控制丧失还是解放,(a)是社交训练还是“道德训练”?是在虚拟社会里的一群人

R. Erlinger, Marc Ziegele
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Umgekehrt befinden wir uns in einer Gesprächsgesellschaft, in der die einen mit der digitalen Publikationsfreiheit sorgfältig umgehen, sich für Fragen des Sollens und des guten Lebens interessieren und sich darin schulen, andere aber mit vielerlei Inzivilität aufwarten. Dies zeigt ein Dilemma der Gesprächsgesellschaft, die ein (a)soziales Publikum generieren kann. Diesen Bandbreiten widmen sich die folgenden Interviews. Der Arzt, Jurist und Publizist Rainer Erlinger1 setzt sich seit zwei Jahrzehnten mit Gewissensfragen und Moral im Alltag auseinander – als Kolumnist, Vortragsredner und Gesprächspartner. Hier steht er Rede und Antwort zu seinen Erfahrungen mit dem „geschulten Publikum“. Marc Ziegele2 (2016a, 2016b, 2018) forscht unter anderem über Diskussionskultur im Internet. Darauf stützt er seine Einschätzungen zum (a)sozialen Publikum. (Interviewführung: Marlis Prinzing) 1 Rainer Erlinger beschäftigt sich aus den Blickwinkeln seiner drei Berufe mit dem Thema Verantwortung und daran geknüpften ethischen Fragen rund um Wahrheit und Lüge (vgl. u.a. Erlinger 2019). Als Jurist fokussiert er den Bereich des Verbots, als Publizist und Autor den des Gebots und schult sein Publikum in ethischen Abwägungen, z.B. von 2002-2018 in seiner Kolumne „Gewissensfrage“ im SZ-Magazin sowie in der WDR-Sendung richtig leben?! 2 Marc Ziegele ist seit 2018 Junior-Professor für politische Online-Kommunikation an der Universität Düsseldorf. Vor seiner Hochschullaufbahn war er Onlineredakteur beim Südwestrundfunk. Er forscht unter anderem über „Digitale Gesellschaft“, Demokratiekultur, Medienvertrauen und die Diskussionskultur im Internet. 263 https://doi.org/10.5771/9783748905158-261 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 12.12.2020, 05:02:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Rainer Erlinger – Das geschulte Publikum. Marlis Prinzing: Sie sind Publizist, Arzt und Jurist. Herr Erlinger. Wie haben diese Welten in einer Person zusammengefunden? Rainer Erlinger: Ich habe bereits die Schülerzeitung herausgegeben. Der Klassiker! Das Schreiben lag mir also nahe. Und mich haben Medizin und Jura interessiert. Also habe ich beides studiert. Als ich damit fertig war, war gerade die große Zeit des „Gen-Feuilletons“, also der gesellschaftlichen Diskussion über Fragen der aufstrebenden Biowissenschaften, insbesondere Genetik, Stichwort: Entschlüsselung des menschlichen Genoms. Die „Süddeutsche Zeitung“ hatte damals zumindest im Feuilleton keinen Mediziner oder Biowissenschaftler in der Redaktion und war daran interessiert, dass ich zu den Fragen der Biound Medizinethik speziell auch an der Schnittstelle zwischen Medizin und Recht schreibe: Also neben der Genetik etwa über Beginn und Ende des Lebens oder die Autonomie des Menschen. Dadurch bin ich zum Schreiben über die Ethik gekommen. Irgendwann kam die Idee auf, eine Kolumne über Alltagsethik im Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ aufzulegen, die „Gewissensfrage“. Ich wurde gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, sie zu schreiben. Ich sagte ja. Keiner hat damit gerechnet, dass es 17 Jahre werden würden. Die Botschaft dieser Beständigkeit Ihrer Kolumne „Gewissensfrage“ scheint eindeutig: Es besteht ein sehr großes öffentliches Interesse an ethischen Fragen – und inmitten der vielen Klagen und Sorgen wegen eines verrohenden Dialogs im Netz ist dies eine geradezu tröstliche Botschaft: Ein breites Publikum interessiert sich dafür, was man soll und wo die Grenzen sind – und bildet sich über Ihre Kolumnen in solchem Denken weiter, Sie schulen so ihr Publikum. Mir