurde erwähnt, dass die Gesellschaft den vormaligen Rudolf-Thauer-Posterpreis zwischenzeitlich in „Posterpreis“ umbenannt hatte.<sup>80</sup></p><p>Eine sogar mehrfache De-Personalisierung von Preisbenennungen führte die Deutsche Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie durch. Sie hatte Preise vergeben, die nach Alois Kornmüller (1905–1968), Richard Jung (1911–1986) und Hans Berger (1873–1941) benannt waren. Im Jahr 2021 entschied sie, überhaupt keine namensgebundenen Preise mehr zu verleihen.<sup>81</sup> Allein das Risiko, dass der Namensgeber eines Preises unmoralische Humanversuche durchgeführt haben <i>könnten</i> (Kornmüller: EEG bei „Epilepsie und Schizophrenie“, Jung: EEG nach Elektroschock), fiel in letzter Zeit – neben dem auch weiterhin wichtigen <i>expliziten</i> Nachweis einer Mitgliedschaft in einschlägigen NS-Organisationen (Kornmüller, Jung) oder einem Erbgesundheitsgericht (Berger) – bei Umbenennungen anscheinend zusätzlich ins Gewicht.<sup>82</sup></p><p>Auch der Fachverband Medizingeschichte beschloss 2018 nach einer Diskussion, den in diesem Jahr neueingeführten Förderpreis nicht nach dem langjährigen, verdienten und sehr geschätzten Mitglied Gerhard Baader (1928–2020) zu benennen, sondern den Preis mit keiner Person zu verknüpfen.<sup>83</sup> Bei Baader, der selbst in der Zeit des Nationalsozialismus Verfolgung erlebte, war eine „NS-Belastung“ ausgeschlossen. Aber auch unter diesen Umständen sollte der Preis nicht nach einer Person benannt werden.</p><p>Neben dem Streichen des (meist männlichen) Personennamens aus einem langetablierten Wissenschaftspreis ist jüngst auch der Trend auszumachen, Preise mit den Namen von Ärztinnen und Wissenschaftlerinnen zu verknüpfen. Das Andenken an Dora Teleky, nach der seit 2019 ein Preis der Deutschen Gesellschaft für Urologie (DGU) benannt ist, profitierte in den letzten Jahren von einer Konjunktur des Erinnerns an Pionierinnen in der Medizin. Diese ursprünglich aus der Frauenforschung der 1960er Jahre stammende, an feministische Ziele anknüpfende<sup>84</sup> und im Zuge einer gesellschaftlichen und universitären Gleichstellungsdebatte fortgetragene Entwicklung läuft der androzentrischen Perspektive einer auf hegemonialen Strukturen basierenden fachkulturellen Erinnerung zuwider. Diese Entwicklung ist von dem Gedanken getragen, dass Geistigkeit kein Privileg der Männer ist.<sup>85</sup> Damit soll der Diskriminierung von Frauen in Gesellschaft und Wissenschaft sowie ihrer Unterrepräsentation in der Geschichtsschreibung, dem sogenannten und an späterer Stelle noch näherer zu beschreibenden Matilda-Effekt, entgegengewirkt werden.</p><p>Auf der Webseite der DGU wird die seit 1930 mit dem Physiologen Ernst von Brücke (1880–1941) verheiratete Teleky wie folgt vorgestellt:</p><p>Der Preis erinnert an die jüdische Wiener Urologin Dora Brücke-Teleky (1879–1963), die 1911 als erste Frau Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Urologie wurde […]. Sie führte eine gynäko-urologische Praxis in Wien, war als erste Schulärztin für gewerbliche Mädchen-Fortbildungsschulen tätig und ab 1919 Leiterin der Schwangerenfürsorgestelle. Dora Brücke-Teleky gründete 1919 die Organisation ‚Ärztinnen Wiens‘ und engagierte sich als korrespondierende Sekretärin des ‚Internationalen Ärztinnenverbandes‘. Im August 1939 wurde sie als jüdisch klassifiziert und gezwungen zu emigrieren.</p><p>Teleky hatte sich 1899 an der Universität Wien immatrikuliert. Als Frauen im Jahr darauf auch zum Medizinstudium zugelassen werden konnten, wechselte sie an die Medizinische Fakultät, wo sie 1904 als eine der ersten fünf Frauen das Studium abschloss. 1911 trat sie der DGU bei, die zu dieser Zeit eine deutsch-österreichische Gesellschaft mit jeweils zwei Präsident:innen und wechselnden Tagungsorten zwischen Wien und Berlin war.<sup>86</sup> Seit dem „Anschluss“ Österreichs (März 1938) wurde Teleky, die zum Beginn ihres Studiums vom Judentum zum evangelischen Glauben übergetreten war, als „jüdisch“ klassifiziert und erlebte in der Folge Verfolgung und Vertreibung. Gemeinsam mit ihrem Ehemann emigrierte die Sechzigjährige im August 1939 in die USA, wo sie ein Jahr darauf eine – an aus Europa geflüchtete Personen nur selten vergebene – Zulassung als Gynäkologin erhielt. Nach dem Tod des Ehemannes und dem Ende des Krieges ging sie in die Schweiz, wo sie 1963 verstarb.</p><p>Seit den 2000er Jahren wird Dora Teleky als eine Pionierin des Frauenstudiums und frühe Ärztin in Wien erinnert.<sup>87</sup> In den 2010er Jahren rückten daneben auch ihre Rollen als frühe Urologin – vor der Schaffung eines Facharztes für Urologie in Deutschland 1924 – sowie als im NS-Verfolgte in den Fokus des Forschungsinteresses.</p><p>Der Dora-Teleky-Preis richtet sich folglich an weibliche Urologinnen „mit herausragender Forschungsleistung aus Klinik oder Praxis“. Die Einrichtung des Preises 2019 kann als Initiative verstanden werden, mehr Frauen für das Fach Urologie und die urologische Forschung zu gewinnen. Auf Basis der Statistik der Bundesärztekammer lässt sich erkennen, dass Frauen dort unverändert deutlich unterrepräsentiert sind: Ende 2020 gab es in Deutschland 6.347 niedergelassene Urolog:innen, darunter 1.270 Frauen. Diesem Anteil von 20 Prozent in der Urologie stand ein Frauenanteil von 48 Prozent in der gesamten deutschen Medizin gegenüber. Bei den neuzugelassenen Fachärzten lag der Anteil von Frauen in der Urologie in den letzten Jahren (2018–2020) dagegen bei etwa 37 Prozent und war damit niedriger als ihr durchschnittlicher Anteil über alle medizinischen Fächer hinweg (55 Prozent).<sup>88</sup> Der Dora-Teleky-Preis kann also als eine Frauenfördermaßnahme und gleichzeitig als ein Werbeinstrument der Fachgesellschaft im Konkurrenzkampf um Ärzt:innen in einer überwiegend weiblich geprägten Medizin verstanden werden.</p><p>Mit der jährlichen Ausschreibung und Vergabe des Preises besteht überdies das Potential, dass Teleky über das kulturelle Gedächtnis der Medizin – insbesondere als frühe Wiener Ärztin und frühe Urologin – hinaus auch Teil des sozialen Gedächtnisses der Deutschen Urologie wird, wenn ihr Name von nun an vermehrt in der Zeitschrift, auf der Webseite und auf den Kongressen der DGU genannt wird.</p><p>Zu einer idealen Namensgeberin für den Preis aus Sicht der Gesellschaft mag sie ferner gemacht haben, dass mit ihr gleichzeitig an eine verfolgte jüdische Urologin erinnert wird. In der Deutschen Gesellschaft für Urologie, deren Mitglieder vor 1933 zu mehr als einem Drittel jüdischen Glaubens oder jüdischer Herkunft waren, ist dies im letzten Jahrzehnt zu einem weiteren wichtigen Baustein der fachkulturellen Erinnerung geworden.<sup>89</sup></p><p>Wie kann eine Fachgesellschaft oder Kammer mit Namensgebern umgehen, die in der NS-Zeit zwar nicht in schwerste Verbrechen verstickt waren, aber unter moderatem Druck zu Mitläufern wurden? Ein aktuelles Beispiel ist der Zahnarzt, Arzt und Hochschullehrer Karl Häupl, der 1957/58 Rektor der Medizinischen Akademie in Düsseldorf war. Nach ihm ist das Karl-Häupl-Institut in Neuss – das Fortbildungsinstitut der Zahnärztekammer Nordrhein – benannt. Am Fall Häupl lassen sich exemplarisch NS-Belastung, NS-Mitgliedschaften und „Kollaborationszwang“ aufzeigen, Fragen, die in der deutschen Medizin anhaltend diskutiert werden.</p><p>Karl Häupl studierte zunächst in Innsbruck Medizin.<sup>90</sup> Im Anschluss an den Studienabschluss 1919 wurde er Assistent an der dortigen Universitätszahnklinik. Im Jahr darauf ging Häupl nach Norwegen, wo er 1924 an der Königlichen Zahnärztlichen Hochschule in Oslo die zahnärztliche Prüfung ablegte. 1925 habilitierte er sich dort;<sup>91</sup>1931 folgte die Ernennung zum „beamteten Professor für Allgemeine und spezielle Pathologie der Zähne und des Kiefers“.<sup>92</sup></p><p>1934 wurde Häupl Leiter der Klinik für Zahn- und Kieferkrankheiten an der Deutschen Universität Prag. Wie im Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin überlieferte Dokumente zeigen, geriet er dort ab 1938 nach der deutschen Besetzung des Sudetenlandes, zu dem auch Prag gehörte, zunächst in Bedrängnis: Aus der Prager Personalakte, die später mit Häupl nach Berlin umzog, geht hervor, dass dieser im Mai 1939 beim Kultusministerium in Berlin darum ersuchte, eine Professur in Oslo annehmen zu dürfen.<sup>93</sup> Eine Rolle mag dabei gespielt haben, dass Häupl seit 1930 mit der Norwegerin Karen Hangsöen verheiratet war, mit der er zwei Kinder hatte.<sup>94</sup> Ein Gutachten des „Sicherheitsdienstes beim Reichsführer SS“ kam im Dezember 1939 zu den Erkenntnissen, dass Häupl „in Fachlicher Hinsicht“ zwar „sehr positiv“ beurteilt werde, dass ihm „[i]nfolge seines langjährigen Aufenthalts in Ausland“ aber „das Wesen des Nationalsozialismus völlig fremd gewesen und geblieben“ sei. Der Bericht fährt fort: „Ebenso war er in der Judenfrage durchaus liberal eingestellt. Er hatte beispielsweise in seiner Klink sehr viele jüdische Ärzte beschäftigt und sah sich in keiner Weise veranlasst, diesen Umstand zu ändern.“ Auch an Häupls Privatleben übte der Bericht Kritik. So habe er in einer Anzeige seine Anschrift mit „Praha“ angekündigt, wollte ein „Kindermädchen mit französischen Kenntnissen“ einstellen und „[i]n seinem Hause wird nur norwegisch gesprochen“.<sup>95</sup> In der Folge empfahl der Gaudozentenführer und Professor für Chemie Konrad Bernhauer (1900–1975), Häupl an eine Hochschule im „Altreich“ zu versetzen, wo es in „politisch gesicherter Umgebung“ denkbar wäre, dass Häupl sich „schadlos seiner Wissenschaft widmen könnte“, während er den „Prager Verhältnissen vor allem politisch verständnislos wie ein Säugling gegenübersteht“.<sup>96</sup></p><p>Bedroht von einer Strafversetzung und – als weiteren Eskalationsschritt – offenbar kurzfristig von der Zahlungsliste der Medizinischen Fakultät gestrichen, wandte sich Häupl im Februar 1940 an einen Ministerialrat im Bereich des „Reichsprotektors für Böhmen und Mähren“. Häupl wies in seinem Schreiben darauf hin, dass doch auch der Stadtkommandant von Prag mit einer norwegischen Frau und der Feldmarschall Göring in erster Ehe mit einer Schwedin verheiratet gewesen seien; seine Töchter würden „deutsch erzogen“. Zum – damals schwerwiegenden – Vorwurf der Liberalität bemerkte Häupl: „Natürlich kam ich als Kliniker, wie dies bei den in Prag herrschenden Verhältnissen nicht anders möglich war, mit Juden in Berührung. Ich habe aber das jüdische Personal der Klinik bis auf eine Hilfsschwester durch Arier ersetzt.“<sup>97</sup> Noch Ende des gleichen Monats kamen der Rektor und der Dekan der Medizinischen Fakultät Häupl zur Hilfe. Gegenüber dem Reichsprotektor betonten sie seine politische Zuverlässigkeit und priesen ihn als „Fachmann ersten Ranges“.<sup>98</sup>1943 wurde Häupl – auf persönlichen Befehl Hermann Görings, wie Dominik Groß gezeigt hat – auf eine Professur an der Berliner Universität berufen,<sup>99</sup> was dafür spricht, dass Häupl mittlerweile nicht mehr als politisch unzuverlässig galt.</p><p>Im Rahmen eines Aufarbeitungsprojektes der Bundeszahnärztekammer, der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung und der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde wurde 2020 eine Liste von Preisen und Institutionen der organisierten Zahnärzteschaft veröffentlicht, die nach Personen benannt sind, die Mitglieder nationalsozialistischer Organisationen waren – darunter Karl Häupl.<sup>100</sup> Er hatte am 19. April 1939 – also nach Besetzung des Sudetenlandes – die Aufnahme in die NSDAP beantragt.<sup>101</sup> Bei seiner Berufung nach Innsbruck gab er dazu nach Kriegsende 1945 an, er habe diese Mitgliedschaft auf Drängen des Gaudozentenführers und unter der Drohung angestrebt, andernfalls nicht in den Reichsdienst als Professor in Prag übernommen zu werden. „Einige Zeit später – […] oder schon 1941“, so berichtete Häupl 1945, sei ihm seine Parteinummer mitgeteilt worden, die jenseits der 9.000.000 gelegen habe. Aus der Parteikanzlei geht hervor, dass die Aufnahme rückwirkend zum 1. April 1939 erfolgte und er tatsächlich die Nummer 7.187.557 erhielt. Häupls Aussage, er habe seit seinem Umzug 1943 keine Mitgliedsbeiträge der Partei mehr gezahlt und sich auch sonst bei „keiner Ortsgruppe oder sonstigen Dienststelle der Partei“ gemeldet, kann nicht überprüft werden. Seine Angabe, er sei durch sechsmonatige Nichtzahlung der Beiträge formal aus der Partei auszuschließen gewesen und folglich im „Volkssturm“ als Nicht-Parteimitglied geführt worden, erscheint exkulpierend.<sup>102</sup></p><p>Im Fall Häupls stellt sich die Frage nach seiner NS-Belastung komplexer dar als in anderen Fällen. Weder durch seine Forschung noch durch seine ärztliche Praxis stand er der nationalsozialistischen Ideologie nahe. Auf Basis von Akten ist erwiesen, dass er ab 1939 in Prag selbst unter Druck geriet und seine Stellung als Professor an der Deutschen Universität bedroht war. Nachdem eine Auswanderung nach Norwegen nicht genehmigt wurde, ließ sich Häupl auf das NS-System rhetorisch und bürokratisch ein. Ein wichtiger Punkt ist dabei die Entlassung seiner jüdischen Mitarbeiter. Seine Berufung in Berlin 1943 erfolgte wohl vor allem aus fachlichen Gründen, auch wenn Göring sich für Häupl einsetzte. Seine Staats- und Parteitreue stand zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Frage.</p><p>Häupl setzte seine Karriere nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgreich fort. Noch 1945 wurde er auf eine Professur an die Universität Innsbruck berufen, 1951 an die Medizinische Akademie Düsseldorf, wo er neben einer Professur für Mund-, Kiefer- und Zahnheilkunde im Jahr 1957 auch das jährlich wechselnde Rektorenamt ausfüllte. Er starb 1960 auf einer Vortragsreise in Basel.</p><p>Insgesamt stellt sich die Frage, ob eine Person, die sich in der NS-Zeit zwar einerseits nicht an spezifischen Medizinverbrechen beteiligte, andererseits aber unter moderatem Druck bereit war, sich dem NS-System anzupassen, in einem demokratischen Rechtsstaat als (zahn-)ärztliche Identifikationsfigur dienen kann. Die Antwort auf die Frage, ob etwa eine erst nach 1933 beantragte (also mutmaßlich vor allem opportunistische) NSDAP-Mitgliedschaft allein als Kriterium ausreicht, um als Namensgeber auszuscheiden, scheint zur Zeit offener als noch in den frühen 2000er Jahren.<sup>103</sup> Entscheidender scheint bei der Bewertung Häupls sein Umgang mit seinen jüdischen Mitarbeitern in Prag. Zur Zeit der Drucklegung dieses Beitrags bedenkt die Zahnärztekammer Nordrhein eine Umbenennung des oben genannten Karl-Häupl-Instituts; dabei hat sie auch regionale medizinhistorische Institute um Einschätzungen gebeten.</p><p>Ein weiteres Kriterium dafür, wer wann Namensgeber:in eines wissenschaftlichen Preises wird, ist das Geschlecht des Namensgebers – oder eben der Namensgeberin –, der (oder die) bei der Auswahl des Namens herausgehoben wird. Dabei sind Frauen unterrepräsentiert. Um die allgemeine Nichtbeachtung der Arbeiten und Leistungen von Frauen in der Wissenschaft zu benennen, prägte die Wissenschaftshistorikerin Margaret Rossiter mit dem sogenannten „Matilda-Effekt“ im Jahr 1993 einen Begriff, der sich als Kontrast zu dem damals aus der Soziologie bereits bekannten „Matthäus-Effekt“<sup>104</sup> versteht: Betroffen seien vom Matilda-Effekt Frauen, die trotz gleicher Leistung entweder übersehen, unsichtbar gemacht oder vergessen würden.<sup>105</sup></p><p>Im Sinne des Matilda-Effekts könnte die Erinnerung an Frauen, die in ihrer aktiven Zeit immerhin einigen Erfolg hatten, in der späteren Retrospektive noch weiter geschmälert werden. Welche Regeln gelten speziell für Frauen, um erfolgreich erinnert zu werden und Einzug in ein fachkulturelles Gedächtnis zu halten? Dieser Frage soll anhand einer (Hochschul-)Wissenschaftlerin nachgegangen werden.</p><p>Ausgewählt wurde die ehemalige Heidelberger Professorin für Zahnheilkunde Elsbeth von Schnizer,<sup>106</sup> die ihr Potential als weibliche Identifikationsfigur der deutschen Zahnmedizin nicht ausschöpfen konnte. Während die fachkulturelle Erinnerung an die erste in Deutschland habilitierte Zahnärztin, Maria Schug-Kösters (1900–1975), seit jeher durch Laudationes und Nachrufe hochgehalten wird, schaffte es die gleichaltrige von Schnizer,<sup>107</sup> die nur kurze Zeit nach Schug-Kösters als zweite Frau in Deutschland (und als erste an der Universität in Heidelberg) eine Lehrbefugnis für Zahnheilkunde erlangte (Juli 1932), nicht, in das fachkulturelle Gedächtnis der Zahnheilkunde aufgenommen zu werden.<sup>108</sup> Genügte der deutschen Zahnmedizin etwa eine einzige weibliche Identifikationsfigur – oder könnten auch andere Aspekte das Vergessen von Schnizers bedingt haben?</p><p>Von Schnizer galt in Fachkreisen als „außerordentlich befähigte Vertreterin“ ihres „Sonderfaches“.<sup>109</sup> Ihr Renommee war sogar so groß, dass der führende deutsche Kieferorthopäde der Nachkriegszeit, der Bonner Direktor der Universitäts-Zahn-, Mund- und Kieferklinik Gustav Korkhaus (1895–1978),<sup>110</sup> noch im Jahr 1946 folgendes über Elsbeth von Schnizer schrieb:</p><p>Seit dem Jahre 1924 bis in die letzte Zeit hinein hat sie eine grosse [sic] Reihe wissenschaftlicher Arbeiten verfertigt, die durch Klarheit der Problemstellung und geschickte, nie trockene Formulierungen auffallen. Die Arbeiten sind im Besonderen der Kieferorthopädie und der Prothetik gewidmet, die als ihre Hauptarbeitsgebiete anzusehen sind. Im Rahmen der Kieferorthopädischen Fortbildung der deutschen Zahnärzte nahm Frau von Schnizer bald eine führende Stellung ein.<sup>111</sup></p><p>Darüber hinaus zeigte sie sich in der Betreuung von Promovenden sehr aktiv; bis 1943 entstanden unter ihrer Anleitung 47 Dissertationen.<sup>112</sup> Von Schnizer hatte deshalb durchaus das Potential, als eine Pionierin des deutschen Frauenstudiums, frühe Professorin für Zahnmedizin und herausragende weibliche Vertreterin ihres Fachs erinnert zu werden – analog zu ihrer Münchener Kollegin Maria Schug-Kösters.</p><p>Doch trotz Schülerschaft, fachlichem Renommee, bestehender wissenschaftlicher Netzwerke, standespolitischer Verdienste, und obwohl sie „in den 1950er- und 60er- Jahren – wiederum als einzige Frau – dem sechsköpfigen, Fachzahnarztausschuss‘ [angehörte], der über die Anerkennung als Fachzahnarzt für Kieferorthopädie wachte“,<sup>113</sup> konnte die Heidelbergerin ihr Potential als Identifikationsfigur nicht ausschöpfen. Als fachkulturell erstmals wieder im Jahr 2020 im Kontext eines regionalhistorischen Beitrages über die Entwicklung der universitären Zahnmedizin in Heidelberg an sie erinnert wurde, betonte der ehemalige Direktor der Poliklinik für Zahnerhaltungskunde am Universitätsklinikum Heidelberg Hans Jörg Staehle in einer jüngeren Betrachtung von Erfolgen und Misserfolgen der Zahnmedizin vor allem Elsbeth von Schnizers Verstrickungen während der NS-Zeit.<sup>114</sup> So hatte sie als Leiterin der „Ortsfrauenschaft Heidelberg-Neuenheim“ entscheidend dazu beigetragen, die Erziehung und medizinische Aufklärung der Bevölkerung im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie voranzutreiben. Kritisch hervorgehoben wurde ihre politische Einstellung, welche sich sowohl in zehn Mitgliedschaften in NS-Organisationen (darunter seit 1933 in der NSDAP) sowie in ihrer Selbstwahrnehmung als „biologische Soldatin“<sup>115</sup> der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ niederschlug – ein Paradoxon, wenn man bedenkt, dass sie selbst einmal Trägerin einer Lippenspalte gewesen war, die man bereits im ersten Lebensjahr chirurgisch korrigiert hatte.<sup>116</sup></p><p>Im Gegensatz jedoch zu einigen ihrer männlichen Kollegen, die sich dem NS-Regime angedient hatten,<sup>117</sup> gelang es von Schnizer nicht, ihre hochschulpolitische Karriere über das Kriegsende hinaus weiterzuführen. Im Rahmen des Entnazifizierungsverfahrens war sie zunächst als <i>Belastete</i> in Klasse II (I wären <i>Hauptschuldige</i>), dann aber durch Beibringung einer Reihe günstiger Zeugnisse als <i>Mitläuferin</i> in Klasse IV (V wären <i>Entlastete</i>) eingeordnet worden und galt somit als <i>entnazifiziert</i>.<sup>118</sup> Dennoch hatte sie in der Nachkriegszeit große Mühe, überhaupt wieder als praktische Zahnärztin zugelassen zu werden.<sup>119</sup> Dies gelang ihr nach eigenen Aussagen erst durch die Unterstützung von Walter Knott (1889–1981), dem späteren Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Zahnärzte, aus dem 1993 die Bundeszahnärztekammer hervorging.<sup>120</sup> Zumindest ihren Professorinnentitel konnte von Schnizer dann als niedergelassene Zahnärztin weiterführen.</p><p>Die Sanktionen gegen von Schnizer fallen im Vergleich zu anderen Protagonisten der NS-Zahnmedizin relativ hart aus.<sup>121</sup> Besonders im Vergleich zu einem Heidelberger Kollegen in recht ähnlicher Position fällt das Nicht-Erinnern an von Schnizer auf: dem apl. Professor Gerhard Weißenfels (1890–1952), der bereits 1929 Mitglied der NSDAP und der SA geworden war und ebenfalls zum Kreis der zahnärztlichen Hochschullehrer gehörte, die sich 1933 „in einer Entschließung zur ‚Einheitsfront der Zahnärzte‘ [zur] ‚völlige[n] Anerkennung einer einheitlichen Führung und des Autoritätsprinzips‘ bekannten“.<sup>122</sup> In einem Band zur Geschichte der Universität Heidelberg im Nationalsozialismus taucht Weißenfels jedoch nur als Interimsdirektor der Heidelberger Zahnklinik in den Jahren 1934/35 auf, der sich besonders bei den Studenten großer Beliebtheit erfreute und in der Folge „bis zu seinem Tod im Jahre 1952 eine Privatpraxis in Heidelberg“ führte.<sup>123</sup> Sein politisches Engagement und die Gründe für das Ausscheiden aus der Universität werden nicht thematisiert. Von Schnizer kommt in dem Band erst gar nicht vor.</p><p>Hieraus lässt sich, der These von Groß und Nebe folgend,<sup>124</sup> schließen, dass vor dem Hintergrund ihres weiblichen Geschlechts von Schnizers NS-Belastung in der Nachkriegszeit als schwerwiegender angesehen wurde, als bei vergleichbaren männlichen Kollegen.</p><p>Während eine bloße NSDAP-Mitgliedschaft bei Männern bis kurz vor der deutschen Wiedervereinigung kaum ein Ausschlusskriterium war, <i>könnte</i> genau dies bei Frauen schon lange zuvor der Fall gewesen sein. Elsbeth von Schnizers NSDAP-Mitgliedschaft erscheint als der entscheidende Grund, warum sie neben Maria Schug-Kösters nicht noch als zweite Frau in die fachkulturelle Erinnerung der Zahnmedizin aufgenommen wurde; beide Frauen hatten sich gleichermaßen habilitiert und beide hatten in ähnlichem Umfang publiziert.<sup>125</sup> <i>Eine</i> Frau unter allen Identifikationsfiguren im zahnmedizinischen Fachbereich war offensichtlich ausreichend. Es bedarf historischer Forschung anhand weiterer Beispiele, um herauszufinden, ob solche offenbar zusätzlich an Frauen gestellten Anforderungen <i>beliebig</i> sein konnten – nur um Aspirantinnen zu disqualifizieren –, oder ob speziell <i>die NSDAP-Mitgliedschaft einer Frau</i> eine besondere Relevanz in der Erinnerungskultur hat(te), also <i>anders</i> gewertet wurde als die eines Mannes.</p><p>Insgesamt zeigen sich folgende Trends bezüglich der Frage, welche Personen als Identifikationsfiguren dienen können, um einen Preis oder eine Institution zu benennen:</p><p>Forscher:innen, die sich in NS-Institutionen besonders lautstark hervorgetan oder sich direkt an Patientenmorden bzw. Humanexperimenten in Konzentrationslagern beteiligt hatten, gehörten – wie in der Einleitung erwähnt – zu einer Gruppe von rund 350 Haupttäter:innen, auf die in den ersten Nachkriegsjahrzehnten die Gesamtschuld der NS-Medizinverbrechen abgewälzt werden sollte – und die deshalb nie als Identifikationsfiguren in Frage kamen. Eindeutig schwerbelastete Mediziner:innen und Lebenswissenschaftler:innen waren in den vorgestellten Drittmittelprojekten nur als Mitglieder oder einstige Funktionsträger der Gesellschaften und Institutionen zu untersuchen; dagegen waren nach solchen Ärzt:innen ohnehin keine Preise oder Institutionen benannt.</p><p>Solche Benennungen sind folglich (wenn überhaupt) nach nur mäßig durch NS-Mitgliedschaften und einschlägige Medizinversuche belasteten Personen bekannt. So konnte etwa Hans Nachtsheim 1979 als Pionier für die Fachentwicklung der Humangenetik in der Bundesrepublik gelten und zum Namensgeber eines Preises der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie und Humangenetik werden. Personen, die seit der deutschen Wiedervereinigung in historischen Projekten untersucht wurden, finden sich allerdings häufig in einer Grauzone. Die bloße Zahl von Mitgliedschaften in NS-Organisationen etwa kann kein Maßstab zur Beurteilung sein, da manche Fachvertreter:innen stärker als andere ihre Loyalität zu NS-Deutschland beweisen mussten (möglicherweise Alois Kornmüller<sup>126</sup>). Weiter ist der Trend auszumachen, dass einer Beteiligung an jeglichen unmoralischen Menschenversuchen in den letzten Jahren eine stetig wachsende Bedeutung beigemessen wird. Anscheinend gilt für eine mögliche Beteiligung mittlerweile eine Beweisumkehr.<sup>127</sup> Das Wissen um und die Bereitschaft zur Durchführung von Humanexperimenten im Nationalsozialismus wird heute überhaupt sehr kritisch beurteilt, falls diese Versuche nicht den 1931 in Deutschland etablierten Standards zur Forschung am Menschen genügten.<sup>128</sup> Allerdings sind uns – abseits von Nachtsheim – kaum Beispiele bekannt, bei denen neben der Beteiligung an Versuchen an nicht einwilligungsfähigen Personen nicht gleichzeitig einschlägige NS-Mitgliedschaften dokumentiert wären, so dass unklar bleiben muss, was in den entscheidenden Gremien innerhalb der medizinischen Institutionen den Ausschlag zur Umbenennung gab.</p><p>Wird ein Preis zur Würdigung einer wissenschaftlichen Leistung umbenannt, stellt sich die Folgefrage, ob er mit einer anderen Person verbunden werden oder in Zukunft keinen Personennamen tragen soll. So scheint es, dass Fachgesellschaften sich von der eponymen Benennung von Preisen distanzieren: Sie werden heute bei der Umbenennung häufig de-personalisiert. Wie erwähnt, ist der Name Rudolf Thauer aus der Benennung des Posterpreises der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie ausgeschieden; die Deutsche Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie beschloss weitergehend, überhaupt keine namensgebundenen Preise mehr zu verleihen.</p><p>Allerdings steht eine De-Personalisierung von Preisen dem Wunsch einer Benennung von mehr Preisen nach Frauen entgegen. Sie sind in der europäischen Wissenschaftsstruktur historisch unterrepräsentiert, Pionierinnen sind aus der Erinnerung verdrängt worden. Ähnliches gilt übrigens auch für alle Emigrant:innen der NS-Zeit. Auch dies wird seit einigen Jahren korrigiert. Gleichzeitig ist nämlich das Verständnis dafür gewachsen, dass NS-Verfolgte, die emigrieren mussten, als Namensgeber:innen in der <i>alten</i> BRD ebenfalls übergangen wurden.<sup>129</sup> Peter Voswinkel hat für dieses Phänomen den bereits aus dem antiken Rom bekannten Begriff der „Damnatio memoriae“ – das Auslöschen des Andenkens – in die Medizingeschichte eingeführt.<sup>130</sup> Um dem entgegenzuwirken, werden teils gezielt Mitglieder solcher verfolgten Gruppen<sup>131</sup> wieder in die „Geschichte zurückgeschrieben“.<sup>132</sup> Als Ärztin, die infolge der Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich aus Wien fliehen musste, kann die oben thematisierte Dora Teleky in diese Kategorie gezählt werden. Auch als Pionierin des Frauenstudiums und als frühes weibliches Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Urologie schien Teleky besonders als Identifikationsfigur geeignet – gerade vor dem Hintergrund des heute zunehmend weiblich geprägten Absolventenprofils in den Medizinstudiengängen.</p><p>Dass aber allein die Rolle als Pionierin nicht ausreicht, zeigt das Beispiel von Elsbeth von Schnizer. Obwohl sie sich als zweite Frau in Deutschland für Zahnmedizin habilitiert hatte, wurde sie nicht in den Kanon der fachkulturellen Erinnerung aufgenommen. Wäre dies anders gekommen, dann würde – wegen ihrer NSDAP-Mitgliedschaft – heute ein Von-Schnizer-Preis wohl wieder umbenannt werden – ebenso wie bei entsprechenden männlichen Kollegen.</p><p>Noch wichtiger als die Mitgliedschaft in NS-Organisationen sollte zukünftig bei der Beurteilung von in der NS-Zeit aktiven Mediziner:innen und Lebenswissenschaftler:innen jedoch die Frage sein, ob sie sich an der Entrechtung von Fachkollegen beteiligten, die aus rassistischen oder politischen Gründen verfolgt wurden – so wie Karl Häupl es in Prag tat. Am wichtigsten für die Frage danach, ob eine Vorbildrolle ausgefüllt werden kann, scheint uns jedoch das Handeln in Forschung oder Klinik. Hier stellen etwa die Beteiligung an Menschenversuchen ohne Einwilligung der Versuchspersonen, an rassistischer Forschung, an Patientenmorden und an Zwangssterilisationen wichtige Kriterien dar.</p>","PeriodicalId":55388,"journal":{"name":"Berichte zur Wissenschaftsgeschichte","volume":"47 1-2","pages":"77-105"},"PeriodicalIF":0.6000,"publicationDate":"2024-04-05","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"https://onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.1002/bewi.202300018","citationCount":"0","resultStr":"{\"title\":\"Gelehrte als Identifikationsfiguren? Vom Umgang mit fachkultureller Erinnerung in medizinischen Fächern\",\"authors\":\"Matthis Krischel,&nbsp;Julia Nebe,&nbsp;Timo Baumann\",\"doi\":\"10.1002/bewi.202300018\",\"DOIUrl\":null,\"url\":null,\"abstract\":\"<p>Medizinische Fachgesellschaften, Berufsverbände und Standesvertretungen verfügen über eine ausgeprägte fachkulturelle Erinnerung mit langen Traditionen. Solche Institutionen richten Jubiläums- und Gedenkveranstaltungen aus, haben historische Arbeitskreise – und neben externen Historiker:innen publizieren auch Mitglieder in wissenschaftlich-klinischen sowie berufspolitischen Zeitschriften über die Geschichte des jeweiligen medizinisches Fachs. Die parallel zu fast jedem Fach existierenden wissenschaftlichen Gesellschaften, Berufsverbände und Standesvertretungen beschäftigen sich nicht zuletzt auch mit der Benennung von Preisen und betreiben „Aufarbeitungsprojekte“, etwa zur Medizin im Nationalsozialismus. Viele wissenschaftliche Auszeichnungen, die insbesondere Fachgesellschaften verleihen, tragen den Namen einer Identifikationsfigur, typischerweise eines bekannten früheren Mitglieds; darüber hinaus sind auch oft ganze Institutionen nach einer solchen Person benannt. Mittels Beispielen aus den Fächern Humangenetik, Kreislaufforschung, Urologie und Zahnheilkunde möchten wir in diesem Beitrag schlaglichtartig aufzeigen, nach welchen Kriterien Fachvertreter:innen als Identifikationsfiguren ausgewählt werden, um Preise und Institutionen zu benennen – oder eben auch nicht; und, warum andere Personen eine solche Rolle erst erlangten, mittlerweile aber wieder verloren haben. Einleitend stellen wir dar, wie sich die Beschäftigung mit der (nationalsozialistischen) Geschichte der Medizin und Lebenswissenschaften historisch verändert hat und reflektieren kritisch die Aufarbeitungsforschung, die im Spannungsfeld zwischen historischem Erkenntnisinteresse, historisch-politischer Bildung, Geschichtspolitik und Auftragsforschung verortet ist.