{"title":"Nachwort / Postface","authors":"G. Krumeich","doi":"10.2478/sck-2021-0012","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Der Erste Weltkrieg hat Wunden geschlagen und Narben hinterlassen, die noch heute sichtbar sind – etwa auf dem Schlachtfeld von Verdun – und nach wie vor in weiten Teilen der Welt als schmerzhaft empfunden werden. Die Wunden des Krieges waren zunächst und in erster Linie die unermesslich vielen Toten. Heute gehen wir von mindestens 10 Millionen gefallener, also im Kriege umgekommener, Soldaten aus. Allein für die deutsche Seite haben die Schlachten in Ost und West mehr als 2 Millionen Tote zurückgelassen und mehr als 4 Millionen z.T. entsetzlich Verwundete. Von diesem Desaster zeugen als Narben in der Landschaft die unzähligen Soldatenfriedhöfe in aller Welt. Die vielleicht eindrücklichsten traumatisch intensiven Bilder unter ihnen im Bereich der Westfront habe ich gemeinsam mit Stéphane Audoin-Rouzeau und Jean Richardot vor einigen Jahren unter dem Namen Cicatrices (2008) veröffentlicht.1 Aber jenseits der Toten und ihrer Ruhebzw. Gedenkstätten gab es andere noch offene Wunden und weiter wuchernde Narben. Die Welt nach 1918 war voll mit Männern, die ein Bein, einen Arm oder auch beide Beine und Arme verloren, wenn sie nicht sogar Teile des Gesichts oder das ganze Gesicht eingebüßt hatten. Schrecklichste literarische Verarbeitung ist für mich nach wie vor das Süß und ehrenvoll (1962)2 von Dalton Trumbo, dicht gefolgt von Ernst Friedrichs Krieg dem Kriege von 1924, der zum ersten Mal für ein breites Publikum die zerfetzten Gesichter mit einem für uns ganz unerträglich gewordenen ironischen Kommentar veröffentlichte.3 Die menschlichste und am ehesten lesbare Variante der Geschichte der gueules cassées ist heute die Offizierskammer (Dugain 2000). Lange, viel zu lange haben sich Geschichtsschreibung und die anderen Kulturwissenschaften nicht um diese Welt gekümmert oder sie, wie Theweleits vielleicht zu berühmte Männerphantasien (1980), abgewertet oder verächtlich gemacht. So konnte es geschehen, dass die wohl beste geschichtswissenschaftliche Darstellung der deutschen Gesellschaft im Ersten Weltkrieg, nämlich Jürgen Kockas Klassengesellschaft im Krieg (1973) vollständig ohne Tote und Verwundete auskam. Nichts, aber auch gar nichts war in","PeriodicalId":179609,"journal":{"name":"SYMPOSIUM CULTURE@KULTUR","volume":null,"pages":null},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"2021-07-06","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"SYMPOSIUM CULTURE@KULTUR","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.2478/sck-2021-0012","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"","JCRName":"","Score":null,"Total":0}
Der Erste Weltkrieg hat Wunden geschlagen und Narben hinterlassen, die noch heute sichtbar sind – etwa auf dem Schlachtfeld von Verdun – und nach wie vor in weiten Teilen der Welt als schmerzhaft empfunden werden. Die Wunden des Krieges waren zunächst und in erster Linie die unermesslich vielen Toten. Heute gehen wir von mindestens 10 Millionen gefallener, also im Kriege umgekommener, Soldaten aus. Allein für die deutsche Seite haben die Schlachten in Ost und West mehr als 2 Millionen Tote zurückgelassen und mehr als 4 Millionen z.T. entsetzlich Verwundete. Von diesem Desaster zeugen als Narben in der Landschaft die unzähligen Soldatenfriedhöfe in aller Welt. Die vielleicht eindrücklichsten traumatisch intensiven Bilder unter ihnen im Bereich der Westfront habe ich gemeinsam mit Stéphane Audoin-Rouzeau und Jean Richardot vor einigen Jahren unter dem Namen Cicatrices (2008) veröffentlicht.1 Aber jenseits der Toten und ihrer Ruhebzw. Gedenkstätten gab es andere noch offene Wunden und weiter wuchernde Narben. Die Welt nach 1918 war voll mit Männern, die ein Bein, einen Arm oder auch beide Beine und Arme verloren, wenn sie nicht sogar Teile des Gesichts oder das ganze Gesicht eingebüßt hatten. Schrecklichste literarische Verarbeitung ist für mich nach wie vor das Süß und ehrenvoll (1962)2 von Dalton Trumbo, dicht gefolgt von Ernst Friedrichs Krieg dem Kriege von 1924, der zum ersten Mal für ein breites Publikum die zerfetzten Gesichter mit einem für uns ganz unerträglich gewordenen ironischen Kommentar veröffentlichte.3 Die menschlichste und am ehesten lesbare Variante der Geschichte der gueules cassées ist heute die Offizierskammer (Dugain 2000). Lange, viel zu lange haben sich Geschichtsschreibung und die anderen Kulturwissenschaften nicht um diese Welt gekümmert oder sie, wie Theweleits vielleicht zu berühmte Männerphantasien (1980), abgewertet oder verächtlich gemacht. So konnte es geschehen, dass die wohl beste geschichtswissenschaftliche Darstellung der deutschen Gesellschaft im Ersten Weltkrieg, nämlich Jürgen Kockas Klassengesellschaft im Krieg (1973) vollständig ohne Tote und Verwundete auskam. Nichts, aber auch gar nichts war in