gefallen die beiden anderen Positionen – das (a)soziale Publikum und vor allem das beachtete Publikum – so gut, dass ich eigentlich gar nicht so sehr speziell für die Position des „geschulten Publikums“ stehen möchte. Die 17 Jahre bedeuten im Rückblick circa 850 veröffentlichte Kolumnen. Aber sie bedeuten auch – und damit kommen wir zum beachteten Publikum – zehnbis fünfzehntausend Fragen von Leserinnen und Leser, die ich gelesen und über die ich nachgedacht habe. Mein eigenes Arbeiten und Denken hat das sicher am nachhaltigsten beeinflusst: Dieses Erkennen der unglaublichen Mannigfaltigkeit der Fragen und der Tatsache, dass sich jedem Menschen aus seiner jeweiligen Lebensrealität und Perspektive Dinge etwas anders darstellen. Es gibt eine wundervolle Vorlesung von Hannah Arendt über Sokrates, in der sie die sogenannten Doxa erwähnt: Also die Idee, dass es für uns Sterbliche keine absolute Wahrheit gibt, von der 1. Rainer Erlinger, Marc Ziegele 264 https://doi.org/10.5771/9783748905158-261 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 12.12.2020, 05:02:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. zum Beispiel Platon ausging, oder wir sie zumindest nicht erkennen können, sondern nur die jeweiligen Doxa, also die auf Wahrnehmung fußenden Meinungen, weil sich die Wirklichkeit jedem einzelnen aus seiner Lebenswirklichkeit anders darstellt. Wichtig ist zu begreifen, dass auf der einen Seite jeder dieser Blickwinkel seine Berechtigung hat, dass aber auf der anderen Seite jeder oder zumindest der ethisch geschulte Mensch erkennen muss oder sollte, dass die eigene Meinung nicht die Wahrheit ist, sondern nur seine Perspektive auf die Wirklichkeit, die er oder sie vertritt, und deshalb sollte er sie auf eine Art und Weise vertreten, die ein Gegenüber idealerweise nicht verletzt. Weil dieses Gegenüber eine andere Perspektive auf die Wirklichkeit hat. Deshalb ist auch beim Blick auf das Publikum notwendig, diese verschiedenen Blickwinkel mit zu betrachten. Der „geschulte“ Leser kann also manchmal, wie seine Frage zeigt, wirklich etwas wissen wollen, vielleicht auch, ob sein Blick auf die Wirklichkeit, seine Doxa zutreffend ist, manchmal tritt er aber auch als Wutbürger auf, der davon überzeugt ist, dass seine Sicht die einzig richtige, die absolute Wahrheit ist. Hatten Sie es vor allem mit einem wohlwollenden Publikum zu tun? Naja, im Allgemeinen schon, aber ich war auch froh, dass ich eine Auswahl treffen konnte aus den Fragen, die mich erreichten. Das heißt, Sie hatten auch schwierige Fragen schwieriger Personen auf dem Tisch? Die gab es. Aber speziell als Jurist hatte ich immer auch einen Blick darauf, wann jemand in seinem Schreiben an mich einen bestimmten Hintergedanken verfolgte und nicht nur etwas fragen wollte. Die Idee meiner Kolumne war, dass sie immer eher neutral sein sollte; ob am Ende ein Ja oder Nein von mir darunter stand, war für mich relativ unbedeutend. Denn von der Schlussfolgerung in diesem einen speziellen Fall haben die Leser wenig. Interessant sind in erster Linie Weg und Herleitung meiner Betrachtung, ein philosophischer Gedanke oder Gedankengang, den man in solchen Fällen anwenden kann, wie man eine Sache sehen kann und was wichtig für eine Bewertung ist. Kontrollverlust oder Emanzipation, (a)sozial oder „ethisch geschult“? 