</p><p>Die gewählten Fallbeispiele stammen insbesondere aus unseren eigenen Forschungen zur Medizingeschichte und der Erinnerungskultur in medizinischen Institutionen mit Bezug zum Nationalsozialismus und deren Reflexion in der Nachkriegszeit. Die Frage nach einer Verstrickung in den Nationalsozialismus („NS-Belastung“) ist relevant, weil sie noch immer schwerer zu wiegen scheint als die nach dem Verhalten von Akteuren in anderen (Unrechts-)Kontexten.<sup>1</sup> In diesem Beitrag werden nun Bezüge zu diesem Themenkomplex eröffnet, um das Spektrum von möglichen Konjunkturen von Erinnerungskultur und Geschichtspolitik von der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart exemplarisch zu illustrieren.<sup>2</sup> Gleichzeitig versuchen wir, durch den Vergleich übergreifende Trends aufzufinden.</p><p>Um als Identifikationsfigur dienen zu können, nach der etwa ein Preis oder eine Institution benannt sein kann, muss die Person sowohl <i>nach innen</i>, also für die benennende Körperschaft, eine Projektionsfläche für Identität und Gemeinschaft bieten als auch geeignet sein, diese Körperschaft <i>nach außen</i> hin zu repräsentieren. In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich u. a. durch generationellen Wandel und das damit verbundene Wegfallen von Loyalitäten in vielen Fachgesellschaften ein kritischer Blick auf ehemals gerühmte Fachvertreter:innen entwickelt, wenn sie als NS-belastet gelten müssen – wobei jedoch die Antwort auf die Frage, was als Belastung gilt, selbst historisch wandelbar und mutmaßlich von Faktoren wie dem Geschlecht abhängig ist. Gleichzeitig kommen aber auch aus der Öffentlichkeit mehr kritische Nachfragen. Über soziale Medien ist es leichter als in der Vergangenheit möglich, fragliche Benennungen öffentlich zu machen. Für eine Fachgesellschaft, die u. a. Professionalität ausstrahlen möchte, kann hier also Handlungsbedarf – konkret das Lösen einer als belastet wahrgenommenen Person von einem Preis oder einer Institution – bestehen, um die Reputation einer als „historisch-ethisch korrekt handelnden“ Institution aufrecht zu erhalten.<sup>3</sup></p><p>Schwerpunktmäßig seit dem Jahr 2000 haben zahlreiche medizinische Institutionen – darunter Fachgesellschaften sowie Kammern, Berufsverbände und Fakultäten – ihre Geschichte aufarbeiten lassen. Der schon seit den 1980er-Jahren üblich gewordene Begriff der Aufarbeitung kann dabei ähnlich kritisch gesehen werden wie der bis dahin eher verbreitete Begriff der Vergangenheitsbewältigung.<sup>4</sup> Die Begriffe sind seit der unmittelbaren Nachkriegszeit bis heute für die juristische, politische, gesellschaftliche, geschichtswissenschaftliche und erinnerungskulturelle Beschäftigung mit der (NS-)Vergangenheit, der (NS-)Belastung von Akteuren und der Rehabilitation von (im Nationalsozialismus) verfolgten und diskriminierten Personen verwendet worden. Bereits um das Jahr 2015 waren dabei so viele Studien zu den Aufarbeitungsprojekten verschiedener medizinischer Fachgesellschaften zusammengekommen, dass ein erster Versuch des Vergleichs und der Synthese unternommen werden konnte.<sup>5</sup></p><p>Seit der Jahrtausendwende war es bei Behörden und Ministerien üblich geworden, Aufträge zur Aufarbeitung an externe Expert:innen zu vergeben,<sup>6</sup> manche sehen gar eine durch die Republik rollende „Auftragswelle“.<sup>7</sup> Beispielhaft dafür ist die 2010 veröffentlichte, medial breit rezipierte Studie zum Auswärtigen Amt,<sup>8</sup> die seit 2005 von einer unabhängigen Historikerkommission im Auftrag des Außenministeriums erstellt worden war. Mit dieser Vergabe des entsprechenden Aufarbeitungsauftrags an externe Wissenschaftler:innen (anstatt einer Bearbeitung <i>in house</i>) wurde zugleich ein neuer Standard gesetzt, an dem sich in der Folge auch viele medizinische Fachgesellschaften orientierten; sie entschieden sich häufig dafür, medizinhistorische Universitätsinstitute zu beauftragen.<sup>9</sup> Es war die Erkenntnis gewachsen, dass die zugrundeliegende historische Forschung im eigenen Hause gar nicht geleistet werden könne.<sup>10</sup> Solche Projekte sind von medizinhistorischen Instituten gerne bearbeitet worden, brachten sie doch die projektleitenden und -bearbeitenden Historiker:innen in Kontakt mit Kliniker:innen und gleichzeitig Drittmittel ein.</p><p>Darauf, dass in solchen Kooperationen, die sich immer an der Grenze zur Auftragsforschung bewegen, der Drittmittelgeber dem beauftragten Institut die Fragestellung vorgibt, hat Ralph Jessen hingewiesen – schließlich „suchen nicht professionelle Historiker ein Forschungsobjekt, sondern umgekehrt suchen sich die Forschungsobjekte professionelle Historiker“.<sup>11</sup> Dabei geben nach unserer Erfahrung die Drittmittelgeber heute keinerlei Antworten vor, sondern wünschen im Gegenteil möglichst unabhängige Untersuchungen, die in wissenschaftlich anerkannte Publikationen münden. Jessen stellt dazu heraus: „Wer gegen das Unabhängigkeitsgebot verstößt, desavouiert als Auftraggeber sein eigenes Anliegen, und die Historiker, die sich darauf einlassen, ruinieren ihren Ruf.“<sup>12</sup> Gleichzeitig fällt aber auf, dass in einem zunehmend durch Drittmittel strukturierten Forschungsmilieu Leerstellen entstehen, wenn zwischen 1933 und 1945 aktive Institutionen heute keine Nachfolger haben oder diese für eine Projektfinanzierung zu finanzschwach sind. Dies passt zu Jessens Befund, dass eine an Auftragsforschung angrenzende Aufarbeitungsforschung Personal und andere Ressourcen für Forschung einsetzt, deren Themen von außen gesetzt werden. Zudem kann an historischen Instituten, die regelmäßig solche Aufarbeitungsprojekte durchführen, eine strukturelle Abhängigkeit von Drittmittelprojekten verstärkt werden.<sup>13</sup></p><p>Anhand der Projekte, die zustande kamen, lassen sich in einer vergleichenden Rückschau Trends bei den Identifikationsfiguren ausmachen. Wir betrachten in diesem Beitrag Phänomene, die Dietmar von Reeken und Malte Thießen in ihrem Band <i>Ehrregime</i> untersucht haben: Jede Zeit hat ihre eigenen Maßstäbe, wer wen wie erinnert, ehrt oder als Vorbild für geeignet hält.<sup>14</sup> Zentral ist dabei nach Alexander Pinwinkler und Johannes Koll der Umstand, dass „Ehrungen und Entehrungen nicht isoliert von ihren historischen, politischen und gesellschaftlichen Kontexten betrachtet werden“ können.<sup>15</sup> Im Unterschied zu diesen Vorarbeiten zielt unser Beitrag jedoch stärker auf die Frage ab, unter welchen Umständen Gelehrte in medizinischen Fächern als Identifikationsfiguren installiert (und demontiert) werden. Das Benennen eines Preises oder einer Institution nach einer Person ist zwar durchaus dazu geeignet, die Person bzw. ihr Andenken zu ehren. Im Gegensatz zu Ehrenmitgliedschaften oder Ehrenpräsidentschaften sind solche Benennungen jedoch tendenziell eher bereits verstorbenen Fachvertreter:innen und -pionier:innen vorbehalten. Die Benennung von Institutionen und Preisen nach Personen ist darüber hinaus im Gesundheitswesen so üblich, dass sie gelegentlich eher als „Möblierung“ des fachkulturellen Erinnerungsraumes wahrgenommen wird denn als Ehrung des Namensgebers.<sup>16</sup> Einen Aspekt, den das Übernehmen der Rolle als Identifikationsfigur mit einer Ehrung gemeinsam hat, ist jedoch zweifellos der „Zukunftsbezug“, also die „Aufforderung an die Mitglieder des Kollektivs, es dem Geehrten“ (oder der Identifikationsfigur) gleichzutun.<sup>17</sup> Und nur dann, wenn die Vorstellung für die Mitglieder des Kollektivs attraktiv ist, es einem Gelehrten einer früheren Generation gleichzutun, kann dieser Gelehrte die Rolle als Identifikationsfigur ausfüllen.</p><p>Wir gehen von der These aus, dass in der Erhebung von Gelehrten zu Identifikationsfiguren die Wertvorstellungen und standespolitischen Ziele medizinischer Fachgesellschaften und Institutionen sowie ihrer Mitglieder exemplarisch sichtbar werden. Relevante Qualitäten solcher Fachgesellschaften sind, wie Heiner Fangerau und Christiane Imhof gezeigt haben, die Repräsentation von Professionalisierung und Spezialisierung nach außen sowie die gegenseitige Anerkennung und kollegiale Verantwortungsübernahme nach innen.<sup>18</sup></p><p>Gelehrte müssen diese internen und externen Funktionen somit zunächst einmal erfüllen, um in den Kreis möglicher Identifikationsfiguren überhaupt aufgenommen werden zu können. Folglich orientieren sich die Konjunkturen der Identifikation durch herausgehobenes Erinnern an internen und externen Faktoren, die einzelne Fachvertreter:innen als Identifikationsfiguren empfehlen oder ungeeignet machen können.<sup>19</sup> Zu den internen Faktoren zählen hier etwa: Lehrer-Schüler-Verhältnisse, persönliche Sympathien oder Animositäten sowie das Handeln der potentiellen Identifikationsfiguren im wissenschaftlichen und institutionellen Kontext (Forschung, Lehre, Rollen in Fachgesellschaften oder Standesorganisationen). Zu den externen Faktoren zählen: das (vermutete) Interesse der Öffentlichkeit an potentiell problematischen Handlungen in bestimmten Kontexten (Kolonialismus, Nationalsozialismus, DDR, etc.), die Projektion des Images einer Fachgesellschaft als „professionelle, historisch-ethisch korrekt handelnde“ Institution nach außen,<sup>20</sup> und die Wahrnehmung eines allgemeinen gesellschaftlichen Wertewandels, durch den Aspekte in den oder aus dem öffentlichen Blick geraten können.</p><p>Richtet sich dieser Blick der Öffentlichkeit auf Wissenschaft und Medizin im Nationalsozialismus, so scheinen in den letzten ca. 20 Jahren in kurzer Folge mehrere graduelle Neugewichtungen von Kriterien vorgenommen worden zu sein: Während in der alten BRD gerade Mediziner meist als <i>reingewaschen</i> gegolten hatten, die in der Entnazifizierung nicht verurteilt worden waren oder zumindest im Amt bleiben konnten, schreckte Ernst Klee mit seinem <i>Personenlexikon</i> die Öffentlichkeit um die Jahrtausendwende auf. NS-Mitgliedschaften auf der Ebene von Lexikoneinträgen konnten nun nicht mehr ignoriert werden.<sup>21</sup> In direkter Folge erschienen seither Mitgliedschaften in SS, SA oder NSDAP<sup>22</sup> etwa im Online-Portal <i>Wikipedia</i> als zentrale Marksteine von Belastung oder Nicht-Belastung. Erst später sind Personen ohne Parteizugehörigkeit, wie der Chirurg Ferdinand Sauerbruch (1875–1951) oder der Medizinhistoriker Paul Diepgen (1878–1966), kritischer daraufhin untersucht worden, durch welche Handlungen sie das NS-Regime und seine Politik vielleicht dennoch gestützt haben. Dies eröffnete umgekehrt aber auch die Frage, als wie belastet Personen einzuschätzen sind, die aus Opportunismus als „Märzgefallene“ oder unter gewissem Druck der Partei oder anderen NS-Organisationen beitraten, wenn dazu kein Engagement für die Vertreibung von Kollegen aus rassistischen Gründen, für die Eugenik, die sogenannte Rassenlehre, Euthanasie-Morde oder andere NS-Medizinverbrechen trat.<sup>23</sup></p><p>Zunächst betrachten wir die Umbenennung von wissenschaftlichen Auszeichnungen und Institutionen unter den Vorzeichen eines veränderten Kenntnisstandes über die namensgebende Person und aktuellen Veränderungen in der Bewertung ärztlichen Handels im Nationalsozialismus. Wer als Namensgeber zu welchen Zeiten infrage kommen konnte, lässt sich entlang der deutschen Geschichte periodisieren:</p><p>(1) In Medizin und Gesellschaft hatte sich das Bild begangener NS-Medizinverbrechen in der Folge des Nürnberger Ärzteprozesses (1946–1947) auf rund 350 Haupttäter fokussiert.<sup>24</sup> Auch in den Nachfolgeprozessen, wie etwa dem Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965), wurden nur einzelne, persönlich schwer belastete Medizintäter verurteilt.<sup>25</sup> Weitere Beteiligte ebenso wie die nationalsozialistisch geprägten Strukturen des Gesundheitswesens wurden in der Folge eher verdrängt und vergessen. Diese weiteren Beteiligten blieben somit zunächst im Kreis derjenigen, die im Falle besonderer wissenschaftlicher Leistungen als Vorbilder präsentiert werden konnten. Die 68er-Revolte änderte daran wenig, denn kritische Studenten hatten wenig Einfluss auf die Benennung von Preisen, auch wenn ab diesem Zeitpunkt das „absichtsvolle Vergessen“ im Nachkriegsdeutschland stärker kritisiert wurde.<sup>26</sup> Wie unten gezeigt wird, sieht die wissenschaftliche Enkelgeneration in Loyalitäten zwischen Schülern und Lehrern ein entscheidendes Beharrungsmoment, das eine Aufarbeitung verhinderte.<sup>27</sup> Zudem stellte sich der Systemkonflikt zwischen der BRD und der vorgeblich antifaschistischen DDR einer vertieften Aufarbeitung entgegen: Die DDR prangerte NS-Täter, die ja alle in den Westen gegangen seien, an; eine eigene vertiefte Aufarbeitung in der BRD musste auf dieser Ebene kontraproduktiv erscheinen.<sup>28</sup></p><p>(2) Die akademische Medizingeschichte begann sich ab den 1980er Jahren dem Themenkomplex Medizin und Nationalsozialismus zuzuwenden. Als öffentlich sichtbarer Startpunkt wird häufig der Gesundheitstag 1980 angeführt, der in Berlin als Gegenveranstaltung zum 83. Deutschen Ärztetag stattfand und auf dem die NS-Medizinverbrechen offen diskutiert wurden. Noch in der Dekade erschienen erste Standardwerke und im <i>Deutschen Ärzteblatt</i> eine Serie von Artikeln, deren Autoren an medizinhistorischen Instituten angesiedelt waren.<sup>29</sup> In den 1990er Jahren konnte sich Forschung zur NS-Medizin im Mainstream der deutschen Medizingeschichte etablieren. Auch medizinische Fachgesellschaften und andere Institutionen begannen ab diesem Jahrzehnt Aufarbeitungsprojekte, unter denen das der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde als das Erste gilt.<sup>30</sup></p><p>(3) In der Folge begannen zahlreiche Institutionen, einen zunehmend kritischen Blick auf ihre Geschichte zu werfen. Ein prominentes Forschungsprojekt zur (eigenen) Geschichte im Nationalsozialismus ging dabei ab 1997 von der Max-Planck-Gesellschaft aus, weitere wichtige Marksteine waren ein an externe Experten vergebenes Forschungsprojekt der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), dessen Ergebnisse ab 2010 vorgestellt wurden sowie die <i>Nürnberger Erklärung</i> des Deutschen Ärztetages von 2012.<sup>31</sup> Darin erkennt die verfasste Ärzteschaft an, dass die Medizinverbrechen im Nationalsozialismus „nicht die Taten einzelner Ärzte“ waren, sondern „unter Mitbeteiligung führender Repräsentanten der verfassten Ärzteschaft sowie medizinischer Fachgesellschaften und ebenso unter maßgeblicher Beteiligung von herausragenden Vertretern der universitären Medizin sowie von renommierten biomedizinischen Forschungseinrichtungen“ geschahen. Als Konsequenz verpflichtete sich die verfasste Ärzteschaft u. a. dazu, weitere historische Forschung und Aufarbeitung aktiv durch finanzielle und institutionelle Unterstützung zu fördern.<sup>32</sup> Dies musste dazu führen, dass die Eignung von Protagonist:innen aus der Mitte des 20. Jahrhunderts als Vorbilder für heute hinterfragt wurde. Die nun gestarteten Drittmittelprojekte untersuchten zunehmend nicht nur NS-Mitgliedschaften, sondern beachteten aus dem Forschungsverlauf innerhalb der Medizingeschichte heraus<sup>33</sup> die Mittäterschaft an Medizinversuchen. Die Kategorisierung wurde dabei gegenüber 1946/47 erweitert; ob Versuche etwa an nicht einwilligungsfähigen Personen wie Kindern durchgeführt worden waren, galt nun allein schon (auch ohne nachweisbare Personenschäden) als bedeutsam.<sup>34</sup> Da nach Hochrechnungen mindestens 50 Prozent der Ärzte und rund 20 bis 25 Prozent der Ärztinnen in der NSDAP gewesen waren,<sup>35</sup> scheint eine Differenzierung innerhalb dieser großen Gruppe von Täter:innen nötig.</p><p>(4) Parallel zur juristischen Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen kamen auch Geschlechterfragen auf. Impulse hierzu stammten aus der seit den 1960er Jahren aufstrebenden Frauenforschung. Es sollte jedoch eine Generation dauern, bis die bis dahin vielfach propagierte These „War is men's business, not ladies’“<sup>36</sup> korrigiert wurde. Prominent thematisierte die Sozialwissenschaftlerin Christina Thürmer-Rohr 1987 die „Mittäterschaft von Frauen“ auch in patriarchal geprägten Systemen.<sup>37</sup> Die Diskussion um diese Idee führte auch in der NS-Forschung zu der Einsicht, dass Frauen nicht weiter nur als Objekte der zweifellos männlich geprägten NS-Gesellschaft verstanden werden können.<sup>38</sup> Frauen „steigen auch eigentätig ein, gewinnen Privilegien, ernten fragwürdige Anerkennung und profitieren von ihren Rollen“.<sup>39</sup> Damit bildet die Kategorie Geschlecht in aktuellen Aufarbeitungsprojekten eine wichtige Säule, wie etwa ein aktueller Beitrag zur reichdeutschen Rassenforscherin Karin Magnussen illustriert.<sup>40</sup> Gleichzeitig besteht zur Frage, welchen Einfluss Geschlecht auf die Auswahl einer Person als Identifikationsfigur hat, noch Forschungsbedarf. Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war die (akademische) Medizin überwiegend männlich geprägt und bei den tradierten Gründervätern medizinischer Fachrichtungen handelte es sich fast ausschließlich um Männer. Dabei gab es über das gesamte letzte Jahrhundert hinweg schon prominente Fachvertreterinnen. Diese Pionierinnen haben im Kontext der heute zunehmend weiblich geprägten Medizin – mittlerweile sind rund zwei Drittel der Medizinstudierenden Frauen<sup>41</sup> – ein größeres Potential, nun auch als Vorbilder benannt zu werden. Gleichzeitig stellt sich im Kontext von dabei ebenfalls möglichen moralischen Verfehlungen dieser Pionierinnen die Frage, ob „Schuld auch weiblich sein kann“<sup>42</sup> – und ob an Frauen andere Anforderungen als an Männer gestellt werden, um als Identifikationsfiguren dienen zu können.</p><p>Zu Beginn aber geht es um zwei klassische männliche Vorbilder, die das Spektrum aufzeigen sollen, das von Neubewertung bis hin zum fehlenden Beweis der Nicht-Verstrickung reicht.</p><p>Dass etwas massiv in Bewegung geraten war, spiegelte sich zunächst darin wider, dass ein Auszuzeichnender seinen Preis unter dem bisherigen Namen nicht annehmen wollte. Anhand des Beispiels Hans Nachtsheim lässt sich prägnant zeigen, wie sich Anforderungen änderten, die an einen Namensgeber gestellt werden. Im Zuge eines Forschungsprojekts,<sup>43</sup> das sich der Nachkriegsgeschichte der Humangenetik in Deutschland ab den 1970er Jahren widmete, berichtete einer der etwa 30 vor wenigen Jahren interviewten Zeitzeugen davon, dass er 1989 den Hans-Nachtsheim-Preis der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie und Humangenetik erhalten sollte.<sup>44</sup> Doch hatte ihm die damals seit zehn Jahren vergebene Auszeichnung missfallen. Im Interview schilderte er:</p><p>Hans Nachtsheim war ja ein glühender Eugeniker und auch in gewisser Weise unverbesserlich. Er hat ja dann auch im Bundestag, also lange nach dem Krieg, das [Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses<sup>45</sup>] verteidigt. Das sei ja gar kein Nazi-Gesetz, im Gegenteil, die ganze Welt hätte Deutschland um dieses Gesetz beneidet. Er hat […] auch die Zwangssterilisierung noch verteidigt. […] Ich wollte den Preis nicht annehmen. Weil er diesen Namen trug. […] Das heißt also[,] ich stand vor diesem Dilemma[,] entweder diesen Preis nicht anzunehmen[,] oder eben anzunehmen und […] etwas zu sagen. Dann habe ich mich für das letztere entschieden[,] weil das eben eine Chance war […]. Aufgrund dieser meiner Rede […] hieß der Preis vom nächsten Jahr an dann nicht mehr Hans-Nachtsheim-Preis […]. Das hat offensichtlich der Fachgesellschaft die Augen geöffnet.<sup>46</sup></p><p>Der Namensgeber hatte von 1941 bis 1945 die Abteilung für experimentelle Erbpathologie am „Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik“ geleitet. Das damals junge Fach „Erbpathologie“ suchte sich von der Pathologischen Anatomie abzugrenzen und Krankheit vom Erbgut her zu verstehen.<sup>47</sup> Der Wissenschaftshistoriker Alexander von Schwerin schätzt ein, dass „der mythisch-biologische Volksstaat“ aber kein Anliegen Nachtsheims war<sup>48</sup> und Ute Deichmann ordnet ihn – im Kontext der Zeit – weder als Antisemiten noch als Rassisten ein.<sup>49</sup> In der Nachkriegszeit sah dies auch die internationale wissenschaftliche Gemeinschaft so, denn Nachtsheim wurde 1951 als einziger deutscher Forscher am <i>UNESCO Statement on the Nature of Race and Race Differences</i> beteiligt, einer Überarbeitung des ein Jahr vorher veröffentlichten <i>Statement on Race</i>. Das erste Statement sollte nach der Erfahrung von auf Rassismus basierendem Völkermord während des Zweiten Weltkriegs die Grundlagen des „wissenschaftlichen Rassismus“ beseitigen, welchen u. a. Anthropologen gelegt hatten. Das zweite Statement, in dessen Erarbeitung eine größere Gruppe von biologischen Anthropologen eingebunden war, hielt an der grundsätzlichen Stoßrichtung fest, bildete jedoch präziser den Forschungsstand zur Diversität menschlicher Populationen innerhalb der <i>scientific community</i> der Biowissenschaftler ab.<sup>50</sup> Für Nachtsheims Mitwirken mag zudem gesprochen haben, dass er als einer von wenigen führenden deutschen Erbforschern nicht Mitglied der NSDAP geworden war und sich aus Deutschland geflohene Kollegen wie Richard Goldschmidt (1878–1958) und Hans Grünberg (1907–1982) für ihn einsetzten.<sup>51</sup></p><p>Gleichzeitig hatte Nachtsheim wissentlich von der Priorität profitiert, welche die biologische Forschung im „Dritten Reich“ genoss.<sup>52</sup> Zwar arbeitete er schwerpunktmäßig mit Kaninchen, führte aber 1943 auch Unterdruck-Experimente mit epilepsiekranken Kindern aus der Heil- und Pflegeanstalt Brandenburg-Görden durch.<sup>53</sup> Sein Ko-Experimentator Gerhard Ruhenstroth-Bauer (1913–2004) beschrieb die Versuche in einem Leserbrief in der Wochenzeitung <i>Die Zeit</i> im Jahr 2000. Dort betonte er, Nachtsheim und er selbst seien während der Experimente zusammen mit den Kindern in der Unterdruckkammer gewesen und alle Beteiligten hätten eine zusätzliche Sauerstoffzufuhr veranlassen können. Es sei zu keinem epileptischen Anfall gekommen. Ruhenstroth-Bauer gibt an, erst 60 Jahre nach den Versuchen erfahren zu haben, dass die Heil- und Pflegeanstalt Brandenburg-Görden eine „Kindermordzentrale“ gewesen sei und zeigte sich darüber schwer erschüttert.<sup>54</sup></p><p>Ruhenstroth-Bauer und Nachtsheim hatten im Januar 1944 in der <i>Klinischen Wochenschrift</i> über ihre Experimente berichtet. Dabei schrieben sie über ihre tierexperimentellen Studien an Kaninchen:</p><p>Der charakteristische Unterschied im Verhalten von epileptischen Jung- und Alttieren gegenüber dem Sauerstoffmangel ließ es wünschenswert erscheinen, auch beim Menschen jugendliche und erwachsene Epileptiker vergleichend zu prüfen. […] [Der an den Experimenten beteiligte Josef Gremmler]<sup>55</sup> untersuchte nur Erwachsene, ohne durch Hypoxämie einen epileptischen Anfall bei ihnen auslösen zu können. Wir beabsichtigen, nach Abschluß unserer auch die Klinik interessierenden eigenen Untersuchungen an jugendlichen Epileptikern über die näheren Ergebnisse zu berichten.<sup>56</sup></p><p>Zu diesem Zeitpunkt hatten die Experimentatoren bereits Versuche an 11- bis 13-jährigen Jugendlichen vorgenommen und planten weitere Versuche an 5- bis 6-jährigen Kindern, zu denen es aber mutmaßlich nicht kam.<sup>57</sup> Die 1944 veröffentliche Arbeit zitierte Nachtsheim selbst in der Nachkriegszeit mindestens zweimal<sup>58</sup> – offenbar, ohne dabei den Absatz problematisch zu finden oder Nachfragen zu befürchten.</p><p>Nachtsheims Engagement für die Eugenik ab 1933 mag durchaus seinen Überzeugungen entsprochen haben; gleichzeitig verstand er aber auch, dass das im selben Jahr verabschiedete „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN), welches die Zwangssterilisation von Personen mit bestimmten, für erblich gehaltenen Krankheiten erlaubte, der „Erbpathologie“ eine zentrale Rolle in der nationalsozialistischen Gesundheits- und Biopolitik einräumen sollte – und folglich auch jede Forschung, die daran anschlussfähig war, gute Aussichten auf Förderung erhalten würde.<sup>59</sup> Aus unterschiedlichen Gründen, etwa, weil auch in anderen Ländern Sterilisationsgesetze bestanden, wurden die gemäß dem GzVeN durchgeführten Zwangssterilisationen nicht im Nürnberger Ärzteprozess angeklagt und das Gesetz selbst sehr spät – erst 2007! – als nationalsozialistisches Unrechtsgesetz geächtet. Diese Art von Kontinuität erlaubte es Nachtsheim, an seinen eugenischen Überzeugungen festzuhalten, ja diese im Nachkriegsdeutschland als Experte sogar weiter zu propagieren, und gleichzeitig als unbelasteter Repräsentant der deutschen Biowissenschaft zu reüssieren.</p><p>Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs konnte Nachtsheim seine Karriere ab 1946 als Professor für Genetik fortsetzen, erst an der Humboldt-Universität, später an der Freien Universität Berlin und als Direktor des „Max-Planck-Instituts für vergleichende Erbbiologie und Erbpathologie“ in Berlin-Dahlem. Für das Verhalten deutscher Biowissenschaftler vor 1945 fand er deutliche Worte. So schrieb er 1947: „Die deutsche Fachwissenschaft trifft – mit wenigen Ausnahmen – eine ähnlich schwere Schuld wie den deutschen Generalstab, der sich – unfaßlich für viele Deutsche – willig zum Handlanger der Verbrechen Hitlers machen ließ.“<sup>60</sup> Wie erwähnt setzte sich Nachtsheim aber auch in der Bundesrepublik weiter aktiv für Eugenik ein. Er wollte das GzVeN nicht als nationalsozialistisches Unrechtsgesetz verstanden wissen und forderte ein neues Gesetz zur Sterilisation aus eugenischer Indikation in Westdeutschland.<sup>61</sup> Noch 1963 sprach er von einer „Pflicht zur praktischen Eugenik“.<sup>62</sup></p><p>Ebendieses Engagement für die Eugenik in der Nachkriegszeit war der Auslöser für den Wandel der Erinnerung an Nachtsheim in den 1980er Jahren, konkret: für die Umbenennung des Hans-Nachtsheim-Preises der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie und Humangenetik. Der oben erwähnte Zeitzeuge erinnert sich:</p><p>[Der Preis] trug den Namen auf Betreiben von Friedrich Vogel, der damals übermächtigen Gestalt der Nachkriegs-Humangenetik. Hans Nachtsheim war sein Lehrer, [gewesen, den er] sehr bewundert[e]. [Vogel] hat es durchgesetzt, dass dieser Preis so benannt wird, im vollen Bewusstsein […] von Hans Nachtsheims Einstellungen [der Eugenik gegenüber]. Aber ich wusste natürlich, dass [ich] es mir ein für alle Mal mit Friedrich Vogel verscherzen würde. […] Und es war dann […] tatsächlich so […], [dass] mir später Steine in den Weg gelegt wurden.<sup>63</sup></p><p>Nachtsheim konnte in den Nachkriegsjahren als Identifikationsfigur für die deutsche Humangenetik fungieren, weil er nicht nur als exzellenter Wissenschaftler galt und weil sein Engagement für den Nationalsozialismus viel geringer gewesen war als bei fast allen anderen deutschen Anthropologen und Humangenetikern dieser Generation. Durch aktive Kritik an der NS-Rassenideologie und Mitarbeit in internationalen Gremien konnte er darüber hinaus zur Re-Integration der deutschen Wissenschaft in die internationale <i>scientific community</i> beitragen. Nachtsheims paralleles Engagement für die Eugenik disqualifizierte ihn in den 1950er und 60er Jahren noch nicht; zu sehr waren diese Einstellungen noch allgemein verbreitet.<sup>64</sup></p><p>Dass Friedrich Vogel (1925–2006) im Jahr 1979 vorschlug, einen Preis nach Hans Nachtsheim zu benennen, war damals insofern kein Kennzeichen einer exponierten Minderheitenmeinung. Der kurz zuvor verstorbene Nachtsheim war Vogels Mentor gewesen; Nachtsheim vorzuschlagen, kann als Indiz für persönliche Verbundenheit gelesen werden, sollte diesen aber wohl auch über seinen Tod hinaus in der fachkulturellen Erinnerung der Humangenetik festschreiben.<sup>65</sup> Mit dem Abstand weiterer 10 Jahre wollten relativ jüngere Fachvertreter:innen<sup>66</sup> sich aber von der eugenischen Tradition der deutschen Humangenetik distanzieren und kritisierten 1989 die Benennung des Preises.<sup>67</sup> In diesem Fall waren es Initiativen aus der Fachgesellschaft heraus, welche <i>ihr Fach</i> von der Eugenik distanzieren wollten<sup>68</sup> oder Anstoß an Nachtsheims eugenischen Einstellungen nahmen. Diese Einstellungen führten letztendlich dazu, dass der Preis ab dem Jahr 1988 nicht mehr vergeben wurde.<sup>69</sup> Nachtsheim konnte mittlerweile keine Identifikationsfigur mehr sein. Spätestens als im Jahr 2000 Nachtsheims Beteiligung an Humanexperimenten einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde, hätte die Verknüpfung seines Namens mit einem Preis überdacht werden müssen.</p><p>Einen etwas anderen Verlauf nahm die Entwicklung in der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK) um das Jahr 2012. Deren damaliger Präsident Georg Ertl beschrieb später, in einer Vorstandssitzung vorgeschlagen zu haben, die „Rolle der Deutschen Gesellschaft für Kreislaufforschung und ihrer Mitglieder im Nationalsozialismus“ näher erforschen lassen zu wollen:</p><p>Es war nicht das erste Mal, dass sich die DGK mit dieser Frage beschäftigte, sie wurde bereits seit längerem diskutiert. Eine Debatte, die sich allerdings als schwierig gestaltete, weil es offenbar doch eine ausgeprägte Zurückhaltung gab, noch lebende Akteure dieser Zeit zu belasten oder das Andenken Verstorbener zu ‚beflecken‘.<sup>70</sup></p><p>An der Universität Düsseldorf wurde daraufhin ein medizinhistorisches Forschungsprojekt begonnen. Einer der vielen dabei untersuchten Mediziner war Rudolf Thauer, seit 1937 Mitglied und von 1951 bis 1976 Geschäftsführer dieser Fachgesellschaft.<sup>71</sup> Nach ihm war ein Posterpreis der DGK benannt.</p><p>Thauer war bereits von der überregionalen Presse behandelt worden. Die <i>FAZ</i> hatte 2003 getitelt: „Früherer Direktor des Kerckhoff-Instituts im Zwielicht. Thauer angeblich in der NS-Zeit an Menschenversuchen beteiligt“. Hauptberuflich war Thauer seit 1951 Direktor des Kerckhoff-Instituts in Bad Nauheim, wo Kreislauferkrankungen erforscht wurden. Die <i>FAZ</i> hatte in ihrem Artikel von 2003 auch auf das im selben Jahr erschienene <i>Personenlexikon</i> von Ernst Klee verwiesen, das rund 4.300 Personen aufführt, die „während der Zeit des Nationalsozialismus Karriere machten“.<sup>72</sup> Klee wies in seiner Kurzbiografie zu Thauer (mit mäßiger Genauigkeit) darauf hin, dass dieser 1933 in die SA und 1937 in die NSDAP eingetreten sei.<sup>73</sup> Überlegt werde, so die <i>FAZ</i> weiter, in Bad Nauheim den Rudolf-Thauer-Weg umzubenennen.<sup>74</sup></p><p>Thauer hatte in der NS-Zeit am „Institut für animalische Physiologie“ in Frankfurt am Main, das Karl Wezler (1900–1987) leitete, Versuche gemacht, die eine Absenkung der Körpertemperatur von Student:innen bis 34,4 °C zum Gegenstand hatten. Bei der Tagung „Seenot und Winternot“, die im Oktober 1942 vom Sanitätswesen der Luftwaffe veranstaltet wurde, meldete sich Wezler zu Wort und wies auf diese Versuche hin. Nach heutigen Begriffen handelte es sich bei den Versuchen in Frankfurt um leichte Unterkühlungen. Diese Versuche mit kalter Luft hatten eine ganz andere Qualität als diejenigen mit kaltem Wasser im Konzentrationslager Dachau – über deren Ergebnisse DGK-Mitglied Ernst Holzlöhner (1899–1945) auf derselben „Seenot“-Tagung berichtete. Holzlöhner hatte dort zunächst postuliert, Tierversuche seien nicht auf den Menschen übertragbar. Bei einer Körpertemperatur von unter 28 °C sei keine Rettung mehr möglich. Tatsächlich wurden bei Kälteversuchen im KZ Dachau bis dahin etwa 15 und insgesamt 80 bis 90 Gefangene ermordet.