{"title":"发亮的东西不都是金子。","authors":"P. Roth, Helene Gerhards","doi":"10.5771/0044-3360-2019-2-143","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Mit dem Embryonenschutzgesetz (ESchG), der 2002 beschlossenen Stammzellgesetzgebung (StZG) und ihrer Novellierung im Jahre 2008 wurden in Deutschland enge Richtlinien für die Beforschung humaner embryonaler Stammzellen (hES-Zellen) gesetzt. Die Erfindung der ›ethisch unbedenklichen‹ humanen induzierten pluripotenten Stammzellen (hiPS-Zellen) 2007 verleitete Beobachterinnen und Beobachter dazu, von einer baldigen Ablösung der hES-Zellforschung durch die hiPS-Zellforschung auszugehen. Tatsächlich ist dies bis heute nicht der Fall. HES-Zellen werden nach wie vor, selbst unter den strengen Auflagen des StZG, und sogar zunehmend in Deutschland verwendet. Allerdings wird dies gesellschaftlich kaum mehr problematisiert. Wie ist diese Entwicklung zu erklären? Wir argumentieren, dass die Beforschung von hES-Zellen nun nicht mehr ethisch begründet werden muss, jedoch nicht etwa deswegen, weil sie durch einen hegemonialen Diskurs erfolgreich als moralisch unverfänglich gelablet worden wäre, sondern, weil es möglich geworden ist, sie als lediglich temporäre Notwendigkeit zu rahmen. Die Fortführung der hES-Zellforschung unter der proklamierten Bedingung ihrer prospektiven Einstellung - eigentlich ein Paradox - lässt sich an der Rede vom so genannten ›Goldstandard‹ aufzeigen, der eine besondere legitimatorische Funktion im Stammzellforschungsdiskurs zukommt. Wir schlagen vor, das ursprünglich im naturwissenschaftlichen Kontext verwendete, jedoch in der Forschungspraxis mittlerweile weitestgehend aufgegebene Konzept vom Goldstandard als politische Semantik zu verstehen, die heute die hES-Zellforschung in Deutschland von Aporien freihält und gesellschaftlich akzeptabel macht: Der Goldstandard steht für den Wert der Fortschrittlichkeit der hES-Forschung in Deutschland, er reifiziert die hES-Zellen als basalen Vergleichsstoff zu den hiPS-Zellen und setzt die hES-Zellen damit als Brückentechnologie ins Werk, welche somit auf noch unbestimmte Dauer in Deutschland betrieben werden muss. Eine historisch sensible Analyse der wissenschaftspolitischen Performanz des Goldstandard-Narrativs kann darüber hinaus aufzeigen, wie wirksam und zugleich fragil der derzeitige ›Stammzellfrieden‹ ist - jene Situation sollte auch das hiesige Stammzell-Monitoring mit ihren neuerlichen Empfehlungen in Rechnung stellen.","PeriodicalId":133893,"journal":{"name":"Zeitschrift für Politik","volume":"35 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"1900-01-01","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":"{\"title\":\"Es ist nicht alles Gold, was glänzt …\",\"authors\":\"P. Roth, Helene Gerhards\",\"doi\":\"10.5771/0044-3360-2019-2-143\",\"DOIUrl\":null,\"url\":null,\"abstract\":\"Mit dem Embryonenschutzgesetz (ESchG), der 2002 beschlossenen Stammzellgesetzgebung (StZG) und ihrer Novellierung im Jahre 2008 wurden in Deutschland enge Richtlinien für die Beforschung humaner embryonaler Stammzellen (hES-Zellen) gesetzt. Die Erfindung der ›ethisch unbedenklichen‹ humanen induzierten pluripotenten Stammzellen (hiPS-Zellen) 2007 verleitete Beobachterinnen und Beobachter dazu, von einer baldigen Ablösung der hES-Zellforschung durch die hiPS-Zellforschung auszugehen. Tatsächlich ist dies bis heute nicht der Fall. HES-Zellen werden nach wie vor, selbst unter den strengen Auflagen des StZG, und sogar zunehmend in Deutschland verwendet. Allerdings wird dies gesellschaftlich kaum mehr problematisiert. Wie ist diese Entwicklung zu erklären? Wir argumentieren, dass die Beforschung von hES-Zellen nun nicht mehr ethisch begründet werden muss, jedoch nicht etwa deswegen, weil sie durch einen hegemonialen Diskurs erfolgreich als moralisch unverfänglich gelablet worden wäre, sondern, weil es möglich geworden ist, sie als lediglich temporäre Notwendigkeit zu rahmen. Die Fortführung der hES-Zellforschung unter der proklamierten Bedingung ihrer prospektiven Einstellung - eigentlich ein Paradox - lässt sich an der Rede vom so genannten ›Goldstandard‹ aufzeigen, der eine besondere legitimatorische Funktion im Stammzellforschungsdiskurs zukommt. Wir schlagen vor, das