265 https://doi.org/10.5771/9783748905158-261 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 12.12.2020, 05:02:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Welche Erklärung haben Sie für die Wut, die in manchen Rezipierenden steckt? Ich habe sehr oft die Beobachtung gemacht – deshalb gefällt mir der Begriff des „beachteten“ Lesers so gut – dass die größte Kränkung für Menschen überhaupt das Gefühl ist, nicht gehört, nicht beachtet zu werden. Es gibt typische Themen, bei denen man oft schon im ersten Satz wusste, worauf der Briefautor hinauswollte: Bei Erbschaftssachen zum Beispiel. Da konnte man das oft direkt sehen: Aha, da will jetzt jemand seine Position deutlich machen und hören, dass er oder sie ungerecht behandelt wurde. Da kam häufig im Laufe des Briefes ein Satz wie: „Ja, meine Schwester ist ja schon immer bevorzugt worden.“ Darin ließ sich erkennen, dass es eigentlich gar nicht so sehr um die Erbaufteilung ging, sondern um eine Zurücksetzung und langes Nichtbeachten oder das zumindest so empfunden wurde. Ich glaube, dass genau das im Großen auch gerade in unserer Gesellschaft passiert. Vielen Menschen, die sich beschweren oder auf die Barrikaden gehen, geht es in Wahrheit gar nicht um das, worüber gerade gestritten wird, sondern um ein Gefühl, ähnlich wie im Erbschaftsbeispiel: „Den anderen hat man ja schon immer lieber gehabt und sich besser um ihn gekümmert als um mich.“ Kommunikation kann verletzen und krank machen, aber auch konstruktiv sein, selbst bei strittigen Themen. Welche Methode war für Sie entscheidend, um einen verantwortungsorientierten Publikumsdialog zu fördern? Ich habe immer meine Aufgabe darin gesehen, wenn möglich jede Position in die Antwort aufzunehmen – damit meine ich nicht, sie einzunehmen. Es hat mich immer geärgert, wenn ich einen Leserbrief mit dem Vorwurf bekam, ich hätte eine Position nicht beachtet – weil schlicht und einfach manchmal der Platz nicht gereicht hat, diesen Aspekt, den ich nicht für entscheidend halte, explizit hinzuschreiben. Aber noch mehr hat es mich geärgert, wenn ich tatsächlich einen wichtigen Aspekt übersehen hatte. Eben weil es mir so wichtig war, alle Aspekte zu würdigen. Das war vermutlich auch ein Grund, warum die Kolumne so überraschend lange funktioniert hat: Eben dass jeder, auch wenn er mir nicht folgen wollte oder konnte, das Gefühl hatte, dass diese andere Betrachtungsweise auch Eingang gefunden hat. Das Gefühl: Ich bin beachtet worden. Genau. Da kommt bei mir auch wiede","PeriodicalId":431613,"journal":{"name":"Kommunikations- und Medienethik reloaded?","volume":"395 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"1900-01-01","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":"{\"title\":\"Kontrollverlust oder Emanzipation, (a)sozial oder „ethisch geschult“? Das Publikum in der desinformierten Gesellschaft\",\"authors\":\"R. 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Dies zeigt ein Dilemma der Gesprächsgesellschaft, die ein (a)soziales Publikum generieren kann. Diesen Bandbreiten widmen sich die folgenden Interviews. Der Arzt, Jurist und Publizist Rainer Erlinger1 setzt sich seit zwei Jahrzehnten mit Gewissensfragen und Moral im Alltag auseinander – als Kolumnist, Vortragsredner und Gesprächspartner. Hier steht er Rede und Antwort zu seinen Erfahrungen mit dem „geschulten Publikum“. Marc Ziegele2 (2016a, 2016b, 2018) forscht unter anderem über Diskussionskultur im Internet. Darauf stützt er seine Einschätzungen zum (a)sozialen Publikum. (Interviewführung: Marlis Prinzing) 1 Rainer Erlinger beschäftigt sich aus den Blickwinkeln seiner drei Berufe mit dem Thema Verantwortung und daran geknüpften ethischen Fragen rund um Wahrheit und Lüge (vgl. u.a. Erlinger 2019). Als Jurist fokussiert er den Bereich des Verbots, als Publizist und Autor den des Gebots und schult sein Publikum in ethischen Abwägungen, z.B. von 2002-2018 in seiner Kolumne „Gewissensfrage“ im SZ-Magazin sowie in der WDR-Sendung richtig leben?! 