<sup>75</sup></p><p>Die Wortmeldung Wezlers erfolgte in der mündlichen Diskussion direkt nach dem Vortrag Holzlöhners. In derselben Diskussion widersprach Franz Grosse-Brockhoff (1907–1981), Assistent an Hermann Reins physiologischem Institut in Göttingen: Ergebnisse von Tierversuchen seien sehr wohl auf den Menschen übertragbar.<sup>76</sup> Dementgegen fühlte sich Wezler herausgefordert, die zusammen mit Thauer gewonnenen Erkenntnisse dadurch aufzuwerten, dass er betonte, (auch) sie seien am Menschen gewonnen. Unklar ist allerdings, ob Thauer und Wezler – beide nahmen an der Tagung in Nürnberg teil – bereits damals verstanden hatten, dass parallel in Dachau Probanden in Versuchen ermordet wurden.<sup>77</sup></p><p>Rudolf Thauer wechselte 1943/44 von Frankfurt an die Medizinische Akademie Danzig. Schon Ernst Klee wies auf Thauers in Danzig geleitetes Projekt „Die Beeinflussung der Wärmeregulation durch Medikamente und Gifte unter besonderer Berücksichtigung der allgemeinen Auskühlung im Wasser“ hin. Es handelte sich um einen Forschungsauftrag des Militärs.<sup>78</sup> Ob Thauer in Danzig die kombinierten Gift-Kälte-Versuche am Menschen oder am Tier durchzuführen plante, ist wegen fehlender Akten nicht zu klären.<sup>79</sup> Bei der Jahrestagung der DGK im Jahr 2017 wurde erwähnt, dass die Gesellschaft den vormaligen Rudolf-Thauer-Posterpreis zwischenzeitlich in „Posterpreis“ umbenannt hatte.<sup>80</sup></p><p>Eine sogar mehrfache De-Personalisierung von Preisbenennungen führte die Deutsche Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie durch. Sie hatte Preise vergeben, die nach Alois Kornmüller (1905–1968), Richard Jung (1911–1986) und Hans Berger (1873–1941) benannt waren. Im Jahr 2021 entschied sie, überhaupt keine namensgebundenen Preise mehr zu verleihen.<sup>81</sup> Allein das Risiko, dass der Namensgeber eines Preises unmoralische Humanversuche durchgeführt haben <i>könnten</i> (Kornmüller: EEG bei „Epilepsie und Schizophrenie“, Jung: EEG nach Elektroschock), fiel in letzter Zeit – neben dem auch weiterhin wichtigen <i>expliziten</i> Nachweis einer Mitgliedschaft in einschlägigen NS-Organisationen (Kornmüller, Jung) oder einem Erbgesundheitsgericht (Berger) – bei Umbenennungen anscheinend zusätzlich ins Gewicht.<sup>82</sup></p><p>Auch der Fachverband Medizingeschichte beschloss 2018 nach einer Diskussion, den in diesem Jahr neueingeführten Förderpreis nicht nach dem langjährigen, verdienten und sehr geschätzten Mitglied Gerhard Baader (1928–2020) zu benennen, sondern den Preis mit keiner Person zu verknüpfen.<sup>83</sup> Bei Baader, der selbst in der Zeit des Nationalsozialismus Verfolgung erlebte, war eine „NS-Belastung“ ausgeschlossen. Aber auch unter diesen Umständen sollte der Preis nicht nach einer Person benannt werden.</p><p>Neben dem Streichen des (meist männlichen) Personennamens aus einem langetablierten Wissenschaftspreis ist jüngst auch der Trend auszumachen, Preise mit den Namen von Ärztinnen und Wissenschaftlerinnen zu verknüpfen. Das Andenken an Dora Teleky, nach der seit 2019 ein Preis der Deutschen Gesellschaft für Urologie (DGU) benannt ist, profitierte in den letzten Jahren von einer Konjunktur des Erinnerns an Pionierinnen in der Medizin. Diese ursprünglich aus der Frauenforschung der 1960er Jahre stammende, an feministische Ziele anknüpfende<sup>84</sup> und im Zuge einer gesellschaftlichen und universitären Gleichstellungsdebatte fortgetragene Entwicklung läuft der androzentrischen Perspektive einer auf hegemonialen Strukturen basierenden fachkulturellen Erinnerung zuwider. Diese Entwicklung ist von dem Gedanken getragen, dass Geistigkeit kein Privileg der Männer ist.<sup>85</sup> Damit soll der Diskriminierung von Frauen in Gesellschaft und Wissenschaft sowie ihrer Unterrepräsentation in der Geschichtsschreibung, dem sogenannten und an späterer Stelle noch näherer zu beschreibenden Matilda-Effekt, entgegengewirkt werden.</p><p>Auf der Webseite der DGU wird die seit 1930 mit dem Physiologen Ernst von Brücke (1880–1941) verheiratete Teleky wie folgt vorgestellt:</p><p>Der Preis erinnert an die jüdische Wiener Urologin Dora Brücke-Teleky (1879–1963), die 1911 als erste Frau Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Urologie wurde […]. Sie führte eine gynäko-urologische Praxis in Wien, war als erste Schulärztin für gewerbliche Mädchen-Fortbildungsschulen tätig und ab 1919 Leiterin der Schwangerenfürsorgestelle. Dora Brücke-Teleky gründete 1919 die Organisation ‚Ärztinnen Wiens‘ und engagierte sich als korrespondierende Sekretärin des ‚Internationalen Ärztinnenverbandes‘. Im August 1939 wurde sie als jüdisch klassifiziert und gezwungen zu emigrieren.</p><p>Teleky hatte sich 1899 an der Universität Wien immatrikuliert. Als Frauen im Jahr darauf auch zum Medizinstudium zugelassen werden konnten, wechselte sie an die Medizinische Fakultät, wo sie 1904 als eine der ersten fünf Frauen das Studium abschloss. 1911 trat sie der DGU bei, die zu dieser Zeit eine deutsch-österreichische Gesellschaft mit jeweils zwei Präsident:innen und wechselnden Tagungsorten zwischen Wien und Berlin war.<sup>86</sup> Seit dem „Anschluss“ Österreichs (März 1938) wurde Teleky, die zum Beginn ihres Studiums vom Judentum zum evangelischen Glauben übergetreten war, als „jüdisch“ klassifiziert und erlebte in der Folge Verfolgung und Vertreibung. Gemeinsam mit ihrem Ehemann emigrierte die Sechzigjährige im August 1939 in die USA, wo sie ein Jahr darauf eine – an aus Europa geflüchtete Personen nur selten vergebene – Zulassung als Gynäkologin erhielt. Nach dem Tod des Ehemannes und dem Ende des Krieges ging sie in die Schweiz, wo sie 1963 verstarb.</p><p>Seit den 2000er Jahren wird Dora Teleky als eine Pionierin des Frauenstudiums und frühe Ärztin in Wien erinnert.<sup>87</sup> In den 2010er Jahren rückten daneben auch ihre Rollen als frühe Urologin – vor der Schaffung eines Facharztes für Urologie in Deutschland 1924 – sowie als im NS-Verfolgte in den Fokus des Forschungsinteresses.</p><p>Der Dora-Teleky-Preis richtet sich folglich an weibliche Urologinnen „mit herausragender Forschungsleistung aus Klinik oder Praxis“. Die Einrichtung des Preises 2019 kann als Initiative verstanden werden, mehr Frauen für das Fach Urologie und die urologische Forschung zu gewinnen. Auf Basis der Statistik der Bundesärztekammer lässt sich erkennen, dass Frauen dort unverändert deutlich unterrepräsentiert sind: Ende 2020 gab es in Deutschland 6.347 niedergelassene Urolog:innen, darunter 1.270 Frauen. Diesem Anteil von 20 Prozent in der Urologie stand ein Frauenanteil von 48 Prozent in der gesamten deutschen Medizin gegenüber. Bei den neuzugelassenen Fachärzten lag der Anteil von Frauen in der Urologie in den letzten Jahren (2018–2020) dagegen bei etwa 37 Prozent und war damit niedriger als ihr durchschnittlicher Anteil über alle medizinischen Fächer hinweg (55 Prozent).<sup>88</sup> Der Dora-Teleky-Preis kann also als eine Frauenfördermaßnahme und gleichzeitig als ein Werbeinstrument der Fachgesellschaft im Konkurrenzkampf um Ärzt:innen in einer überwiegend weiblich geprägten Medizin verstanden werden.</p><p>Mit der jährlichen Ausschreibung und Vergabe des Preises besteht überdies das Potential, dass Teleky über das kulturelle Gedächtnis der Medizin – insbesondere als frühe Wiener Ärztin und frühe Urologin – hinaus auch Teil des sozialen Gedächtnisses der Deutschen Urologie wird, wenn ihr Name von nun an vermehrt in der Zeitschrift, auf der Webseite und auf den Kongressen der DGU genannt wird.</p><p>Zu einer idealen Namensgeberin für den Preis aus Sicht der Gesellschaft mag sie ferner gemacht haben, dass mit ihr gleichzeitig an eine verfolgte jüdische Urologin erinnert wird. In der Deutschen Gesellschaft für Urologie, deren Mitglieder vor 1933 zu mehr als einem Drittel jüdischen Glaubens oder jüdischer Herkunft waren, ist dies im letzten Jahrzehnt zu einem weiteren wichtigen Baustein der fachkulturellen Erinnerung geworden.<sup>89</sup></p><p>Wie kann eine Fachgesellschaft oder Kammer mit Namensgebern umgehen, die in der NS-Zeit zwar nicht in schwerste Verbrechen verstickt waren, aber unter moderatem Druck zu Mitläufern wurden? Ein aktuelles Beispiel ist der Zahnarzt, Arzt und Hochschullehrer Karl Häupl, der 1957/58 Rektor der Medizinischen Akademie in Düsseldorf war. Nach ihm ist das Karl-Häupl-Institut in Neuss – das Fortbildungsinstitut der Zahnärztekammer Nordrhein – benannt. Am Fall Häupl lassen sich exemplarisch NS-Belastung, NS-Mitgliedschaften und „Kollaborationszwang“ aufzeigen, Fragen, die in der deutschen Medizin anhaltend diskutiert werden.</p><p>Karl Häupl studierte zunächst in Innsbruck Medizin.<sup>90</sup> Im Anschluss an den Studienabschluss 1919 wurde er Assistent an der dortigen Universitätszahnklinik. Im Jahr darauf ging Häupl nach Norwegen, wo er 1924 an der Königlichen Zahnärztlichen Hochschule in Oslo die zahnärztliche Prüfung ablegte. 1925 habilitierte er sich dort;<sup>91</sup>1931 folgte die Ernennung zum „beamteten Professor für Allgemeine und spezielle Pathologie der Zähne und des Kiefers“.<sup>92</sup></p><p>1934 wurde Häupl Leiter der Klinik für Zahn- und Kieferkrankheiten an der Deutschen Universität Prag. Wie im Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin überlieferte Dokumente zeigen, geriet er dort ab 1938 nach der deutschen Besetzung des Sudetenlandes, zu dem auch Prag gehörte, zunächst in Bedrängnis: Aus der Prager Personalakte, die später mit Häupl nach Berlin umzog, geht hervor, dass dieser im Mai 1939 beim Kultusministerium in Berlin darum ersuchte, eine Professur in Oslo annehmen zu dürfen.<sup>93</sup> Eine Rolle mag dabei gespielt haben, dass Häupl seit 1930 mit der Norwegerin Karen Hangsöen verheiratet war, mit der er zwei Kinder hatte.<sup>94</sup> Ein Gutachten des „Sicherheitsdienstes beim Reichsführer SS“ kam im Dezember 1939 zu den Erkenntnissen, dass Häupl „in Fachlicher Hinsicht“ zwar „sehr positiv“ beurteilt werde, dass ihm „[i]nfolge seines langjährigen Aufenthalts in Ausland“ aber „das Wesen des Nationalsozialismus völlig fremd gewesen und geblieben“ sei. Der Bericht fährt fort: „Ebenso war er in der Judenfrage durchaus liberal eingestellt. Er hatte beispielsweise in seiner Klink sehr viele jüdische Ärzte beschäftigt und sah sich in keiner Weise veranlasst, diesen Umstand zu ändern.“ Auch an Häupls Privatleben übte der Bericht Kritik. So habe er in einer Anzeige seine Anschrift mit „Praha“ angekündigt, wollte ein „Kindermädchen mit französischen Kenntnissen“ einstellen und „[i]n seinem Hause wird nur norwegisch gesprochen“.<sup>95</sup> In der Folge empfahl der Gaudozentenführer und Professor für Chemie Konrad Bernhauer (1900–1975), Häupl an eine Hochschule im „Altreich“ zu versetzen, wo es in „politisch gesicherter Umgebung“ denkbar wäre, dass Häupl sich „schadlos seiner Wissenschaft widmen könnte“, während er den „Prager Verhältnissen vor allem politisch verständnislos wie ein Säugling gegenübersteht“.<sup>96</sup></p><p>Bedroht von einer Strafversetzung und – als weiteren Eskalationsschritt – offenbar kurzfristig von der Zahlungsliste der Medizinischen Fakultät gestrichen, wandte sich Häupl im Februar 1940 an einen Ministerialrat im Bereich des „Reichsprotektors für Böhmen und Mähren“. Häupl wies in seinem Schreiben darauf hin, dass doch auch der Stadtkommandant von Prag mit einer norwegischen Frau und der Feldmarschall Göring in erster Ehe mit einer Schwedin verheiratet gewesen seien; seine Töchter würden „deutsch erzogen“. Zum – damals schwerwiegenden – Vorwurf der Liberalität bemerkte Häupl: „Natürlich kam ich als Kliniker, wie dies bei den in Prag herrschenden Verhältnissen nicht anders möglich war, mit Juden in Berührung. Ich habe aber das jüdische Personal der Klinik bis auf eine Hilfsschwester durch Arier ersetzt.“<sup>97</sup> Noch Ende des gleichen Monats kamen der Rektor und der Dekan der Medizinischen Fakultät Häupl zur Hilfe. Gegenüber dem Reichsprotektor betonten sie seine politische Zuverlässigkeit und priesen ihn als „Fachmann ersten Ranges“.<sup>98</sup>1943 wurde Häupl – auf persönlichen Befehl Hermann Görings, wie Dominik Groß gezeigt hat – auf eine Professur an der Berliner Universität berufen,<sup>99</sup> was dafür spricht, dass Häupl mittlerweile nicht mehr als politisch unzuverlässig galt.</p><p>Im Rahmen eines Aufarbeitungsprojektes der Bundeszahnärztekammer, der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung und der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde wurde 2020 eine Liste von Preisen und Institutionen der organisierten Zahnärzteschaft veröffentlicht, die nach Personen benannt sind, die Mitglieder nationalsozialistischer Organisationen waren – darunter Karl Häupl.<sup>100</sup> Er hatte am 19. April 1939 – also nach Besetzung des Sudetenlandes – die Aufnahme in die NSDAP beantragt.<sup>101</sup> Bei seiner Berufung nach Innsbruck gab er dazu nach Kriegsende 1945 an, er habe diese Mitgliedschaft auf Drängen des Gaudozentenführers und unter der Drohung angestrebt, andernfalls nicht in den Reichsdienst als Professor in Prag übernommen zu werden. „Einige Zeit später – […] oder schon 1941“, so berichtete Häupl 1945, sei ihm seine Parteinummer mitgeteilt worden, die jenseits der 9.000.000 gelegen habe. Aus der Parteikanzlei geht hervor, dass die Aufnahme rückwirkend zum 1. April 1939 erfolgte und er tatsächlich die Nummer 7.187.557 erhielt. Häupls Aussage, er habe seit seinem Umzug 1943 keine Mitgliedsbeiträge der Partei mehr gezahlt und sich auch sonst bei „keiner Ortsgruppe oder sonstigen Dienststelle der Partei“ gemeldet, kann nicht überprüft werden. Seine Angabe, er sei durch sechsmonatige Nichtzahlung der Beiträge formal aus der Partei auszuschließen gewesen und folglich im „Volkssturm“ als Nicht-Parteimitglied geführt worden, erscheint exkulpierend.<sup>102</sup></p><p>Im Fall Häupls stellt sich die Frage nach seiner NS-Belastung komplexer dar als in anderen Fällen. Weder durch seine Forschung noch durch seine ärztliche Praxis stand er der nationalsozialistischen Ideologie nahe. Auf Basis von Akten ist erwiesen, dass er ab 1939 in Prag selbst unter Druck geriet und seine Stellung als Professor an der Deutschen Universität bedroht war. Nachdem eine Auswanderung nach Norwegen nicht genehmigt wurde, ließ sich Häupl auf das NS-System rhetorisch und bürokratisch ein. Ein wichtiger Punkt ist dabei die Entlassung seiner jüdischen Mitarbeiter. Seine Berufung in Berlin 1943 erfolgte wohl vor allem aus fachlichen Gründen, auch wenn Göring sich für Häupl einsetzte. Seine Staats- und Parteitreue stand zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Frage.</p><p>Häupl setzte seine Karriere nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgreich fort. Noch 1945 wurde er auf eine Professur an die Universität Innsbruck berufen, 1951 an die Medizinische Akademie Düsseldorf, wo er neben einer Professur für Mund-, Kiefer- und Zahnheilkunde im Jahr 1957 auch das jährlich wechselnde Rektorenamt ausfüllte. Er starb 1960 auf einer Vortragsreise in Basel.</p><p>Insgesamt stellt sich die Frage, ob eine Person, die sich in der NS-Zeit zwar einerseits nicht an spezifischen Medizinverbrechen beteiligte, andererseits aber unter moderatem Druck bereit war, sich dem NS-System anzupassen, in einem demokratischen Rechtsstaat als (zahn-)ärztliche Identifikationsfigur dienen kann. Die Antwort auf die Frage, ob etwa eine erst nach 1933 beantragte (also mutmaßlich vor allem opportunistische) NSDAP-Mitgliedschaft allein als Kriterium ausreicht, um als Namensgeber auszuscheiden, scheint zur Zeit offener als noch in den frühen 2000er Jahren.<sup>103</sup> Entscheidender scheint bei der Bewertung Häupls sein Umgang mit seinen jüdischen Mitarbeitern in Prag. Zur Zeit der Drucklegung dieses Beitrags bedenkt die Zahnärztekammer Nordrhein eine Umbenennung des oben genannten Karl-Häupl-Instituts; dabei hat sie auch regionale medizinhistorische Institute um Einschätzungen gebeten.</p><p>Ein weiteres Kriterium dafür, wer wann Namensgeber:in eines wissenschaftlichen Preises wird, ist das Geschlecht des Namensgebers – oder eben der Namensgeberin –, der (oder die) bei der Auswahl des Namens herausgehoben wird. Dabei sind Frauen unterrepräsentiert. Um die allgemeine Nichtbeachtung der Arbeiten und Leistungen von Frauen in der Wissenschaft zu benennen, prägte die Wissenschaftshistorikerin Margaret Rossiter mit dem sogenannten „Matilda-Effekt“ im Jahr 1993 einen Begriff, der sich als Kontrast zu dem damals aus der Soziologie bereits bekannten „Matthäus-Effekt“<sup>104</sup> versteht: Betroffen seien vom Matilda-Effekt Frauen, die trotz gleicher Leistung entweder übersehen, unsichtbar gemacht oder vergessen würden.<sup>105</sup></p><p>Im Sinne des Matilda-Effekts könnte die Erinnerung an Frauen, die in ihrer aktiven Zeit immerhin einigen Erfolg hatten, in der späteren Retrospektive noch weiter geschmälert werden. Welche Regeln gelten speziell für Frauen, um erfolgreich erinnert zu werden und Einzug in ein fachkulturelles Gedächtnis zu halten? Dieser Frage soll anhand einer (Hochschul-)Wissenschaftlerin nachgegangen werden.</p><p>Ausgewählt wurde die ehemalige Heidelberger Professorin für Zahnheilkunde Elsbeth von Schnizer,<sup>106</sup> die ihr Potential als weibliche Identifikationsfigur der deutschen Zahnmedizin nicht ausschöpfen konnte. Während die fachkulturelle Erinnerung an die erste in Deutschland habilitierte Zahnärztin, Maria Schug-Kösters (1900–1975), seit jeher durch Laudationes und Nachrufe hochgehalten wird, schaffte es die gleichaltrige von Schnizer,<sup>107</sup> die nur kurze Zeit nach Schug-Kösters als zweite Frau in Deutschland (und als erste an der Universität in Heidelberg) eine Lehrbefugnis für Zahnheilkunde erlangte (Juli 1932), nicht, in das fachkulturelle Gedächtnis der Zahnheilkunde aufgenommen zu werden.<sup>108</sup> Genügte der deutschen Zahnmedizin etwa eine einzige weibliche Identifikationsfigur – oder könnten auch andere Aspekte das Vergessen von Schnizers bedingt haben?</p><p>Von Schnizer galt in Fachkreisen als „außerordentlich befähigte Vertreterin“ ihres „Sonderfaches“.<sup>109</sup> Ihr Renommee war sogar so groß, dass der führende deutsche Kieferorthopäde der Nachkriegszeit, der Bonner Direktor der Universitäts-Zahn-, Mund- und Kieferklinik Gustav Korkhaus (1895–1978),<sup>110</sup> noch im Jahr 1946 folgendes über Elsbeth von Schnizer schrieb:</p><p>Seit dem Jahre 1924 bis in die letzte Zeit hinein hat sie eine grosse [sic] Reihe wissenschaftlicher Arbeiten verfertigt, die durch Klarheit der Problemstellung und geschickte, nie trockene Formulierungen auffallen. Die Arbeiten sind im Besonderen der Kieferorthopädie und der Prothetik gewidmet, die als ihre Hauptarbeitsgebiete anzusehen sind. Im Rahmen der Kieferorthopädischen Fortbildung der deutschen Zahnärzte nahm Frau von Schnizer bald eine führende Stellung ein.<sup>111</sup></p><p>Darüber hinaus zeigte sie sich in der Betreuung von Promovenden sehr aktiv; bis 1943 entstanden unter ihrer Anleitung 47 Dissertationen.<sup>112</sup> Von Schnizer hatte deshalb durchaus das Potential, als eine Pionierin des deutschen Frauenstudiums, frühe Professorin für Zahnmedizin und herausragende weibliche Vertreterin ihres Fachs erinnert zu werden – analog zu ihrer Münchener Kollegin Maria Schug-Kösters.</p><p>Doch trotz Schülerschaft, fachlichem Renommee, bestehender wissenschaftlicher Netzwerke, standespolitischer Verdienste, und obwohl sie „in den 1950er- und 60er- Jahren – wiederum als einzige Frau – dem sechsköpfigen, Fachzahnarztausschuss‘ [angehörte], der über die Anerkennung als Fachzahnarzt für Kieferorthopädie wachte“,<sup>113</sup> konnte die Heidelbergerin ihr Potential als Identifikationsfigur nicht ausschöpfen. Als fachkulturell erstmals wieder im Jahr 2020 im Kontext eines regionalhistorischen Beitrages über die Entwicklung der universitären Zahnmedizin in Heidelberg an sie erinnert wurde, betonte der ehemalige Direktor der Poliklinik für Zahnerhaltungskunde am Universitätsklinikum Heidelberg Hans Jörg Staehle in einer jüngeren Betrachtung von Erfolgen und Misserfolgen der Zahnmedizin vor allem Elsbeth von Schnizers Verstrickungen während der NS-Zeit.<sup>114</sup> So hatte sie als Leiterin der „Ortsfrauenschaft Heidelberg-Neuenheim“ entscheidend dazu beigetragen, die Erziehung und medizinische Aufklärung der Bevölkerung im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie voranzutreiben. Kritisch hervorgehoben wurde ihre politische Einstellung, welche sich sowohl in zehn Mitgliedschaften in NS-Organisationen (darunter seit 1933 in der NSDAP) sowie in ihrer Selbstwahrnehmung als „biologische Soldatin“<sup>115</sup> der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ niederschlug – ein Paradoxon, wenn man bedenkt, dass sie selbst einmal Trägerin einer Lippenspalte gewesen war, die man bereits im ersten Lebensjahr chirurgisch korrigiert hatte.<sup>116</sup></p><p>Im Gegensatz jedoch zu einigen ihrer männlichen Kollegen, die sich dem NS-Regime angedient hatten,<sup>117</sup> gelang es von Schnizer nicht, ihre hochschulpolitische Karriere über das Kriegsende hinaus weiterzuführen. Im Rahmen des Entnazifizierungsverfahrens war sie zunächst als <i>Belastete</i> in Klasse II (I wären <i>Hauptschuldige</i>), dann aber durch Beibringung einer Reihe günstiger Zeugnisse als <i>Mitläuferin</i> in Klasse IV (V wären <i>Entlastete</i>) eingeordnet worden und galt somit als <i>entnazifiziert</i>.<sup>118</sup> Dennoch hatte sie in der Nachkriegszeit große Mühe, überhaupt wieder als praktische Zahnärztin zugelassen zu werden.<sup>119</sup> Dies gelang ihr nach eigenen Aussagen erst durch die Unterstützung von Walter Knott (1889–1981), dem späteren Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Zahnärzte, aus dem 1993 die Bundeszahnärztekammer hervorging.<sup>120</sup> Zumindest ihren Professorinnentitel konnte von Schnizer dann als niedergelassene Zahnärztin weiterführen.</p><p>Die Sanktionen gegen von Schnizer fallen im Vergleich zu anderen Protagonisten der NS-Zahnmedizin relativ hart aus.<sup>121</sup> Besonders im Vergleich zu einem Heidelberger Kollegen in recht ähnlicher Position fällt das Nicht-Erinnern an von Schnizer auf: dem apl. Professor Gerhard Weißenfels (1890–1952), der bereits 1929 Mitglied der NSDAP und der SA geworden war und ebenfalls zum Kreis der zahnärztlichen Hochschullehrer gehörte, die sich 1933 „in einer Entschließung zur ‚Einheitsfront der Zahnärzte‘ [zur] ‚völlige[n] Anerkennung einer einheitlichen Führung und des Autoritätsprinzips‘ bekannten“.<sup>122</sup> In einem Band zur Geschichte der Universität Heidelberg im Nationalsozialismus taucht Weißenfels jedoch nur als Interimsdirektor der Heidelberger Zahnklinik in den Jahren 1934/35 auf, der sich besonders bei den Studenten großer Beliebtheit erfreute und in der Folge „bis zu seinem Tod im Jahre 1952 eine Privatpraxis in Heidelberg“ führte.<sup>123</sup> Sein politisches Engagement und die Gründe für das Ausscheiden aus der Universität werden nicht thematisiert. Von Schnizer kommt in dem Band erst gar nicht vor.</p><p>Hieraus lässt sich, der These von Groß und Nebe folgend,<sup>124</sup> schließen, dass vor dem Hintergrund ihres weiblichen Geschlechts von Schnizers NS-Belastung in der Nachkriegszeit als schwerwiegender angesehen wurde, als bei vergleichbaren männlichen Kollegen.</p><p>Während eine bloße NSDAP-Mitgliedschaft bei Männern bis kurz vor der deutschen Wiedervereinigung kaum ein Ausschlusskriterium war, <i>könnte</i> genau dies bei Frauen schon lange zuvor der Fall gewesen sein. Elsbeth von Schnizers NSDAP-Mitgliedschaft erscheint als der entscheidende Grund, warum sie neben Maria Schug-Kösters nicht noch als zweite Frau in die fachkulturelle Erinnerung der Zahnmedizin aufgenommen wurde; beide Frauen hatten sich gleichermaßen habilitiert und beide hatten in ähnlichem Umfang publiziert.<sup>125</sup> <i>Eine</i> Frau unter allen Identifikationsfiguren im zahnmedizinischen Fachbereich war offensichtlich ausreichend. Es bedarf historischer Forschung anhand weiterer Beispiele, um herauszufinden, ob solche offenbar zusätzlich an Frauen gestellten Anforderungen <i>beliebig</i> sein konnten – nur um Aspirantinnen zu disqualifizieren –, oder ob speziell <i>die NSDAP-Mitgliedschaft einer Frau</i> eine besondere Relevanz in der Erinnerungskultur hat(te), also <i>anders</i> gewertet wurde als die eines Mannes.</p><p>Insgesamt zeigen sich folgende Trends bezüglich der Frage, welche Personen als Identifikationsfiguren dienen können, um einen Preis oder eine Institution zu benennen:</p><p>Forscher:innen, die sich in NS-Institutionen besonders lautstark hervorgetan oder sich direkt an Patientenmorden bzw. Humanexperimenten in Konzentrationslagern beteiligt hatten, gehörten – wie in der Einleitung erwähnt – zu einer Gruppe von rund 350 Haupttäter:innen, auf die in den ersten Nachkriegsjahrzehnten die Gesamtschuld der NS-Medizinverbrechen abgewälzt werden sollte – und die deshalb nie als Identifikationsfiguren in Frage kamen. Eindeutig schwerbelastete Mediziner:innen und Lebenswissenschaftler:innen waren in den vorgestellten Drittmittelprojekten nur als Mitglieder oder einstige Funktionsträger der Gesellschaften und Institutionen zu untersuchen; dagegen waren nach solchen Ärzt:innen ohnehin keine Preise oder Institutionen benannt.</p><p>Solche Benennungen sind folglich (wenn überhaupt) nach nur mäßig durch NS-Mitgliedschaften und einschlägige Medizinversuche belasteten Personen bekannt. So konnte etwa Hans Nachtsheim 1979 als Pionier für die Fachentwicklung der Humangenetik in der Bundesrepublik gelten und zum Namensgeber eines Preises der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie und Humangenetik werden. Personen, die seit der deutschen Wiedervereinigung in historischen Projekten untersucht wurden, finden sich allerdings häufig in einer Grauzone. Die bloße Zahl von Mitgliedschaften in NS-Organisationen etwa kann kein Maßstab zur Beurteilung sein, da manche Fachvertreter:innen stärker als andere ihre Loyalität zu NS-Deutschland beweisen mussten (möglicherweise Alois Kornmüller<sup>126</sup>). Weiter ist der Trend auszumachen, dass einer Beteiligung an jeglichen unmoralischen Menschenversuchen in den letzten Jahren eine stetig wachsende Bedeutung beigemessen wird. Anscheinend gilt für eine mögliche Beteiligung mittlerweile eine Beweisumkehr.<sup>127</sup> Das Wissen um und die Bereitschaft zur Durchführung von Humanexperimenten im Nationalsozialismus wird heute überhaupt sehr kritisch beurteilt, falls diese Versuche nicht den 1931 in Deutschland etablierten Standards zur Forschung am Menschen genügten.<sup>128</sup> Allerdings sind uns – abseits von Nachtsheim – kaum Beispiele bekannt, bei denen neben der Beteiligung an Versuchen an nicht einwilligungsfähigen Personen nicht gleichzeitig einschlägige NS-Mitgliedschaften dokumentiert wären, so dass unklar bleiben muss, was in den entscheidenden Gremien innerhalb der medizinischen Institutionen den Ausschlag zur Umbenennung gab.</p><p>Wird ein Preis zur Würdigung einer wissenschaftlichen Leistung umbenannt, stellt sich die Folgefrage, ob er mit einer anderen Person verbunden werden oder in Zukunft keinen Personennamen tragen soll. So scheint es, dass Fachgesellschaften sich von der eponymen Benennung von Preisen distanzieren: Sie werden heute bei der Umbenennung häufig de-personalisiert. Wie erwähnt, ist der Name Rudolf Thauer aus der Benennung des Posterpreises der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie ausgeschieden; die Deutsche Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie beschloss weitergehend, überhaupt keine namensgebundenen Preise mehr zu verleihen.</p><p>Allerdings steht eine De-Personalisierung von Preisen dem Wunsch einer Benennung von mehr Preisen nach Frauen entgegen. Sie sind in der europäischen Wissenschaftsstruktur historisch unterrepräsentiert, Pionierinnen sind aus der Erinnerung verdrängt worden. Ähnliches gilt übrigens auch für alle Emigrant:innen der NS-Zeit. Auch dies wird seit einigen Jahren korrigiert. Gleichzeitig ist nämlich das Verständnis dafür gewachsen, dass NS-Verfolgte, die emigrieren mussten, als Namensgeber:innen in der <i>alten</i> BRD ebenfalls übergangen wurden.<sup>129</sup> Peter Voswinkel hat für dieses Phänomen den bereits aus dem antiken Rom bekannten Begriff der „Damnatio memoriae“ – das Auslöschen des Andenkens – in die Medizingeschichte eingeführt.<sup>130</sup> Um dem entgegenzuwirken, werden teils gezielt Mitglieder solcher verfolgten Gruppen<sup>131</sup> wieder in die „Geschichte zurückgeschrieben“.<sup>132</sup> Als Ärztin, die infolge der Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich aus Wien fliehen musste, kann die oben thematisierte Dora Teleky in diese Kategorie gezählt werden. Auch als Pionierin des Frauenstudiums und als frühes weibliches Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Urologie schien Teleky besonders als Identifikationsfigur geeignet – gerade vor dem Hintergrund des heute zunehmend weiblich geprägten Absolventenprofils in den Medizinstudiengängen.</p><p>Dass aber allein die Rolle als Pionierin nicht ausreicht, zeigt das Beispiel von Elsbeth von Schnizer. Obwohl sie sich als zweite Frau in Deutschland für Zahnmedizin habilitiert hatte, wurde sie nicht in den Kanon der fachkulturellen Erinnerung aufgenommen. Wäre dies anders gekommen, dann würde – wegen ihrer NSDAP-Mitgliedschaft – heute ein Von-Schnizer-Preis wohl wieder umbenannt werden – ebenso wie bei entsprechenden männlichen Kollegen.</p><p>Noch wichtiger als die Mitgliedschaft in NS-Organisationen sollte zukünftig bei der Beurteilung von in der NS-Zeit aktiven Mediziner:innen und Lebenswissenschaftler:innen jedoch die Frage sein, ob sie sich an der Entrechtung von Fachkollegen beteiligten, die aus rassistischen oder politischen Gründen verfolgt wurden – so wie Karl Häupl es in Prag tat. Am wichtigsten für die Frage danach, ob eine Vorbildrolle ausgefüllt werden kann, scheint uns jedoch das Handeln in Forschung oder Klinik. Hier stellen etwa die Beteiligung an Menschenversuchen ohne Einwilligung der Versuchspersonen, an rassistischer Forschung, an Patientenmorden und an Zwangssterilisationen wichtige Kriterien dar.</p>\",\"PeriodicalId\":55388,\"journal\":{\"name\":\"Berichte zur Wissenschaftsgeschichte\",\"volume\":\"47 1-2\",\"pages\":\"77-105\"},\"PeriodicalIF\":0.6000,\"publicationDate\":\"2024-04-05\",\"publicationTypes\":\"Journal Article\",\"fieldsOfStudy\":null,\"isOpenAccess\":false,\"openAccessPdf\":\"https://onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.1002/bewi.202300018\",\"citationCount\":\"0\",\"resultStr\":null,\"platform\":\"Semanticscholar\",\"paperid\":null,\"PeriodicalName\":\"Berichte zur Wissenschaftsgeschichte\",\"FirstCategoryId\":\"98\",\"ListUrlMain\":\"https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/bewi.202300018\",\"RegionNum\":2,\"RegionCategory\":\"哲学\",\"ArticlePicture\":[],\"TitleCN\":null,\"AbstractTextCN\":null,\"PMCID\":null,\"EPubDate\":\"\",\"PubModel\":\"\",\"JCR\":\"Q2\",\"JCRName\":\"HISTORY & PHILOSOPHY OF SCIENCE\",\"Score\":null,\"Total\":0}","platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Berichte zur Wissenschaftsgeschichte","FirstCategoryId":"98","ListUrlMain":"https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/bewi.202300018","RegionNum":2,"RegionCategory":"哲学","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"Q2","JCRName":"HISTORY & PHILOSOPHY OF SCIENCE","Score":null,"Total":0}
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摘要