ursprünglich im naturwissenschaftlichen Kontext verwendete, jedoch in der Forschungspraxis mittlerweile weitestgehend aufgegebene Konzept vom Goldstandard als politische Semantik zu verstehen, die heute die hES-Zellforschung in Deutschland von Aporien freihält und gesellschaftlich akzeptabel macht: Der Goldstandard steht für den Wert der Fortschrittlichkeit der hES-Forschung in Deutschland, er reifiziert die hES-Zellen als basalen Vergleichsstoff zu den hiPS-Zellen und setzt die hES-Zellen damit als Brückentechnologie ins Werk, welche somit auf noch unbestimmte Dauer in Deutschland betrieben werden muss. Eine historisch sensible Analyse der wissenschaftspolitischen Performanz des Goldstandard-Narrativs kann darüber hinaus aufzeigen, wie wirksam und zugleich fragil der derzeitige ›Stammzellfrieden‹ ist - jene Situation sollte auch das hiesige Stammzell-Monitoring mit ihren neuerlichen Empfehlungen in Rechnung stellen.\",\"PeriodicalId\":133893,\"journal\":{\"name\":\"Zeitschrift für Politik\",\"volume\":\"35 1\",\"pages\":\"0\"},\"PeriodicalIF\":0.0000,\"publicationDate\":\"1900-01-01\",\"publicationTypes\":\"Journal Article\",\"fieldsOfStudy\":null,\"isOpenAccess\":false,\"openAccessPdf\":\"\",\"citationCount\":\"0\",\"resultStr\":null,\"platform\":\"Semanticscholar\",\"paperid\":null,\"PeriodicalName\":\"Zeitschrift für Politik\",\"FirstCategoryId\":\"1085\",\"ListUrlMain\":\"https://doi.org/10.5771/0044-3360-2019-2-143\",\"RegionNum\":0,\"RegionCategory\":null,\"ArticlePicture\":[],\"TitleCN\":null,\"AbstractTextCN\":null,\"PMCID\":null,\"EPubDate\":\"\",\"PubModel\":\"\",\"JCR\":\"\",\"JCRName\":\"\",\"Score\":null,\"Total\":0}","platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Zeitschrift für Politik","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.5771/0044-3360-2019-2-143","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"","JCRName":"","Score":null,"Total":0}
Mit dem Embryonenschutzgesetz (ESchG), der 2002 beschlossenen Stammzellgesetzgebung (StZG) und ihrer Novellierung im Jahre 2008 wurden in Deutschland enge Richtlinien für die Beforschung humaner embryonaler Stammzellen (hES-Zellen) gesetzt. Die Erfindung der ›ethisch unbedenklichen‹ humanen induzierten pluripotenten Stammzellen (hiPS-Zellen) 2007 verleitete Beobachterinnen und Beobachter dazu, von einer baldigen Ablösung der hES-Zellforschung durch die hiPS-Zellforschung auszugehen. Tatsächlich ist dies bis heute nicht der Fall. HES-Zellen werden nach wie vor, selbst unter den strengen Auflagen des StZG, und sogar zunehmend in Deutschland verwendet. Allerdings wird dies gesellschaftlich kaum mehr problematisiert. Wie ist diese Entwicklung zu erklären? Wir argumentieren, dass die Beforschung von hES-Zellen nun nicht mehr ethisch begründet werden muss, jedoch nicht etwa deswegen, weil sie durch einen hegemonialen Diskurs erfolgreich als moralisch unverfänglich gelablet worden wäre, sondern, weil es möglich geworden ist, sie als lediglich temporäre Notwendigkeit zu rahmen. Die Fortführung der hES-Zellforschung unter der proklamierten Bedingung ihrer prospektiven Einstellung - eigentlich ein Paradox - lässt sich an der Rede vom so genannten ›Goldstandard‹ aufzeigen, der eine besondere legitimatorische Funktion im Stammzellforschungsdiskurs zukommt. Wir schlagen vor, das ursprünglich im naturwissenschaftlichen Kontext verwendete, jedoch in der Forschungspraxis mittlerweile weitestgehend aufgegebene Konzept vom Goldstandard als politische Semantik zu verstehen, die heute die hES-Zellforschung in Deutschland von Aporien freihält und gesellschaftlich akzeptabel macht: Der Goldstandard steht für den Wert der Fortschrittlichkeit der hES-Forschung in Deutschland, er reifiziert die hES-Zellen als basalen Vergleichsstoff zu den hiPS-Zellen und setzt die hES-Zellen damit als Brückentechnologie ins Werk, welche somit auf noch unbestimmte Dauer in Deutschland betrieben werden muss. Eine historisch sensible Analyse der wissenschaftspolitischen Performanz des Goldstandard-Narrativs kann darüber hinaus aufzeigen, wie wirksam und zugleich fragil der derzeitige ›Stammzellfrieden‹ ist - jene Situation sollte auch das hiesige Stammzell-Monitoring mit ihren neuerlichen Empfehlungen in Rechnung stellen.