2 Marc Ziegele ist seit 2018 Junior-Professor für politische Online-Kommunikation an der Universität Düsseldorf. Vor seiner Hochschullaufbahn war er Onlineredakteur beim Südwestrundfunk. Er forscht unter anderem über „Digitale Gesellschaft“, Demokratiekultur, Medienvertrauen und die Diskussionskultur im Internet. 263 https://doi.org/10.5771/9783748905158-261 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 12.12.2020, 05:02:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Rainer Erlinger – Das geschulte Publikum. Marlis Prinzing: Sie sind Publizist, Arzt und Jurist. Herr Erlinger. Wie haben diese Welten in einer Person zusammengefunden? Rainer Erlinger: Ich habe bereits die Schülerzeitung herausgegeben. Der Klassiker! Das Schreiben lag mir also nahe. Und mich haben Medizin und Jura interessiert. Also habe ich beides studiert. Als ich damit fertig war, war gerade die große Zeit des „Gen-Feuilletons“, also der gesellschaftlichen Diskussion über Fragen der aufstrebenden Biowissenschaften, insbesondere Genetik, Stichwort: Entschlüsselung des menschlichen Genoms. Die „Süddeutsche Zeitung“ hatte damals zumindest im Feuilleton keinen Mediziner oder Biowissenschaftler in der Redaktion und war daran interessiert, dass ich zu den Fragen der Biound Medizinethik speziell auch an der Schnittstelle zwischen Medizin und Recht schreibe: Also neben der Genetik etwa über Beginn und Ende des Lebens oder die Autonomie des Menschen. Dadurch bin ich zum Schreiben über die Ethik gekommen. Irgendwann kam die Idee auf, eine Kolumne über Alltagsethik im Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ aufzulegen, die „Gewissensfrage“. Ich wurde gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, sie zu schreiben. Ich sagte ja. Keiner hat damit gerechnet, dass es 17 Jahre werden würden. Die Botschaft dieser Beständigkeit Ihrer Kolumne „Gewissensfrage“ scheint eindeutig: Es besteht ein sehr großes öffentliches Interesse an ethischen Fragen – und inmitten der vielen Klagen und Sorgen wegen eines verrohenden Dialogs im Netz ist dies eine geradezu tröstliche Botschaft: Ein breites Publikum interessiert sich dafür, was man soll und wo die Grenzen sind – und bildet sich über Ihre Kolumnen in solchem Denken weiter, Sie schulen so ihr Publikum. Mir gefallen die beiden anderen Positionen – das (a)soziale Publikum und vor allem das beachtete Publikum – so gut, dass ich eigentlich gar nicht so sehr speziell für die Position des „geschulten Publikums“ stehen möchte. Die 17 Jahre bedeuten im Rückblick circa 850 veröffentlichte Kolumnen. Aber sie bedeuten auch – und damit kommen wir zum beachteten Publikum – zehnbis fünfzehntausend Fragen von Leserinnen und Leser, die ich gelesen und über die ich nachgedacht habe. Mein eigenes Arbeiten und Denken hat das sicher am nachhaltigsten beeinflusst: Dieses Erkennen der unglaublichen Mannigfaltigkeit der Fragen und der Tatsache, dass sich jedem Menschen aus seiner jeweiligen Lebensrealität und Perspektive Dinge etwas anders darstellen. Es gibt eine wundervolle Vorlesung von Hannah Arendt über Sokrates, in der sie die sogenannten Doxa erwähnt: Also die Idee, dass es für uns Sterbliche keine absolute Wahrheit gibt, von der 1. Rainer Erlinger, Marc Ziegele 264 https://doi.org/10.5771/9783748905158-261 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 12.12.2020, 05:02:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. zum Beispiel Platon ausging, oder wir sie zumindest nicht erkennen können, sondern nur die jeweiligen Doxa, also die auf Wahrnehmung fußenden Meinungen, weil sich die Wirklichkeit jedem einzelnen aus seiner Lebenswirklichkeit anders darstellt. 