在这篇文章中,作者探讨了在什么情况下学者可以成为医学界的有效标识人物,以他们的名字命名奖项或机构--以及在什么情况下学者不能或不再能发挥这样的作用。通过人类遗传学家汉斯-纳赫茨海姆(Hans Nachtsheim)、循环系统研究专家鲁道夫-陶尔(Rudolf Thauer)、泌尿科专家多拉-泰勒基(Dora Teleky)以及牙医卡尔-海普尔(Karl Häupl)和埃尔斯贝特-冯-施尼泽(Elsbeth von Schnizer)的传记和接受情况,对专业文化记忆的趋势和变化进行了研究。这项研究表明,评价标准本身是可以改变的,而性别则是一个重要的影响因素。虽然正式标准(如党派和组织成员资格)历来是重要的评价标准,但作者主张今后应更加重视研究和临床实践中的行动。
本文章由计算机程序翻译,如有差异,请以英文原文为准。
Gelehrte als Identifikationsfiguren? Vom Umgang mit fachkultureller Erinnerung in medizinischen Fächern

Medizinische Fachgesellschaften, Berufsverbände und Standesvertretungen verfügen über eine ausgeprägte fachkulturelle Erinnerung mit langen Traditionen. Solche Institutionen richten Jubiläums- und Gedenkveranstaltungen aus, haben historische Arbeitskreise – und neben externen Historiker:innen publizieren auch Mitglieder in wissenschaftlich-klinischen sowie berufspolitischen Zeitschriften über die Geschichte des jeweiligen medizinisches Fachs. Die parallel zu fast jedem Fach existierenden wissenschaftlichen Gesellschaften, Berufsverbände und Standesvertretungen beschäftigen sich nicht zuletzt auch mit der Benennung von Preisen und betreiben „Aufarbeitungsprojekte“, etwa zur Medizin im Nationalsozialismus. Viele wissenschaftliche Auszeichnungen, die insbesondere Fachgesellschaften verleihen, tragen den Namen einer Identifikationsfigur, typischerweise eines bekannten früheren Mitglieds; darüber hinaus sind auch oft ganze Institutionen nach einer solchen Person benannt. Mittels Beispielen aus den Fächern Humangenetik, Kreislaufforschung, Urologie und Zahnheilkunde möchten wir in diesem Beitrag schlaglichtartig aufzeigen, nach welchen Kriterien Fachvertreter:innen als Identifikationsfiguren ausgewählt werden, um Preise und Institutionen zu benennen – oder eben auch nicht; und, warum andere Personen eine solche Rolle erst erlangten, mittlerweile aber wieder verloren haben. Einleitend stellen wir dar, wie sich die Beschäftigung mit der (nationalsozialistischen) Geschichte der Medizin und Lebenswissenschaften historisch verändert hat und reflektieren kritisch die Aufarbeitungsforschung, die im Spannungsfeld zwischen historischem Erkenntnisinteresse, historisch-politischer Bildung, Geschichtspolitik und Auftragsforschung verortet ist.