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Naja, im Allgemeinen schon, aber ich war auch froh, dass ich eine Auswahl treffen konnte aus den Fragen, die mich erreichten. Das heißt, Sie hatten auch schwierige Fragen schwieriger Personen auf dem Tisch? Die gab es. Aber speziell als Jurist hatte ich immer auch einen Blick darauf, wann jemand in seinem Schreiben an mich einen bestimmten Hintergedanken verfolgte und nicht nur etwas fragen wollte. Die Idee meiner Kolumne war, dass sie immer eher neutral sein sollte; ob am Ende ein Ja oder Nein von mir darunter stand, war für mich relativ unbedeutend. Denn von der Schlussfolgerung in diesem einen speziellen Fall haben die Leser wenig. Interessant sind in erster Linie Weg und Herleitung meiner Betrachtung, ein philosophischer Gedanke oder Gedankengang, den man in solchen Fällen anwenden kann, wie man eine Sache sehen kann und was wichtig für eine Bewertung ist. Kontrollverlust oder Emanzipation, (a)sozial oder „ethisch geschult“? 265 https://doi.org/10.5771/9783748905158-261 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 12.12.2020, 05:02:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Welche Erklärung haben Sie für die Wut, die in manchen Rezipierenden steckt? Ich habe sehr oft die Beobachtung gemacht – deshalb gefällt mir der Begriff des „beachteten“ Lesers so gut – dass die größte Kränkung für Menschen überhaupt das Gefühl ist, nicht gehört, nicht beachtet zu werden. Es gibt typische Themen, bei denen man oft schon im ersten Satz wusste, worauf der Briefautor hinauswollte: Bei Erbschaftssachen zum Beispiel. Da konnte man das oft direkt sehen: Aha, da will jetzt jemand seine Position deutlich machen und hören, dass er oder sie ungerecht behandelt wurde. Da kam häufig im Laufe des Briefes ein Satz wie: „Ja, meine Schwester ist ja schon immer bevorzugt worden.“ Darin ließ sich erkennen, dass es eigentlich gar nicht so sehr um die Erbaufteilung ging, sondern um eine Zurücksetzung und langes Nichtbeachten oder das zumindest so empfunden wurde. Ich glaube, dass genau das im Großen auch gerade in unserer Gesellschaft passiert. Vielen Menschen, die sich beschweren oder auf die Barrikaden gehen, geht es in Wahrheit gar nicht um das, worüber gerade gestritten wird, sondern um ein Gefühl, ähnlich wie im Erbschaftsbeispiel: „Den anderen hat man ja schon immer lieber gehabt und sich besser um ihn gekümmert als um mich.“ Kommunikation kann verletzen und krank machen, aber auch konstruktiv sein, selbst bei strittigen Themen. Welche Methode war für Sie entscheidend, um einen verantwortungsorientierten Publikumsdialog zu fördern? Ich habe immer meine Aufgabe darin gesehen, wenn möglich jede Position in die Antwort aufzunehmen – damit meine ich nicht, sie einzunehmen. Es hat mich immer geärgert, wenn ich einen Leserbrief mit dem Vorwurf bekam, ich hätte eine Position nicht beachtet – weil schlicht und einfach manchmal der Platz nicht gereicht hat, diesen Aspekt, den ich nicht für entscheidend halte, explizit hinzuschreiben. Aber noch mehr hat es mich geärgert, wenn ich tatsächlich einen wichtigen Aspekt übersehen hatte. Eben weil es mir so wichtig war, alle Aspekte zu würdigen. Das war vermutlich auch ein Grund, warum die Kolumne so überraschend lange funktioniert hat: Eben dass jeder, auch wenn er mir nicht folgen wollte oder konnte, das Gefühl hatte, dass diese andere Betrachtungsweise auch Eingang gefunden hat. Das Gefühl: Ich bin beachtet worden. Genau. 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摘要

半个世纪前,研究人员彼得·格伦茨(Peter Glotz)和1969年的兰根bucher (Wolfgang兰根bucher)批评他对报社缺乏观察能力,并发明了一个术语“被误读的读者”。在这个数字社会里,记者几乎不可能被锁起来,而是可以直接从网路上发布评论和其他言论的记者。皮埃尔·雷德和丹尼尔·费尼恩(本编别名)的歌词中,只有“注意引人注目的听众”是唯一的选择。相反,这是一个交谈的社会,有些人小心翼翼地处理数字自由,对报世和良好生活的问题感兴趣,也会参与其中,而另一些人却有不同的人格。这说明了社会舆论所产生的逻辑困境。"风流肖恩"问题就在下面在过去二十年里,医生、法学家和作家雷德尔·厄林格里明确地跟人讨论日常生活中思想和道德问题,经常作专栏、演讲和谈话。在这里,他谈到他与"受过教育的听众"的经验。马克·泽贝格2 (2016a, 2016b, 2018)研究网络讨论条款等。他建立自己对社会大众的评估1雷瑟·厄林格从他三种职业的角度出发,着眼于责任感和与事实和谎言相关的道德问题(咏合三合会、反对三合会)。哈林格2019年作为法律学者,他对禁令领域有明确的关注;在他的工作中担任编导和编导,是否为社会所需的内容提供明确的教育?他在2002至2018年间在社会安全与路德会的专栏中做过“关于社会道德的探讨”。2亚伯·泽盖在2018年成为杜塞尔多夫大学在线政治通讯教授。他在巅峰舞台之前是西南电视台的编辑其研究的内容包括“数字社会”、民主文化、媒体信任及讨论文化。文档备份和传阅是无法接受的。莱纳·厄林格Marlis普林茨:他们是宣传人员,医生和律师。主Erlinger .两个世界是如何合在一起的呢?雷纳·厄林格:我已经出版了校报。这是经典的!是的,非常熟悉而且我对医学和法律很感兴趣。所以我两个都学了当我刚完成时正生活在所谓"基因设计论"的高峰时期即是关于新兴生物科学(尤其是遗传学)的大讨论:人类基因组的解码的《南德意志报》当时至少会不会没有医生或Biowissenschaftler编辑部很感兴趣,我的问题是Biound Medizinethik专门也在医学和法律之间的衔接,写:所以除了遗传学左右生命的开始和结束或自主.这让我得以撰写道德规范后来,有人想在《南德意志报》杂志内登载一个日常道德的专栏,称为“良心问题”。有人问我能否考虑写这封信我答应了没有人想到会有17年。传达这些一贯将其专栏“操守”似乎非常明确:这是一个很大的公共利益的道德问题和在许多网络的抱怨和担心verrohenden对话,这是一个非常让人的信息:管你广泛的客户应该是让边界在哪里,而且把自己读你的专栏中这样的学校继续思考,通过这个听众.我非常喜欢另外两种姿态——第一是社交观众,而最重要的是注意观众——如果你回忆一下17年,大约有850个小说出版。随着时间的流逝,这一连串的问题逐渐引起人们的注意我自己的作品和思想肯定影响了深远:人们意识到这些问题的多种多样,并且从个人的生活现实和观点来看,有些东西截然不同。 没错,这些文章文章持续的时间之所以长得惊人,原因之一是:有些人虽然不愿,也可能不愿听我的看法,但他们都觉得别人看这些东西的角度不无道理。像我被注意到一样正是.我也会报仇
本文章由计算机程序翻译,如有差异,请以英文原文为准。
Kontrollverlust oder Emanzipation, (a)sozial oder „ethisch geschult“? Das Publikum in der desinformierten Gesellschaft
Vor einem halben Jahrhundert kritisierten die Forscher Peter Glotz und Wolfgang Langenbucher (1969), Journalismus schaue zu wenig auf seine Zielgruppen, und sie erfanden den Begriff des „missachteten Lesers“. In einer digitalen Gesellschaft, in der Journalisten kaum mehr Schleusenwärter sind, sondern das Publikum Quellen direkt nutzen sowie Kommentare und andere Äußerungen unmittelbar im Netz veröffentlichen kann, ist die Missachtung gar nicht mehr möglich. Das „beachtete Publikum“ ist die einzige Option (mehr hierzu in den Texten von Pierre Rieder und Daniel Fiene in diesem Band). Umgekehrt befinden wir uns in einer Gesprächsgesellschaft, in der die einen mit der digitalen Publikationsfreiheit sorgfältig umgehen, sich für Fragen des Sollens und des guten Lebens interessieren und sich darin schulen, andere aber mit vielerlei Inzivilität aufwarten. Dies zeigt ein Dilemma der Gesprächsgesellschaft, die ein (a)soziales Publikum generieren kann. Diesen Bandbreiten widmen sich die folgenden Interviews. Der Arzt, Jurist und Publizist Rainer Erlinger1 setzt sich seit zwei Jahrzehnten mit Gewissensfragen und Moral im Alltag auseinander – als Kolumnist, Vortragsredner und Gesprächspartner. Hier steht er Rede und Antwort zu seinen Erfahrungen mit dem „geschulten Publikum“. Marc Ziegele2 (2016a, 2016b, 2018) forscht unter anderem über Diskussionskultur im Internet. Darauf stützt er seine Einschätzungen zum (a)sozialen Publikum. (Interviewführung: Marlis Prinzing) 1 Rainer Erlinger beschäftigt sich aus den Blickwinkeln seiner drei Berufe mit dem Thema Verantwortung und daran geknüpften ethischen Fragen rund um Wahrheit und Lüge (vgl. u.a. Erlinger 2019). Als Jurist fokussiert er den Bereich des Verbots, als Publizist und Autor den des Gebots und schult sein Publikum in ethischen Abwägungen, z.B. von 2002-2018 in seiner Kolumne „Gewissensfrage“ im SZ-Magazin sowie in der WDR-Sendung richtig leben?! 2 Marc Ziegele ist seit 2018 Junior-Professor für politische Online-Kommunikation an der Universität Düsseldorf. Vor seiner Hochschullaufbahn war er Onlineredakteur beim Südwestrundfunk. Er forscht unter anderem über „Digitale Gesellschaft“, Demokratiekultur, Medienvertrauen und die Diskussionskultur im Internet. 