Die gewählten Fallbeispiele stammen insbesondere aus unseren eigenen Forschungen zur Medizingeschichte und der Erinnerungskultur in medizinischen Institutionen mit Bezug zum Nationalsozialismus und deren Reflexion in der Nachkriegszeit. Die Frage nach einer Verstrickung in den Nationalsozialismus („NS-Belastung“) ist relevant, weil sie noch immer schwerer zu wiegen scheint als die nach dem Verhalten von Akteuren in anderen (Unrechts-)Kontexten.1 In diesem Beitrag werden nun Bezüge zu diesem Themenkomplex eröffnet, um das Spektrum von möglichen Konjunkturen von Erinnerungskultur und Geschichtspolitik von der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart exemplarisch zu illustrieren.2 Gleichzeitig versuchen wir, durch den Vergleich übergreifende Trends aufzufinden.

Um als Identifikationsfigur dienen zu können, nach der etwa ein Preis oder eine Institution benannt sein kann, muss die Person sowohl nach innen, also für die benennende Körperschaft, eine Projektionsfläche für Identität und Gemeinschaft bieten als auch geeignet sein, diese Körperschaft nach außen hin zu repräsentieren. In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich u. a. durch generationellen Wandel und das damit verbundene Wegfallen von Loyalitäten in vielen Fachgesellschaften ein kritischer Blick auf ehemals gerühmte Fachvertreter:innen entwickelt, wenn sie als NS-belastet gelten müssen – wobei jedoch die Antwort auf die Frage, was als Belastung gilt, selbst historisch wandelbar und mutmaßlich von Faktoren wie dem Geschlecht abhängig ist. Gleichzeitig kommen aber auch aus der Öffentlichkeit mehr kritische Nachfragen. Über soziale Medien ist es leichter als in der Vergangenheit möglich, fragliche Benennungen öffentlich zu machen. Für eine Fachgesellschaft, die u. a. Professionalität ausstrahlen möchte, kann hier also Handlungsbedarf – konkret das Lösen einer als belastet wahrgenommenen Person von einem Preis oder einer Institution – bestehen, um die Reputation einer als „historisch-ethisch korrekt handelnden“ Institution aufrecht zu erhalten.3