263 https://doi.org/10.5771/9783748905158-261 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 12.12.2020, 05:02:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Rainer Erlinger – Das geschulte Publikum. Marlis Prinzing: Sie sind Publizist, Arzt und Jurist. Herr Erlinger. Wie haben diese Welten in einer Person zusammengefunden? Rainer Erlinger: Ich habe bereits die Schülerzeitung herausgegeben. Der Klassiker! Das Schreiben lag mir also nahe. Und mich haben Medizin und Jura interessiert. Also habe ich beides studiert. Als ich damit fertig war, war gerade die große Zeit des „Gen-Feuilletons“, also der gesellschaftlichen Diskussion über Fragen der aufstrebenden Biowissenschaften, insbesondere Genetik, Stichwort: Entschlüsselung des menschlichen Genoms. Die „Süddeutsche Zeitung“ hatte damals zumindest im Feuilleton keinen Mediziner oder Biowissenschaftler in der Redaktion und war daran interessiert, dass ich zu den Fragen der Biound Medizinethik speziell auch an der Schnittstelle zwischen Medizin und Recht schreibe: Also neben der Genetik etwa über Beginn und Ende des Lebens oder die Autonomie des Menschen. Dadurch bin ich zum Schreiben über die Ethik gekommen. Irgendwann kam die Idee auf, eine Kolumne über Alltagsethik im Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ aufzulegen, die „Gewissensfrage“. Ich wurde gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, sie zu schreiben. Ich sagte ja. Keiner hat damit gerechnet, dass es 17 Jahre werden würden. Die Botschaft dieser Beständigkeit Ihrer Kolumne „Gewissensfrage“ scheint eindeutig: Es besteht ein sehr großes öffentliches Interesse an ethischen Fragen – und inmitten der vielen Klagen und Sorgen wegen eines verrohenden Dialogs im Netz ist dies eine geradezu tröstliche Botschaft: Ein breites Publikum interessiert sich dafür, was man soll und wo die Grenzen sind – und bildet sich über Ihre Kolumnen in solchem Denken weiter, Sie schulen so ihr Publikum. Mir gefallen die beiden anderen Positionen – das (a)soziale Publikum und vor allem das beachtete Publikum – so gut, dass ich eigentlich gar nicht so sehr speziell für die Position des „geschulten Publikums“ stehen möchte. Die 17 Jahre bedeuten im Rückblick circa 850 veröffentlichte Kolumnen. Aber sie bedeuten auch – und damit kommen wir zum beachteten Publikum – zehnbis fünfzehntausend Fragen von Leserinnen und Leser, die ich gelesen und über die ich nachgedacht habe. Mein eigenes Arbeiten und Denken hat das sicher am nachhaltigsten beeinflusst: Dieses Erkennen der unglaublichen Mannigfaltigkeit der Fragen und der Tatsache, dass sich jedem Menschen aus seiner jeweiligen Lebensrealität und Perspektive Dinge etwas anders darstellen. Es gibt eine wundervolle Vorlesung von Hannah Arendt über Sokrates, in der sie die sogenannten Doxa erwähnt: Also die Idee, dass es für uns Sterbliche keine absolute Wahrheit gibt, von der 1. Rainer Erlinger, Marc Ziegele 264 https://doi.org/10.5771/9783748905158-261 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 12.12.2020, 05:02:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. zum Beispiel Platon ausging, oder wir sie zumindest nicht erkennen können, sondern nur die jeweiligen Doxa, also die auf Wahrnehmung fußenden Meinungen, weil sich die Wirklichkeit jedem einzelnen aus seiner Lebenswirklichkeit anders darstellt. Wichtig ist zu begreifen, dass auf der einen Seite jeder dieser Blickwinkel seine Berechtigung hat, dass aber auf der anderen Seite jeder oder zumindest der ethisch geschulte Mensch erkennen muss oder sollte, dass die eigene Meinung nicht die Wahrheit ist, sondern nur seine Perspektive auf die Wirklichkeit, die er oder sie vertritt, und deshalb sollte er sie auf eine Art und Weise vertreten, die ein Gegenüber idealerweise nicht verletzt. Weil dieses Gegenüber eine andere Perspektive auf die Wirklichkeit hat. Deshalb ist auch beim Blick auf das Publikum notwendig, diese verschiedenen Blickwinkel mit zu betrachten. Der „geschulte“ Leser kann also manchmal, wie seine Frage zeigt, wirklich etwas wissen wollen, vielleicht auch, ob sein Blick auf die Wirklichkeit, seine Doxa