Schwerpunktmäßig seit dem Jahr 2000 haben zahlreiche medizinische Institutionen – darunter Fachgesellschaften sowie Kammern, Berufsverbände und Fakultäten – ihre Geschichte aufarbeiten lassen. Der schon seit den 1980er-Jahren üblich gewordene Begriff der Aufarbeitung kann dabei ähnlich kritisch gesehen werden wie der bis dahin eher verbreitete Begriff der Vergangenheitsbewältigung.4 Die Begriffe sind seit der unmittelbaren Nachkriegszeit bis heute für die juristische, politische, gesellschaftliche, geschichtswissenschaftliche und erinnerungskulturelle Beschäftigung mit der (NS-)Vergangenheit, der (NS-)Belastung von Akteuren und der Rehabilitation von (im Nationalsozialismus) verfolgten und diskriminierten Personen verwendet worden. Bereits um das Jahr 2015 waren dabei so viele Studien zu den Aufarbeitungsprojekten verschiedener medizinischer Fachgesellschaften zusammengekommen, dass ein erster Versuch des Vergleichs und der Synthese unternommen werden konnte.5

Seit der Jahrtausendwende war es bei Behörden und Ministerien üblich geworden, Aufträge zur Aufarbeitung an externe Expert:innen zu vergeben,6 manche sehen gar eine durch die Republik rollende „Auftragswelle“.7 Beispielhaft dafür ist die 2010 veröffentlichte, medial breit rezipierte Studie zum Auswärtigen Amt,8 die seit 2005 von einer unabhängigen Historikerkommission im Auftrag des Außenministeriums erstellt worden war. Mit dieser Vergabe des entsprechenden Aufarbeitungsauftrags an externe Wissenschaftler:innen (anstatt einer Bearbeitung in house) wurde zugleich ein neuer Standard gesetzt, an dem sich in der Folge auch viele medizinische Fachgesellschaften orientierten; sie entschieden sich häufig dafür, medizinhistorische Universitätsinstitute zu beauftragen.9 Es war die Erkenntnis gewachsen, dass die zugrundeliegende historische Forschung im eigenen Hause gar nicht geleistet werden könne.10 Solche Projekte sind von medizinhistorischen Instituten gerne bearbeitet worden, brachten sie doch die projektleitenden und -bearbeitenden Historiker:innen in Kontakt mit Kliniker:innen und gleichzeitig Drittmittel ein.

Darauf, dass in solchen Kooperationen, die sich immer an der Grenze zur Auftragsforschung bewegen, der Drittmittelgeber dem beauftragten Institut die Fragestellung vorgibt, hat Ralph Jessen hingewiesen – schließlich „suchen nicht professionelle Historiker ein Forschungsobjekt, sondern umgekehrt suchen sich die Forschungsobjekte professionelle Historiker“.11 Dabei geben nach unserer Erfahrung die Drittmittelgeber heute keinerlei Antworten vor, sondern wünschen im Gegenteil möglichst unabhängige Untersuchungen, die in wissenschaftlich anerkannte Publikationen münden. Jessen stellt dazu heraus: „Wer gegen das Unabhängigkeitsgebot verstößt, desavouiert als Auftraggeber sein eigenes Anliegen, und die Historiker, die sich darauf einlassen, ruinieren ihren Ruf.“12 Gleichzeitig fällt aber auf, dass in einem zunehmend durch Drittmittel strukturierten Forschungsmilieu Leerstellen entstehen, wenn zwischen 1933 und 1945 aktive Institutionen heute keine Nachfolger haben oder diese für eine Projektfinanzierung zu finanzschwach sind. Dies passt zu Jessens Befund, dass eine an Auftragsforschung angrenzende Aufarbeitungsforschung Personal und andere Ressourcen für Forschung einsetzt, deren Themen von außen gesetzt werden. Zudem kann an historischen Instituten, die regelmäßig solche Aufarbeitungsprojekte durchführen, eine strukturelle Abhängigkeit von Drittmittelprojekten verstärkt werden.13

Anhand der Projekte, die zustande kamen, lassen sich in einer vergleichenden Rückschau Trends bei den Identifikationsfiguren ausmachen. Wir betrachten in diesem Beitrag Phänomene, die Dietmar von Reeken und Malte Thießen in ihrem Band Ehrregime untersucht haben: Jede Zeit hat ihre eigenen Maßstäbe, wer wen wie erinnert, ehrt oder als Vorbild für geeignet hält.14 Zentral ist dabei nach Alexander Pinwinkler und Johannes Koll der Umstand, dass „Ehrungen und Entehrungen nicht isoliert von ihren historischen, politischen und gesellschaftlichen Kontexten betrachtet werden“ können.15 Im Unterschied zu diesen Vorarbeiten zielt unser Beitrag jedoch stärker auf die Frage ab, unter welchen Umständen Gelehrte in medizinischen Fächern als Identifikationsfiguren installiert (und demontiert) werden. Das Benennen eines Preises oder einer Institution nach einer Person ist zwar durchaus dazu geeignet, die Person bzw. ihr Andenken zu ehren. Im Gegensatz zu Ehrenmitgliedschaften oder Ehrenpräsidentschaften sind solche Benennungen jedoch tendenziell eher bereits verstorbenen Fachvertreter:innen und -pionier:innen vorbehalten. Die Benennung von Institutionen und Preisen nach Personen ist darüber hinaus im Gesundheitswesen so üblich, dass sie gelegentlich eher als „Möblierung“ des fachkulturellen Erinnerungsraumes wahrgenommen wird denn als Ehrung des Namensgebers.16 Einen Aspekt, den das Übernehmen der Rolle als Identifikationsfigur mit einer Ehrung gemeinsam hat, ist jedoch zweifellos der „Zukunftsbezug“, also die „Aufforderung an die Mitglieder des Kollektivs, es dem Geehrten“ (oder der Identifikationsfigur) gleichzutun.17 Und nur dann, wenn die Vorstellung für die Mitglieder des Kollektivs attraktiv ist, es einem Gelehrten einer früheren Generation gleichzutun, kann dieser Gelehrte die Rolle als Identifikationsfigur ausfüllen.

Wir gehen von der These aus, dass in der Erhebung von Gelehrten zu Identifikationsfiguren die Wertvorstellungen und standespolitischen Ziele medizinischer Fachgesellschaften und Institutionen sowie ihrer Mitglieder exemplarisch sichtbar werden. Relevante Qualitäten solcher Fachgesellschaften sind, wie Heiner Fangerau und Christiane Imhof gezeigt haben, die Repräsentation von Professionalisierung und Spezialisierung nach außen sowie die gegenseitige Anerkennung und kollegiale Verantwortungsübernahme nach innen.18

Gelehrte müssen diese internen und externen Funktionen somit zunächst einmal erfüllen, um in den Kreis möglicher Identifikationsfiguren überhaupt aufgenommen werden zu können. Folglich orientieren sich die Konjunkturen der Identifikation durch herausgehobenes Erinnern an internen und externen Faktoren, die einzelne Fachvertreter:innen als Identifikationsfiguren empfehlen oder ungeeignet machen können.19 Zu den internen Faktoren zählen hier etwa: Lehrer-Schüler-Verhältnisse, persönliche Sympathien oder Animositäten sowie das Handeln der potentiellen Identifikationsfiguren im wissenschaftlichen und institutionellen Kontext (Forschung, Lehre, Rollen in Fachgesellschaften oder Standesorganisationen). Zu den externen Faktoren zählen: das (vermutete) Interesse der Öffentlichkeit an potentiell problematischen Handlungen in bestimmten Kontexten (Kolonialismus, Nationalsozialismus, DDR, etc.), die Projektion des Images einer Fachgesellschaft als „professionelle, historisch-ethisch korrekt handelnde“ Institution nach außen,20 und die Wahrnehmung eines allgemeinen gesellschaftlichen Wertewandels, durch den Aspekte in den oder aus dem öffentlichen Blick geraten können.

Richtet sich dieser Blick der Öffentlichkeit auf Wissenschaft und Medizin im Nationalsozialismus, so scheinen in den letzten ca. 20 Jahren in kurzer Folge mehrere graduelle Neugewichtungen von Kriterien vorgenommen worden zu sein: Während in der alten BRD gerade Mediziner meist als reingewaschen gegolten hatten, die in der Entnazifizierung nicht verurteilt worden waren oder zumindest im Amt bleiben konnten, schreckte Ernst Klee mit seinem Personenlexikon die Öffentlichkeit um die Jahrtausendwende auf. NS-Mitgliedschaften auf der Ebene von Lexikoneinträgen konnten nun nicht mehr ignoriert werden.21 In direkter Folge erschienen seither Mitgliedschaften in SS, SA oder NSDAP22 etwa im Online-Portal Wikipedia als zentrale Marksteine von Belastung oder Nicht-Belastung. Erst später sind Personen ohne Parteizugehörigkeit, wie der Chirurg Ferdinand Sauerbruch (1875–1951) oder der Medizinhistoriker Paul Diepgen (1878–1966), kritischer daraufhin untersucht worden, durch welche Handlungen sie das NS-Regime und seine Politik vielleicht dennoch gestützt haben. Dies eröffnete umgekehrt aber auch die Frage, als wie belastet Personen einzuschätzen sind, die aus Opportunismus als „Märzgefallene“ oder unter gewissem Druck der Partei oder anderen NS-Organisationen beitraten, wenn dazu kein Engagement für die Vertreibung von Kollegen aus rassistischen Gründen, für die Eugenik, die sogenannte Rassenlehre, Euthanasie-Morde oder andere NS-Medizinverbrechen trat.23

Zunächst betrachten wir die Umbenennung von wissenschaftlichen Auszeichnungen und Institutionen unter den Vorzeichen eines veränderten Kenntnisstandes über die namensgebende Person und aktuellen Veränderungen in der Bewertung ärztlichen Handels im Nationalsozialismus. Wer als Namensgeber zu welchen Zeiten infrage kommen konnte, lässt sich entlang der deutschen Geschichte periodisieren:

(1) In Medizin und Gesellschaft hatte sich das Bild begangener NS-Medizinverbrechen in der Folge des Nürnberger Ärzteprozesses (1946–1947) auf rund 350 Haupttäter fokussiert.24 Auch in den Nachfolgeprozessen, wie etwa dem Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965), wurden nur einzelne, persönlich schwer belastete Medizintäter verurteilt.25 Weitere Beteiligte ebenso wie die nationalsozialistisch geprägten Strukturen des Gesundheitswesens wurden in der Folge eher verdrängt und vergessen. Diese weiteren Beteiligten blieben somit zunächst im Kreis derjenigen, die im Falle besonderer wissenschaftlicher Leistungen als Vorbilder präsentiert werden konnten. Die 68er-Revolte änderte daran wenig, denn kritische Studenten hatten wenig Einfluss auf die Benennung von Preisen, auch wenn ab diesem Zeitpunkt das „absichtsvolle Vergessen“ im Nachkriegsdeutschland stärker kritisiert wurde.26 Wie unten gezeigt wird, sieht die wissenschaftliche Enkelgeneration in Loyalitäten zwischen Schülern und Lehrern ein entscheidendes Beharrungsmoment, das eine Aufarbeitung verhinderte.27 Zudem stellte sich der Systemkonflikt zwischen der BRD und der vorgeblich antifaschistischen DDR einer vertieften Aufarbeitung entgegen: Die DDR prangerte NS-Täter, die ja alle in den Westen gegangen seien, an; eine eigene vertiefte Aufarbeitung in der BRD musste auf dieser Ebene kontraproduktiv erscheinen.28

(2) Die akademische Medizingeschichte begann sich ab den 1980er Jahren dem Themenkomplex Medizin und Nationalsozialismus zuzuwenden. Als öffentlich sichtbarer Startpunkt wird häufig der Gesundheitstag 1980 angeführt, der in Berlin als Gegenveranstaltung zum 83. Deutschen Ärztetag stattfand und auf dem die NS-Medizinverbrechen offen diskutiert wurden. Noch in der Dekade erschienen erste Standardwerke und im Deutschen Ärzteblatt eine Serie von Artikeln, deren Autoren an medizinhistorischen Instituten angesiedelt waren.29 In den 1990er Jahren konnte sich Forschung zur NS-Medizin im Mainstream der deutschen Medizingeschichte etablieren. Auch medizinische Fachgesellschaften und andere Institutionen begannen ab diesem Jahrzehnt Aufarbeitungsprojekte, unter denen das der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde als das Erste gilt.30

(3) In der Folge begannen zahlreiche Institutionen, einen zunehmend kritischen Blick auf ihre Geschichte zu werfen. Ein prominentes Forschungsprojekt zur (eigenen) Geschichte im Nationalsozialismus ging dabei ab 1997 von der Max-Planck-Gesellschaft aus, weitere wichtige Marksteine waren ein an externe Experten vergebenes Forschungsprojekt der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), dessen Ergebnisse ab 2010 vorgestellt wurden sowie die Nürnberger Erklärung des Deutschen Ärztetages von 2012.31 Darin erkennt die verfasste Ärzteschaft an, dass die Medizinverbrechen im Nationalsozialismus „nicht die Taten einzelner Ärzte“ waren, sondern „unter Mitbeteiligung führender Repräsentanten der verfassten Ärzteschaft sowie medizinischer Fachgesellschaften und ebenso unter maßgeblicher Beteiligung von herausragenden Vertretern der universitären Medizin sowie von renommierten biomedizinischen Forschungseinrichtungen“ geschahen. Als Konsequenz verpflichtete sich die verfasste Ärzteschaft u. a. dazu, weitere historische Forschung und Aufarbeitung aktiv durch finanzielle und institutionelle Unterstützung zu fördern.32 Dies musste dazu führen, dass die Eignung von Protagonist:innen aus der Mitte des 20. Jahrhunderts als Vorbilder für heute hinterfragt wurde. Die nun gestarteten Drittmittelprojekte untersuchten zunehmend nicht nur NS-Mitgliedschaften, sondern beachteten aus dem Forschungsverlauf innerhalb der Medizingeschichte heraus33 die Mittäterschaft an Medizinversuchen. Die Kategorisierung wurde dabei gegenüber 1946/47 erweitert; ob Versuche etwa an nicht einwilligungsfähigen Personen wie Kindern durchgeführt worden waren, galt nun allein schon (auch ohne nachweisbare Personenschäden) als bedeutsam.34 Da nach Hochrechnungen mindestens 50 Prozent der Ärzte und rund 20 bis 25 Prozent der Ärztinnen in der NSDAP gewesen waren,35 scheint eine Differenzierung innerhalb dieser großen Gruppe von Täter:innen nötig.

(4) Parallel zur juristischen Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen kamen auch Geschlechterfragen auf. Impulse hierzu stammten aus der seit den 1960er Jahren aufstrebenden Frauenforschung. Es sollte jedoch eine Generation dauern, bis die bis dahin vielfach propagierte These „War is men's business, not ladies’“36 korrigiert wurde. Prominent thematisierte die Sozialwissenschaftlerin Christina Thürmer-Rohr 1987 die „Mittäterschaft von Frauen“ auch in patriarchal geprägten Systemen.37 Die Diskussion um diese Idee führte auch in der NS-Forschung zu der Einsicht, dass Frauen nicht weiter nur als Objekte der zweifellos männlich geprägten NS-Gesellschaft verstanden werden können.38 Frauen „steigen auch eigentätig ein, gewinnen Privilegien, ernten fragwürdige Anerkennung und profitieren von ihren Rollen“.39 Damit bildet die Kategorie Geschlecht in aktuellen Aufarbeitungsprojekten eine wichtige Säule, wie etwa ein aktueller Beitrag zur reichdeutschen Rassenforscherin Karin Magnussen illustriert.40 Gleichzeitig besteht zur Frage, welchen Einfluss Geschlecht auf die Auswahl einer Person als Identifikationsfigur hat, noch Forschungsbedarf. Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war die (akademische) Medizin überwiegend männlich geprägt und bei den tradierten Gründervätern medizinischer Fachrichtungen handelte es sich fast ausschließlich um Männer. Dabei gab es über das gesamte letzte Jahrhundert hinweg schon prominente Fachvertreterinnen. Diese Pionierinnen haben im Kontext der heute zunehmend weiblich geprägten Medizin – mittlerweile sind rund zwei Drittel der Medizinstudierenden Frauen41 – ein größeres Potential, nun auch als Vorbilder benannt zu werden. Gleichzeitig stellt sich im Kontext von dabei ebenfalls möglichen moralischen Verfehlungen dieser Pionierinnen die Frage, ob „Schuld auch weiblich sein kann“42 – und ob an Frauen andere Anforderungen als an Männer gestellt werden, um als Identifikationsfiguren dienen zu können.

Zu Beginn aber geht es um zwei klassische männliche Vorbilder, die das Spektrum aufzeigen sollen, das von Neubewertung bis hin zum fehlenden Beweis der Nicht-Verstrickung reicht.

Dass etwas massiv in Bewegung geraten war, spiegelte sich zunächst darin wider, dass ein Auszuzeichnender seinen Preis unter dem bisherigen Namen nicht annehmen wollte. Anhand des Beispiels Hans Nachtsheim lässt sich prägnant zeigen, wie sich Anforderungen änderten, die an einen Namensgeber gestellt werden. Im Zuge eines Forschungsprojekts,43 das sich der Nachkriegsgeschichte der Humangenetik in Deutschland ab den 1970er Jahren widmete, berichtete einer der etwa 30 vor wenigen Jahren interviewten Zeitzeugen davon, dass er 1989 den Hans-Nachtsheim-Preis der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie und Humangenetik erhalten sollte.44 Doch hatte ihm die damals seit zehn Jahren vergebene Auszeichnung missfallen. Im Interview schilderte er:

Hans Nachtsheim war ja ein glühender Eugeniker und auch in gewisser Weise unverbesserlich. Er hat ja dann auch im Bundestag, also lange nach dem Krieg, das [Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses45] verteidigt. Das sei ja gar kein Nazi-Gesetz, im Gegenteil, die ganze Welt hätte Deutschland um dieses Gesetz beneidet. Er hat […] auch die Zwangssterilisierung noch verteidigt. […] Ich wollte den Preis nicht annehmen. Weil er diesen Namen trug. […] Das heißt also[,] ich stand vor diesem Dilemma[,] entweder diesen Preis nicht anzunehmen[,] oder eben anzunehmen und […] etwas zu sagen. Dann habe ich mich für das letztere entschieden[,] weil das eben eine Chance war […]. Aufgrund dieser meiner Rede […] hieß der Preis vom nächsten Jahr an dann nicht mehr Hans-Nachtsheim-Preis […]. Das hat offensichtlich der Fachgesellschaft die Augen geöffnet.46

Der Namensgeber hatte von 1941 bis 1945 die Abteilung für experimentelle Erbpathologie am „Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik“ geleitet. Das damals junge Fach „Erbpathologie“ suchte sich von der Pathologischen Anatomie abzugrenzen und Krankheit vom Erbgut her zu verstehen.47 Der Wissenschaftshistoriker Alexander von Schwerin schätzt ein, dass „der mythisch-biologische Volksstaat“ aber kein Anliegen Nachtsheims war48 und Ute Deichmann ordnet ihn – im Kontext der Zeit – weder als Antisemiten noch als Rassisten ein.49 In der Nachkriegszeit sah dies auch die internationale wissenschaftliche Gemeinschaft so, denn Nachtsheim wurde 1951 als einziger deutscher Forscher am UNESCO Statement on the Nature of Race and Race Differences beteiligt, einer Überarbeitung des ein Jahr vorher veröffentlichten Statement on Race. Das erste Statement sollte nach der Erfahrung von auf Rassismus basierendem Völkermord während des Zweiten Weltkriegs die Grundlagen des „wissenschaftlichen Rassismus“ beseitigen, welchen u. a. Anthropologen gelegt hatten. Das zweite Statement, in dessen Erarbeitung eine größere Gruppe von biologischen Anthropologen eingebunden war, hielt an der grundsätzlichen Stoßrichtung fest, bildete jedoch präziser den Forschungsstand zur Diversität menschlicher Populationen innerhalb der scientific community der Biowissenschaftler ab.50 Für Nachtsheims Mitwirken mag zudem gesprochen haben, dass er als einer von wenigen führenden deutschen Erbforschern nicht Mitglied der NSDAP geworden war und sich aus Deutschland geflohene Kollegen wie Richard Goldschmidt (1878–1958) und Hans Grünberg (1907–1982) für ihn einsetzten.51

Gleichzeitig hatte Nachtsheim wissentlich von der Priorität profitiert, welche die biologische Forschung im „Dritten Reich“ genoss.52 Zwar arbeitete er schwerpunktmäßig mit Kaninchen, führte aber 1943 auch Unterdruck-Experimente mit epilepsiekranken Kindern aus der Heil- und Pflegeanstalt Brandenburg-Görden durch.53 Sein Ko-Experimentator Gerhard Ruhenstroth-Bauer (1913–2004) beschrieb die Versuche in einem Leserbrief in der Wochenzeitung Die Zeit im Jahr 2000. Dort betonte er, Nachtsheim und er selbst seien während der Experimente zusammen mit den Kindern in der Unterdruckkammer gewesen und alle Beteiligten hätten eine zusätzliche Sauerstoffzufuhr veranlassen können. Es sei zu keinem epileptischen Anfall gekommen. Ruhenstroth-Bauer gibt an, erst 60 Jahre nach den Versuchen erfahren zu haben, dass die Heil- und Pflegeanstalt Brandenburg-Görden eine „Kindermordzentrale“ gewesen sei und zeigte sich darüber schwer erschüttert.54

Ruhenstroth-Bauer und Nachtsheim hatten im Januar 1944 in der Klinischen Wochenschrift über ihre Experimente berichtet. Dabei schrieben sie über ihre tierexperimentellen Studien an Kaninchen:

Der charakteristische Unterschied im Verhalten von epileptischen Jung- und Alttieren gegenüber dem Sauerstoffmangel ließ es wünschenswert erscheinen, auch beim Menschen jugendliche und erwachsene Epileptiker vergleichend zu prüfen. […] [Der an den Experimenten beteiligte Josef Gremmler]55 untersuchte nur Erwachsene, ohne durch Hypoxämie einen epileptischen Anfall bei ihnen auslösen zu können. Wir beabsichtigen, nach Abschluß unserer auch die Klinik interessierenden eigenen Untersuchungen an jugendlichen Epileptikern über die näheren Ergebnisse zu berichten.56

Zu diesem Zeitpunkt hatten die Experimentatoren bereits Versuche an 11- bis 13-jährigen Jugendlichen vorgenommen und planten weitere Versuche an 5- bis 6-jährigen Kindern, zu denen es aber mutmaßlich nicht kam.57 Die 1944 veröffentliche Arbeit zitierte Nachtsheim selbst in der Nachkriegszeit mindestens zweimal58 – offenbar, ohne dabei den Absatz problematisch zu finden oder Nachfragen zu befürchten.

Nachtsheims Engagement für die Eugenik ab 1933 mag durchaus seinen Überzeugungen entsprochen haben; gleichzeitig verstand er aber auch, dass das im selben Jahr verabschiedete „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN), welches die Zwangssterilisation von Personen mit bestimmten, für erblich gehaltenen Krankheiten erlaubte, der „Erbpathologie“ eine zentrale Rolle in der nationalsozialistischen Gesundheits- und Biopolitik einräumen sollte – und folglich auch jede Forschung, die daran anschlussfähig war, gute Aussichten auf Förderung erhalten würde.59 Aus unterschiedlichen Gründen, etwa, weil auch in anderen Ländern Sterilisationsgesetze bestanden, wurden die gemäß dem GzVeN durchgeführten Zwangssterilisationen nicht im Nürnberger Ärzteprozess angeklagt und das Gesetz selbst sehr spät – erst 2007! – als nationalsozialistisches Unrechtsgesetz geächtet. Diese Art von Kontinuität erlaubte es Nachtsheim, an seinen eugenischen Überzeugungen festzuhalten, ja diese im Nachkriegsdeutschland als Experte sogar weiter zu propagieren, und gleichzeitig als unbelasteter Repräsentant der deutschen Biowissenschaft zu reüssieren.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs konnte Nachtsheim seine Karriere ab 1946 als Professor für Genetik fortsetzen, erst an der Humboldt-Universität, später an der Freien Universität Berlin und als Direktor des „Max-Planck-Instituts für vergleichende Erbbiologie und Erbpathologie“ in Berlin-Dahlem. Für das Verhalten deutscher Biowissenschaftler vor 1945 fand er deutliche Worte. So schrieb er 1947: „Die deutsche Fachwissenschaft trifft – mit wenigen Ausnahmen – eine ähnlich schwere Schuld wie den deutschen Generalstab, der sich – unfaßlich für viele Deutsche – willig zum Handlanger der Verbrechen Hitlers machen ließ.“60 Wie erwähnt setzte sich Nachtsheim aber auch in der Bundesrepublik weiter aktiv für Eugenik ein. Er wollte das GzVeN nicht als nationalsozialistisches Unrechtsgesetz verstanden wissen und forderte ein neues Gesetz zur Sterilisation aus eugenischer Indikation in Westdeutschland.61 Noch 1963 sprach er von einer „Pflicht zur praktischen Eugenik“.62

Ebendieses Engagement für die Eugenik in der Nachkriegszeit war der Auslöser für den Wandel der Erinnerung an Nachtsheim in den 1980er Jahren, konkret: für die Umbenennung des Hans-Nachtsheim-Preises der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie und Humangenetik. Der oben erwähnte Zeitzeuge erinnert sich:

[Der Preis] trug den Namen auf Betreiben von Friedrich Vogel, der damals übermächtigen Gestalt der Nachkriegs-Humangenetik. Hans Nachtsheim war sein Lehrer, [gewesen, den er] sehr bewundert[e]. [Vogel] hat es durchgesetzt, dass dieser Preis so benannt wird, im vollen Bewusstsein […] von Hans Nachtsheims Einstellungen [der Eugenik gegenüber]. Aber ich wusste natürlich, dass [ich] es mir ein für alle Mal mit Friedrich Vogel verscherzen würde. […] Und es war dann […] tatsächlich so […], [dass] mir später Steine in den Weg gelegt wurden.63

Nachtsheim konnte in den Nachkriegsjahren als Identifikationsfigur für die deutsche Humangenetik fungieren, weil er nicht nur als exzellenter Wissenschaftler galt und weil sein Engagement für den Nationalsozialismus viel geringer gewesen war als bei fast allen anderen deutschen Anthropologen und Humangenetikern dieser Generation. Durch aktive Kritik an der NS-Rassenideologie und Mitarbeit in internationalen Gremien konnte er darüber hinaus zur Re-Integration der deutschen Wissenschaft in die internationale scientific community beitragen. Nachtsheims paralleles Engagement für die Eugenik disqualifizierte ihn in den 1950er und 60er Jahren noch nicht; zu sehr waren diese Einstellungen noch allgemein verbreitet.64

Dass Friedrich Vogel (1925–2006) im Jahr 1979 vorschlug, einen Preis nach Hans Nachtsheim zu benennen, war damals insofern kein Kennzeichen einer exponierten Minderheitenmeinung. Der kurz zuvor verstorbene Nachtsheim war Vogels Mentor gewesen; Nachtsheim vorzuschlagen, kann als Indiz für persönliche Verbundenheit gelesen werden, sollte diesen aber wohl auch über seinen Tod hinaus in der fachkulturellen Erinnerung der Humangenetik festschreiben.65 Mit dem Abstand weiterer 10 Jahre wollten relativ jüngere Fachvertreter:innen66 sich aber von der eugenischen Tradition der deutschen Humangenetik distanzieren und kritisierten 1989 die Benennung des Preises.67 In diesem Fall waren es Initiativen aus der Fachgesellschaft heraus, welche ihr Fach von der Eugenik distanzieren wollten68 oder Anstoß an Nachtsheims eugenischen Einstellungen nahmen. Diese Einstellungen führten letztendlich dazu, dass der Preis ab dem Jahr 1988 nicht mehr vergeben wurde.69 Nachtsheim konnte mittlerweile keine Identifikationsfigur mehr sein. Spätestens als im Jahr 2000 Nachtsheims Beteiligung an Humanexperimenten einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde, hätte die Verknüpfung seines Namens mit einem Preis überdacht werden müssen.

Einen etwas anderen Verlauf nahm die Entwicklung in der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK) um das Jahr 2012. Deren damaliger Präsident Georg Ertl beschrieb später, in einer Vorstandssitzung vorgeschlagen zu haben, die „Rolle der Deutschen Gesellschaft für Kreislaufforschung und ihrer Mitglieder im Nationalsozialismus“ näher erforschen lassen zu wollen:

Es war nicht das erste Mal, dass sich die DGK mit dieser Frage beschäftigte, sie wurde bereits seit längerem diskutiert. Eine Debatte, die sich allerdings als schwierig gestaltete, weil es offenbar doch eine ausgeprägte Zurückhaltung gab, noch lebende Akteure dieser Zeit zu belasten oder das Andenken Verstorbener zu ‚beflecken‘.70

An der Universität Düsseldorf wurde daraufhin ein medizinhistorisches Forschungsprojekt begonnen. Einer der vielen dabei untersuchten Mediziner war Rudolf Thauer, seit 1937 Mitglied und von 1951 bis 1976 Geschäftsführer dieser Fachgesellschaft.71 Nach ihm war ein Posterpreis der DGK benannt.

Thauer war bereits von der überregionalen Presse behandelt worden. Die FAZ hatte 2003 getitelt: „Früherer Direktor des Kerckhoff-Instituts im Zwielicht. Thauer angeblich in der NS-Zeit an Menschenversuchen beteiligt“. Hauptberuflich war Thauer seit 1951 Direktor des Kerckhoff-Instituts in Bad Nauheim, wo Kreislauferkrankungen erforscht wurden. Die FAZ hatte in ihrem Artikel von 2003 auch auf das im selben Jahr erschienene Personenlexikon von Ernst Klee verwiesen, das rund 4.300 Personen aufführt, die „während der Zeit des Nationalsozialismus Karriere machten“.72 Klee wies in seiner Kurzbiografie zu Thauer (mit mäßiger Genauigkeit) darauf hin, dass dieser 1933 in die SA und 1937 in die NSDAP eingetreten sei.73 Überlegt werde, so die FAZ weiter, in Bad Nauheim den Rudolf-Thauer-Weg umzubenennen.74

Thauer hatte in der NS-Zeit am „Institut für animalische Physiologie“ in Frankfurt am Main, das Karl Wezler (1900–1987) leitete, Versuche gemacht, die eine Absenkung der Körpertemperatur von Student:innen bis 34,4 °C zum Gegenstand hatten. Bei der Tagung „Seenot und Winternot“, die im Oktober 1942 vom Sanitätswesen der Luftwaffe veranstaltet wurde, meldete sich Wezler zu Wort und wies auf diese Versuche hin. Nach heutigen Begriffen handelte es sich bei den Versuchen in Frankfurt um leichte Unterkühlungen. Diese Versuche mit kalter Luft hatten eine ganz andere Qualität als diejenigen mit kaltem Wasser im Konzentrationslager Dachau – über deren Ergebnisse DGK-Mitglied Ernst Holzlöhner (1899–1945) auf derselben „Seenot“-Tagung berichtete. Holzlöhner hatte dort zunächst postuliert, Tierversuche seien nicht auf den Menschen übertragbar. Bei einer Körpertemperatur von unter 28 °C sei keine Rettung mehr möglich. Tatsächlich wurden bei Kälteversuchen im KZ Dachau bis dahin etwa 15 und insgesamt 80 bis 90 Gefangene ermordet.75

Die Wortmeldung Wezlers erfolgte in der mündlichen Diskussion direkt nach dem Vortrag Holzlöhners. In derselben Diskussion widersprach Franz Grosse-Brockhoff (1907–1981), Assistent an Hermann Reins physiologischem Institut in Göttingen: Ergebnisse von Tierversuchen seien sehr wohl auf den Menschen übertragbar.76 Dementgegen fühlte sich Wezler herausgefordert, die zusammen mit Thauer gewonnenen Erkenntnisse dadurch aufzuwerten, dass er betonte, (auch) sie seien am Menschen gewonnen. Unklar ist allerdings, ob Thauer und Wezler – beide nahmen an der Tagung in Nürnberg teil – bereits damals verstanden hatten, dass parallel in Dachau Probanden in Versuchen ermordet wurden.77

Rudolf Thauer wechselte 1943/44 von Frankfurt an die Medizinische Akademie Danzig. Schon Ernst Klee wies auf Thauers in Danzig geleitetes Projekt „Die Beeinflussung der Wärmeregulation durch Medikamente und Gifte unter besonderer Berücksichtigung der allgemeinen Auskühlung im Wasser“ hin. Es handelte sich um einen Forschungsauftrag des Militärs.78 Ob Thauer in Danzig die kombinierten Gift-Kälte-Versuche am Menschen oder am Tier durchzuführen plante, ist wegen fehlender Akten nicht zu klären.79 Bei der Jahrestagung der DGK im Jahr 2017 wurde erwähnt, dass die Gesellschaft den vormaligen Rudolf-Thauer-Posterpreis zwischenzeitlich in „Posterpreis“ umbenannt hatte.80

Eine sogar mehrfache De-Personalisierung von Preisbenennungen führte die Deutsche Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie durch. Sie hatte Preise vergeben, die nach Alois Kornmüller (1905–1968), Richard Jung (1911–1986) und Hans Berger (1873–1941) benannt waren. Im Jahr 2021 entschied sie, überhaupt keine namensgebundenen Preise mehr zu verleihen.81 Allein das Risiko, dass der Namensgeber eines Preises unmoralische Humanversuche durchgeführt haben könnten (Kornmüller: EEG bei „Epilepsie und Schizophrenie“, Jung: EEG nach Elektroschock), fiel in letzter Zeit – neben dem auch weiterhin wichtigen expliziten Nachweis einer Mitgliedschaft in einschlägigen NS-Organisationen (Kornmüller, Jung) oder einem Erbgesundheitsgericht (Berger) – bei Umbenennungen anscheinend zusätzlich ins Gewicht.82

Auch der Fachverband Medizingeschichte beschloss 2018 nach einer Diskussion, den in diesem Jahr neueingeführten Förderpreis nicht nach dem langjährigen, verdienten und sehr geschätzten Mitglied Gerhard Baader (1928–2020) zu benennen, sondern den Preis mit keiner Person zu verknüpfen.83 Bei Baader, der selbst in der Zeit des Nationalsozialismus Verfolgung erlebte, war eine „NS-Belastung“ ausgeschlossen. Aber auch unter diesen Umständen sollte der Preis nicht nach einer Person benannt werden.

Neben dem Streichen des (meist männlichen) Personennamens aus einem langetablierten Wissenschaftspreis ist jüngst auch der Trend auszumachen, Preise mit den Namen von Ärztinnen und Wissenschaftlerinnen zu verknüpfen. Das Andenken an Dora Teleky, nach der seit 2019 ein Preis der Deutschen Gesellschaft für Urologie (DGU) benannt ist, profitierte in den letzten Jahren von einer Konjunktur des Erinnerns an Pionierinnen in der Medizin. Diese ursprünglich aus der Frauenforschung der 1960er Jahre stammende, an feministische Ziele anknüpfende84 und im Zuge einer gesellschaftlichen und universitären Gleichstellungsdebatte fortgetragene Entwicklung läuft der androzentrischen Perspektive einer auf hegemonialen Strukturen basierenden fachkulturellen Erinnerung zuwider. Diese Entwicklung ist von dem Gedanken getragen, dass Geistigkeit kein Privileg der Männer ist.85 Damit soll der Diskriminierung von Frauen in Gesellschaft und Wissenschaft sowie ihrer Unterrepräsentation in der Geschichtsschreibung, dem sogenannten und an späterer Stelle noch näherer zu beschreibenden Matilda-Effekt, entgegengewirkt werden.

Auf der Webseite der DGU wird die seit 1930 mit dem Physiologen Ernst von Brücke (1880–1941) verheiratete Teleky wie folgt vorgestellt:

Der Preis erinnert an die jüdische Wiener Urologin Dora Brücke-Teleky (1879–1963), die 1911 als erste Frau Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Urologie wurde […]. Sie führte eine gynäko-urologische Praxis in Wien, war als erste Schulärztin für gewerbliche Mädchen-Fortbildungsschulen tätig und ab 1919 Leiterin der Schwangerenfürsorgestelle. Dora Brücke-Teleky gründete 1919 die Organisation ‚Ärztinnen Wiens‘ und engagierte sich als korrespondierende Sekretärin des ‚Internationalen Ärztinnenverbandes‘. Im August 1939 wurde sie als jüdisch klassifiziert und gezwungen zu emigrieren.

Teleky hatte sich 1899 an der Universität Wien immatrikuliert. Als Frauen im Jahr darauf auch zum Medizinstudium zugelassen werden konnten, wechselte sie an die Medizinische Fakultät, wo sie 1904 als eine der ersten fünf Frauen das Studium abschloss. 1911 trat sie der DGU bei, die zu dieser Zeit eine deutsch-österreichische Gesellschaft mit jeweils zwei Präsident:innen und wechselnden Tagungsorten zwischen Wien und Berlin war.86 Seit dem „Anschluss“ Österreichs (März 1938) wurde Teleky, die zum Beginn ihres Studiums vom Judentum zum evangelischen Glauben übergetreten war, als „jüdisch“ klassifiziert und erlebte in der Folge Verfolgung und Vertreibung. Gemeinsam mit ihrem Ehemann emigrierte die Sechzigjährige im August 1939 in die USA, wo sie ein Jahr darauf eine – an aus Europa geflüchtete Personen nur selten vergebene – Zulassung als Gynäkologin erhielt. Nach dem Tod des Ehemannes und dem Ende des Krieges ging sie in die Schweiz, wo sie 1963 verstarb.

Seit den 2000er Jahren wird Dora Teleky als eine Pionierin des Frauenstudiums und frühe Ärztin in Wien erinnert.87 In den 2010er Jahren rückten daneben auch ihre Rollen als frühe Urologin – vor der Schaffung eines Facharztes für Urologie in Deutschland 1924 – sowie als im NS-Verfolgte in den Fokus des Forschungsinteresses.

Der Dora-Teleky-Preis richtet sich folglich an weibliche Urologinnen „mit herausragender Forschungsleistung aus Klinik oder Praxis“. Die Einrichtung des Preises 2019 kann als Initiative verstanden werden, mehr Frauen für das Fach Urologie und die urologische Forschung zu gewinnen. Auf Basis der Statistik der Bundesärztekammer lässt sich erkennen, dass Frauen dort unverändert deutlich unterrepräsentiert sind: Ende 2020 gab es in Deutschland 6.347 niedergelassene Urolog:innen, darunter 1.270 Frauen. Diesem Anteil von 20 Prozent in der Urologie stand ein Frauenanteil von 48 Prozent in der gesamten deutschen Medizin gegenüber. Bei den neuzugelassenen Fachärzten lag der Anteil von Frauen in der Urologie in den letzten Jahren (2018–2020) dagegen bei etwa 37 Prozent und war damit niedriger als ihr durchschnittlicher Anteil über alle medizinischen Fächer hinweg (55 Prozent).88 Der Dora-Teleky-Preis kann also als eine Frauenfördermaßnahme und gleichzeitig als ein Werbeinstrument der Fachgesellschaft im Konkurrenzkampf um Ärzt:innen in einer überwiegend weiblich geprägten Medizin verstanden werden.

Mit der jährlichen Ausschreibung und Vergabe des Preises besteht überdies das Potential, dass Teleky über das kulturelle Gedächtnis der Medizin – insbesondere als frühe Wiener Ärztin und frühe Urologin – hinaus auch Teil des sozialen Gedächtnisses der Deutschen Urologie wird, wenn ihr Name von nun an vermehrt in der Zeitschrift, auf der Webseite und auf den Kongressen der DGU genannt wird.

Zu einer idealen Namensgeberin für den Preis aus Sicht der Gesellschaft mag sie ferner gemacht haben, dass mit ihr gleichzeitig an eine verfolgte jüdische Urologin erinnert wird. In der Deutschen Gesellschaft für Urologie, deren Mitglieder vor 1933 zu mehr als einem Drittel jüdischen Glaubens oder jüdischer Herkunft waren, ist dies im letzten Jahrzehnt zu einem weiteren wichtigen Baustein der fachkulturellen Erinnerung geworden.89

Wie kann eine Fachgesellschaft oder Kammer mit Namensgebern umgehen, die in der NS-Zeit zwar nicht in schwerste Verbrechen verstickt waren, aber unter moderatem Druck zu Mitläufern wurden? Ein aktuelles Beispiel ist der Zahnarzt, Arzt und Hochschullehrer Karl Häupl, der 1957/58 Rektor der Medizinischen Akademie in Düsseldorf war. Nach ihm ist das Karl-Häupl-Institut in Neuss – das Fortbildungsinstitut der Zahnärztekammer Nordrhein – benannt. Am Fall Häupl lassen sich exemplarisch NS-Belastung, NS-Mitgliedschaften und „Kollaborationszwang“ aufzeigen, Fragen, die in der deutschen Medizin anhaltend diskutiert werden.