zutreffend ist, manchmal tritt er aber auch als Wutbürger auf, der davon überzeugt ist, dass seine Sicht die einzig richtige, die absolute Wahrheit ist. Hatten Sie es vor allem mit einem wohlwollenden Publikum zu tun? Naja, im Allgemeinen schon, aber ich war auch froh, dass ich eine Auswahl treffen konnte aus den Fragen, die mich erreichten. Das heißt, Sie hatten auch schwierige Fragen schwieriger Personen auf dem Tisch? Die gab es. Aber speziell als Jurist hatte ich immer auch einen Blick darauf, wann jemand in seinem Schreiben an mich einen bestimmten Hintergedanken verfolgte und nicht nur etwas fragen wollte. Die Idee meiner Kolumne war, dass sie immer eher neutral sein sollte; ob am Ende ein Ja oder Nein von mir darunter stand, war für mich relativ unbedeutend. Denn von der Schlussfolgerung in diesem einen speziellen Fall haben die Leser wenig. Interessant sind in erster Linie Weg und Herleitung meiner Betrachtung, ein philosophischer Gedanke oder Gedankengang, den man in solchen Fällen anwenden kann, wie man eine Sache sehen kann und was wichtig für eine Bewertung ist. Kontrollverlust oder Emanzipation, (a)sozial oder „ethisch geschult“? 265 https://doi.org/10.5771/9783748905158-261 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 12.12.2020, 05:02:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Welche Erklärung haben Sie für die Wut, die in manchen Rezipierenden steckt? Ich habe sehr oft die Beobachtung gemacht – deshalb gefällt mir der Begriff des „beachteten“ Lesers so gut – dass die größte Kränkung für Menschen überhaupt das Gefühl ist, nicht gehört, nicht beachtet zu werden. Es gibt typische Themen, bei denen man oft schon im ersten Satz wusste, worauf der Briefautor hinauswollte: Bei Erbschaftssachen zum Beispiel. Da konnte man das oft direkt sehen: Aha, da will jetzt jemand seine Position deutlich machen und hören, dass er oder sie ungerecht behandelt wurde. Da kam häufig im Laufe des Briefes ein Satz wie: „Ja, meine Schwester ist ja schon immer bevorzugt worden.“ Darin ließ sich erkennen, dass es eigentlich gar nicht so sehr um die Erbaufteilung ging, sondern um eine Zurücksetzung und langes Nichtbeachten oder das zumindest so empfunden wurde. Ich glaube, dass genau das im Großen auch gerade in unserer Gesellschaft passiert. Vielen Menschen, die sich beschweren oder auf die Barrikaden gehen, geht es in Wahrheit gar nicht um das, worüber gerade gestritten wird, sondern um ein Gefühl, ähnlich wie im Erbschaftsbeispiel: „Den anderen hat man ja schon immer lieber gehabt und sich besser um ihn gekümmert als um mich.“ Kommunikation kann verletzen und krank machen, aber auch konstruktiv sein, selbst bei strittigen Themen. Welche Methode war für Sie entscheidend, um einen verantwortungsorientierten Publikumsdialog zu fördern? Ich habe immer meine Aufgabe darin gesehen, wenn möglich jede Position in die Antwort aufzunehmen – damit meine ich nicht, sie einzunehmen. Es hat mich immer geärgert, wenn ich einen Leserbrief mit dem Vorwurf bekam, ich hätte eine Position nicht beachtet – weil schlicht und einfach manchmal der Platz nicht gereicht hat, diesen Aspekt, den ich nicht für entscheidend halte, explizit hinzuschreiben. Aber noch mehr hat es mich geärgert, wenn ich tatsächlich einen wichtigen Aspekt übersehen hatte. Eben weil es mir so wichtig war, alle Aspekte zu würdigen. Das war vermutlich auch ein Grund, warum die Kolumne so überraschend lange funktioniert hat: Eben dass jeder, auch wenn er mir nicht folgen wollte oder konnte, das Gefühl hatte, dass diese andere Betrachtungsweise auch Eingang gefunden hat. Das Gefühl: Ich bin beachtet worden. Genau. Da kommt bei mir auch wiede
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