Karl Häupl studierte zunächst in Innsbruck Medizin.90 Im Anschluss an den Studienabschluss 1919 wurde er Assistent an der dortigen Universitätszahnklinik. Im Jahr darauf ging Häupl nach Norwegen, wo er 1924 an der Königlichen Zahnärztlichen Hochschule in Oslo die zahnärztliche Prüfung ablegte. 1925 habilitierte er sich dort;911931 folgte die Ernennung zum „beamteten Professor für Allgemeine und spezielle Pathologie der Zähne und des Kiefers“.92

1934 wurde Häupl Leiter der Klinik für Zahn- und Kieferkrankheiten an der Deutschen Universität Prag. Wie im Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin überlieferte Dokumente zeigen, geriet er dort ab 1938 nach der deutschen Besetzung des Sudetenlandes, zu dem auch Prag gehörte, zunächst in Bedrängnis: Aus der Prager Personalakte, die später mit Häupl nach Berlin umzog, geht hervor, dass dieser im Mai 1939 beim Kultusministerium in Berlin darum ersuchte, eine Professur in Oslo annehmen zu dürfen.93 Eine Rolle mag dabei gespielt haben, dass Häupl seit 1930 mit der Norwegerin Karen Hangsöen verheiratet war, mit der er zwei Kinder hatte.94 Ein Gutachten des „Sicherheitsdienstes beim Reichsführer SS“ kam im Dezember 1939 zu den Erkenntnissen, dass Häupl „in Fachlicher Hinsicht“ zwar „sehr positiv“ beurteilt werde, dass ihm „[i]nfolge seines langjährigen Aufenthalts in Ausland“ aber „das Wesen des Nationalsozialismus völlig fremd gewesen und geblieben“ sei. Der Bericht fährt fort: „Ebenso war er in der Judenfrage durchaus liberal eingestellt. Er hatte beispielsweise in seiner Klink sehr viele jüdische Ärzte beschäftigt und sah sich in keiner Weise veranlasst, diesen Umstand zu ändern.“ Auch an Häupls Privatleben übte der Bericht Kritik. So habe er in einer Anzeige seine Anschrift mit „Praha“ angekündigt, wollte ein „Kindermädchen mit französischen Kenntnissen“ einstellen und „[i]n seinem Hause wird nur norwegisch gesprochen“.95 In der Folge empfahl der Gaudozentenführer und Professor für Chemie Konrad Bernhauer (1900–1975), Häupl an eine Hochschule im „Altreich“ zu versetzen, wo es in „politisch gesicherter Umgebung“ denkbar wäre, dass Häupl sich „schadlos seiner Wissenschaft widmen könnte“, während er den „Prager Verhältnissen vor allem politisch verständnislos wie ein Säugling gegenübersteht“.96

Bedroht von einer Strafversetzung und – als weiteren Eskalationsschritt – offenbar kurzfristig von der Zahlungsliste der Medizinischen Fakultät gestrichen, wandte sich Häupl im Februar 1940 an einen Ministerialrat im Bereich des „Reichsprotektors für Böhmen und Mähren“. Häupl wies in seinem Schreiben darauf hin, dass doch auch der Stadtkommandant von Prag mit einer norwegischen Frau und der Feldmarschall Göring in erster Ehe mit einer Schwedin verheiratet gewesen seien; seine Töchter würden „deutsch erzogen“. Zum – damals schwerwiegenden – Vorwurf der Liberalität bemerkte Häupl: „Natürlich kam ich als Kliniker, wie dies bei den in Prag herrschenden Verhältnissen nicht anders möglich war, mit Juden in Berührung. Ich habe aber das jüdische Personal der Klinik bis auf eine Hilfsschwester durch Arier ersetzt.“97 Noch Ende des gleichen Monats kamen der Rektor und der Dekan der Medizinischen Fakultät Häupl zur Hilfe. Gegenüber dem Reichsprotektor betonten sie seine politische Zuverlässigkeit und priesen ihn als „Fachmann ersten Ranges“.981943 wurde Häupl – auf persönlichen Befehl Hermann Görings, wie Dominik Groß gezeigt hat – auf eine Professur an der Berliner Universität berufen,99 was dafür spricht, dass Häupl mittlerweile nicht mehr als politisch unzuverlässig galt.

Im Rahmen eines Aufarbeitungsprojektes der Bundeszahnärztekammer, der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung und der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde wurde 2020 eine Liste von Preisen und Institutionen der organisierten Zahnärzteschaft veröffentlicht, die nach Personen benannt sind, die Mitglieder nationalsozialistischer Organisationen waren – darunter Karl Häupl.100 Er hatte am 19. April 1939 – also nach Besetzung des Sudetenlandes – die Aufnahme in die NSDAP beantragt.101 Bei seiner Berufung nach Innsbruck gab er dazu nach Kriegsende 1945 an, er habe diese Mitgliedschaft auf Drängen des Gaudozentenführers und unter der Drohung angestrebt, andernfalls nicht in den Reichsdienst als Professor in Prag übernommen zu werden. „Einige Zeit später – […] oder schon 1941“, so berichtete Häupl 1945, sei ihm seine Parteinummer mitgeteilt worden, die jenseits der 9.000.000 gelegen habe. Aus der Parteikanzlei geht hervor, dass die Aufnahme rückwirkend zum 1. April 1939 erfolgte und er tatsächlich die Nummer 7.187.557 erhielt. Häupls Aussage, er habe seit seinem Umzug 1943 keine Mitgliedsbeiträge der Partei mehr gezahlt und sich auch sonst bei „keiner Ortsgruppe oder sonstigen Dienststelle der Partei“ gemeldet, kann nicht überprüft werden. Seine Angabe, er sei durch sechsmonatige Nichtzahlung der Beiträge formal aus der Partei auszuschließen gewesen und folglich im „Volkssturm“ als Nicht-Parteimitglied geführt worden, erscheint exkulpierend.102

Im Fall Häupls stellt sich die Frage nach seiner NS-Belastung komplexer dar als in anderen Fällen. Weder durch seine Forschung noch durch seine ärztliche Praxis stand er der nationalsozialistischen Ideologie nahe. Auf Basis von Akten ist erwiesen, dass er ab 1939 in Prag selbst unter Druck geriet und seine Stellung als Professor an der Deutschen Universität bedroht war. Nachdem eine Auswanderung nach Norwegen nicht genehmigt wurde, ließ sich Häupl auf das NS-System rhetorisch und bürokratisch ein. Ein wichtiger Punkt ist dabei die Entlassung seiner jüdischen Mitarbeiter. Seine Berufung in Berlin 1943 erfolgte wohl vor allem aus fachlichen Gründen, auch wenn Göring sich für Häupl einsetzte. Seine Staats- und Parteitreue stand zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Frage.

Häupl setzte seine Karriere nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgreich fort. Noch 1945 wurde er auf eine Professur an die Universität Innsbruck berufen, 1951 an die Medizinische Akademie Düsseldorf, wo er neben einer Professur für Mund-, Kiefer- und Zahnheilkunde im Jahr 1957 auch das jährlich wechselnde Rektorenamt ausfüllte. Er starb 1960 auf einer Vortragsreise in Basel.

Insgesamt stellt sich die Frage, ob eine Person, die sich in der NS-Zeit zwar einerseits nicht an spezifischen Medizinverbrechen beteiligte, andererseits aber unter moderatem Druck bereit war, sich dem NS-System anzupassen, in einem demokratischen Rechtsstaat als (zahn-)ärztliche Identifikationsfigur dienen kann. Die Antwort auf die Frage, ob etwa eine erst nach 1933 beantragte (also mutmaßlich vor allem opportunistische) NSDAP-Mitgliedschaft allein als Kriterium ausreicht, um als Namensgeber auszuscheiden, scheint zur Zeit offener als noch in den frühen 2000er Jahren.103 Entscheidender scheint bei der Bewertung Häupls sein Umgang mit seinen jüdischen Mitarbeitern in Prag. Zur Zeit der Drucklegung dieses Beitrags bedenkt die Zahnärztekammer Nordrhein eine Umbenennung des oben genannten Karl-Häupl-Instituts; dabei hat sie auch regionale medizinhistorische Institute um Einschätzungen gebeten.

Ein weiteres Kriterium dafür, wer wann Namensgeber:in eines wissenschaftlichen Preises wird, ist das Geschlecht des Namensgebers – oder eben der Namensgeberin –, der (oder die) bei der Auswahl des Namens herausgehoben wird. Dabei sind Frauen unterrepräsentiert. Um die allgemeine Nichtbeachtung der Arbeiten und Leistungen von Frauen in der Wissenschaft zu benennen, prägte die Wissenschaftshistorikerin Margaret Rossiter mit dem sogenannten „Matilda-Effekt“ im Jahr 1993 einen Begriff, der sich als Kontrast zu dem damals aus der Soziologie bereits bekannten „Matthäus-Effekt“104 versteht: Betroffen seien vom Matilda-Effekt Frauen, die trotz gleicher Leistung entweder übersehen, unsichtbar gemacht oder vergessen würden.105

Im Sinne des Matilda-Effekts könnte die Erinnerung an Frauen, die in ihrer aktiven Zeit immerhin einigen Erfolg hatten, in der späteren Retrospektive noch weiter geschmälert werden. Welche Regeln gelten speziell für Frauen, um erfolgreich erinnert zu werden und Einzug in ein fachkulturelles Gedächtnis zu halten? Dieser Frage soll anhand einer (Hochschul-)Wissenschaftlerin nachgegangen werden.

Ausgewählt wurde die ehemalige Heidelberger Professorin für Zahnheilkunde Elsbeth von Schnizer,106 die ihr Potential als weibliche Identifikationsfigur der deutschen Zahnmedizin nicht ausschöpfen konnte. Während die fachkulturelle Erinnerung an die erste in Deutschland habilitierte Zahnärztin, Maria Schug-Kösters (1900–1975), seit jeher durch Laudationes und Nachrufe hochgehalten wird, schaffte es die gleichaltrige von Schnizer,107 die nur kurze Zeit nach Schug-Kösters als zweite Frau in Deutschland (und als erste an der Universität in Heidelberg) eine Lehrbefugnis für Zahnheilkunde erlangte (Juli 1932), nicht, in das fachkulturelle Gedächtnis der Zahnheilkunde aufgenommen zu werden.108 Genügte der deutschen Zahnmedizin etwa eine einzige weibliche Identifikationsfigur – oder könnten auch andere Aspekte das Vergessen von Schnizers bedingt haben?

Von Schnizer galt in Fachkreisen als „außerordentlich befähigte Vertreterin“ ihres „Sonderfaches“.109 Ihr Renommee war sogar so groß, dass der führende deutsche Kieferorthopäde der Nachkriegszeit, der Bonner Direktor der Universitäts-Zahn-, Mund- und Kieferklinik Gustav Korkhaus (1895–1978),110 noch im Jahr 1946 folgendes über Elsbeth von Schnizer schrieb:

Seit dem Jahre 1924 bis in die letzte Zeit hinein hat sie eine grosse [sic] Reihe wissenschaftlicher Arbeiten verfertigt, die durch Klarheit der Problemstellung und geschickte, nie trockene Formulierungen auffallen. Die Arbeiten sind im Besonderen der Kieferorthopädie und der Prothetik gewidmet, die als ihre Hauptarbeitsgebiete anzusehen sind. Im Rahmen der Kieferorthopädischen Fortbildung der deutschen Zahnärzte nahm Frau von Schnizer bald eine führende Stellung ein.111

Darüber hinaus zeigte sie sich in der Betreuung von Promovenden sehr aktiv; bis 1943 entstanden unter ihrer Anleitung 47 Dissertationen.112 Von Schnizer hatte deshalb durchaus das Potential, als eine Pionierin des deutschen Frauenstudiums, frühe Professorin für Zahnmedizin und herausragende weibliche Vertreterin ihres Fachs erinnert zu werden – analog zu ihrer Münchener Kollegin Maria Schug-Kösters.

Doch trotz Schülerschaft, fachlichem Renommee, bestehender wissenschaftlicher Netzwerke, standespolitischer Verdienste, und obwohl sie „in den 1950er- und 60er- Jahren – wiederum als einzige Frau – dem sechsköpfigen, Fachzahnarztausschuss‘ [angehörte], der über die Anerkennung als Fachzahnarzt für Kieferorthopädie wachte“,113 konnte die Heidelbergerin ihr Potential als Identifikationsfigur nicht ausschöpfen. Als fachkulturell erstmals wieder im Jahr 2020 im Kontext eines regionalhistorischen Beitrages über die Entwicklung der universitären Zahnmedizin in Heidelberg an sie erinnert wurde, betonte der ehemalige Direktor der Poliklinik für Zahnerhaltungskunde am Universitätsklinikum Heidelberg Hans Jörg Staehle in einer jüngeren Betrachtung von Erfolgen und Misserfolgen der Zahnmedizin vor allem Elsbeth von Schnizers Verstrickungen während der NS-Zeit.114 So hatte sie als Leiterin der „Ortsfrauenschaft Heidelberg-Neuenheim“ entscheidend dazu beigetragen, die Erziehung und medizinische Aufklärung der Bevölkerung im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie voranzutreiben. Kritisch hervorgehoben wurde ihre politische Einstellung, welche sich sowohl in zehn Mitgliedschaften in NS-Organisationen (darunter seit 1933 in der NSDAP) sowie in ihrer Selbstwahrnehmung als „biologische Soldatin“115 der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ niederschlug – ein Paradoxon, wenn man bedenkt, dass sie selbst einmal Trägerin einer Lippenspalte gewesen war, die man bereits im ersten Lebensjahr chirurgisch korrigiert hatte.116

Im Gegensatz jedoch zu einigen ihrer männlichen Kollegen, die sich dem NS-Regime angedient hatten,117 gelang es von Schnizer nicht, ihre hochschulpolitische Karriere über das Kriegsende hinaus weiterzuführen. Im Rahmen des Entnazifizierungsverfahrens war sie zunächst als Belastete in Klasse II (I wären Hauptschuldige), dann aber durch Beibringung einer Reihe günstiger Zeugnisse als Mitläuferin in Klasse IV (V wären Entlastete) eingeordnet worden und galt somit als entnazifiziert.118 Dennoch hatte sie in der Nachkriegszeit große Mühe, überhaupt wieder als praktische Zahnärztin zugelassen zu werden.119 Dies gelang ihr nach eigenen Aussagen erst durch die Unterstützung von Walter Knott (1889–1981), dem späteren Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Zahnärzte, aus dem 1993 die Bundeszahnärztekammer hervorging.120 Zumindest ihren Professorinnentitel konnte von Schnizer dann als niedergelassene Zahnärztin weiterführen.

Die Sanktionen gegen von Schnizer fallen im Vergleich zu anderen Protagonisten der NS-Zahnmedizin relativ hart aus.121 Besonders im Vergleich zu einem Heidelberger Kollegen in recht ähnlicher Position fällt das Nicht-Erinnern an von Schnizer auf: dem apl. Professor Gerhard Weißenfels (1890–1952), der bereits 1929 Mitglied der NSDAP und der SA geworden war und ebenfalls zum Kreis der zahnärztlichen Hochschullehrer gehörte, die sich 1933 „in einer Entschließung zur ‚Einheitsfront der Zahnärzte‘ [zur] ‚völlige[n] Anerkennung einer einheitlichen Führung und des Autoritätsprinzips‘ bekannten“.122 In einem Band zur Geschichte der Universität Heidelberg im Nationalsozialismus taucht Weißenfels jedoch nur als Interimsdirektor der Heidelberger Zahnklinik in den Jahren 1934/35 auf, der sich besonders bei den Studenten großer Beliebtheit erfreute und in der Folge „bis zu seinem Tod im Jahre 1952 eine Privatpraxis in Heidelberg“ führte.123 Sein politisches Engagement und die Gründe für das Ausscheiden aus der Universität werden nicht thematisiert. Von Schnizer kommt in dem Band erst gar nicht vor.

Hieraus lässt sich, der These von Groß und Nebe folgend,124 schließen, dass vor dem Hintergrund ihres weiblichen Geschlechts von Schnizers NS-Belastung in der Nachkriegszeit als schwerwiegender angesehen wurde, als bei vergleichbaren männlichen Kollegen.

Während eine bloße NSDAP-Mitgliedschaft bei Männern bis kurz vor der deutschen Wiedervereinigung kaum ein Ausschlusskriterium war, könnte genau dies bei Frauen schon lange zuvor der Fall gewesen sein. Elsbeth von Schnizers NSDAP-Mitgliedschaft erscheint als der entscheidende Grund, warum sie neben Maria Schug-Kösters nicht noch als zweite Frau in die fachkulturelle Erinnerung der Zahnmedizin aufgenommen wurde; beide Frauen hatten sich gleichermaßen habilitiert und beide hatten in ähnlichem Umfang publiziert.125 Eine Frau unter allen Identifikationsfiguren im zahnmedizinischen Fachbereich war offensichtlich ausreichend. Es bedarf historischer Forschung anhand weiterer Beispiele, um herauszufinden, ob solche offenbar zusätzlich an Frauen gestellten Anforderungen beliebig sein konnten – nur um Aspirantinnen zu disqualifizieren –, oder ob speziell die NSDAP-Mitgliedschaft einer Frau eine besondere Relevanz in der Erinnerungskultur hat(te), also anders gewertet wurde als die eines Mannes.

Insgesamt zeigen sich folgende Trends bezüglich der Frage, welche Personen als Identifikationsfiguren dienen können, um einen Preis oder eine Institution zu benennen:

Forscher:innen, die sich in NS-Institutionen besonders lautstark hervorgetan oder sich direkt an Patientenmorden bzw. Humanexperimenten in Konzentrationslagern beteiligt hatten, gehörten – wie in der Einleitung erwähnt – zu einer Gruppe von rund 350 Haupttäter:innen, auf die in den ersten Nachkriegsjahrzehnten die Gesamtschuld der NS-Medizinverbrechen abgewälzt werden sollte – und die deshalb nie als Identifikationsfiguren in Frage kamen. Eindeutig schwerbelastete Mediziner:innen und Lebenswissenschaftler:innen waren in den vorgestellten Drittmittelprojekten nur als Mitglieder oder einstige Funktionsträger der Gesellschaften und Institutionen zu untersuchen; dagegen waren nach solchen Ärzt:innen ohnehin keine Preise oder Institutionen benannt.

Solche Benennungen sind folglich (wenn überhaupt) nach nur mäßig durch NS-Mitgliedschaften und einschlägige Medizinversuche belasteten Personen bekannt. So konnte etwa Hans Nachtsheim 1979 als Pionier für die Fachentwicklung der Humangenetik in der Bundesrepublik gelten und zum Namensgeber eines Preises der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie und Humangenetik werden. Personen, die seit der deutschen Wiedervereinigung in historischen Projekten untersucht wurden, finden sich allerdings häufig in einer Grauzone. Die bloße Zahl von Mitgliedschaften in NS-Organisationen etwa kann kein Maßstab zur Beurteilung sein, da manche Fachvertreter:innen stärker als andere ihre Loyalität zu NS-Deutschland beweisen mussten (möglicherweise Alois Kornmüller126). Weiter ist der Trend auszumachen, dass einer Beteiligung an jeglichen unmoralischen Menschenversuchen in den letzten Jahren eine stetig wachsende Bedeutung beigemessen wird. Anscheinend gilt für eine mögliche Beteiligung mittlerweile eine Beweisumkehr.127 Das Wissen um und die Bereitschaft zur Durchführung von Humanexperimenten im Nationalsozialismus wird heute überhaupt sehr kritisch beurteilt, falls diese Versuche nicht den 1931 in Deutschland etablierten Standards zur Forschung am Menschen genügten.128 Allerdings sind uns – abseits von Nachtsheim – kaum Beispiele bekannt, bei denen neben der Beteiligung an Versuchen an nicht einwilligungsfähigen Personen nicht gleichzeitig einschlägige NS-Mitgliedschaften dokumentiert wären, so dass unklar bleiben muss, was in den entscheidenden Gremien innerhalb der medizinischen Institutionen den Ausschlag zur Umbenennung gab.

Wird ein Preis zur Würdigung einer wissenschaftlichen Leistung umbenannt, stellt sich die Folgefrage, ob er mit einer anderen Person verbunden werden oder in Zukunft keinen Personennamen tragen soll. So scheint es, dass Fachgesellschaften sich von der eponymen Benennung von Preisen distanzieren: Sie werden heute bei der Umbenennung häufig de-personalisiert. Wie erwähnt, ist der Name Rudolf Thauer aus der Benennung des Posterpreises der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie ausgeschieden; die Deutsche Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie beschloss weitergehend, überhaupt keine namensgebundenen Preise mehr zu verleihen.

Allerdings steht eine De-Personalisierung von Preisen dem Wunsch einer Benennung von mehr Preisen nach Frauen entgegen. Sie sind in der europäischen Wissenschaftsstruktur historisch unterrepräsentiert, Pionierinnen sind aus der Erinnerung verdrängt worden. Ähnliches gilt übrigens auch für alle Emigrant:innen der NS-Zeit. Auch dies wird seit einigen Jahren korrigiert. Gleichzeitig ist nämlich das Verständnis dafür gewachsen, dass NS-Verfolgte, die emigrieren mussten, als Namensgeber:innen in der alten BRD ebenfalls übergangen wurden.129 Peter Voswinkel hat für dieses Phänomen den bereits aus dem antiken Rom bekannten Begriff der „Damnatio memoriae“ – das Auslöschen des Andenkens – in die Medizingeschichte eingeführt.130 Um dem entgegenzuwirken, werden teils gezielt Mitglieder solcher verfolgten Gruppen131 wieder in die „Geschichte zurückgeschrieben“.132 Als Ärztin, die infolge der Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich aus Wien fliehen musste, kann die oben thematisierte Dora Teleky in diese Kategorie gezählt werden. Auch als Pionierin des Frauenstudiums und als frühes weibliches Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Urologie schien Teleky besonders als Identifikationsfigur geeignet – gerade vor dem Hintergrund des heute zunehmend weiblich geprägten Absolventenprofils in den Medizinstudiengängen.

Dass aber allein die Rolle als Pionierin nicht ausreicht, zeigt das Beispiel von Elsbeth von Schnizer. Obwohl sie sich als zweite Frau in Deutschland für Zahnmedizin habilitiert hatte, wurde sie nicht in den Kanon der fachkulturellen Erinnerung aufgenommen. Wäre dies anders gekommen, dann würde – wegen ihrer NSDAP-Mitgliedschaft – heute ein Von-Schnizer-Preis wohl wieder umbenannt werden – ebenso wie bei entsprechenden männlichen Kollegen.

Noch wichtiger als die Mitgliedschaft in NS-Organisationen sollte zukünftig bei der Beurteilung von in der NS-Zeit aktiven Mediziner:innen und Lebenswissenschaftler:innen jedoch die Frage sein, ob sie sich an der Entrechtung von Fachkollegen beteiligten, die aus rassistischen oder politischen Gründen verfolgt wurden – so wie Karl Häupl es in Prag tat. Am wichtigsten für die Frage danach, ob eine Vorbildrolle ausgefüllt werden kann, scheint uns jedoch das Handeln in Forschung oder Klinik. Hier stellen etwa die Beteiligung an Menschenversuchen ohne Einwilligung der Versuchspersonen, an rassistischer Forschung, an Patientenmorden und an Zwangssterilisationen wichtige Kriterien dar.

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期刊介绍: Die Geschichte der Wissenschaften ist in erster Linie eine Geschichte der Ideen und Entdeckungen, oft genug aber auch der Moden, Irrtümer und Missverständnisse. Sie hängt eng mit der Entwicklung kultureller und zivilisatorischer Leistungen zusammen und bleibt von der politischen Geschichte keineswegs unberührt.
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