{"title":"60年前和今天的宪法","authors":"D. Grimm","doi":"10.5771/9783748905127-95","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Der moderne Staat als dominante politische Existenzform von Völkern oder Gesellschaften entstand vor etwa 450 Jahren. Ein exaktes Datum kann man nicht angeben, denn es handelt sich bei der Entstehung des Staates nicht um ein Ereignis, sondern um einen Prozess, der örtlich und zeitlich verschieden verlief und zu unterschiedlichen Ergebnissen führte. In diesen 450 Jahren hat er sich vielfach gewandelt, vom Fürstenstaat zum Volksstaat, vom absoluten Staat zum Verfassungsstaat, vom konfessionellen zum säkularen Staat, vom liberalen Staat zum Sozialstaat usw. Fast alle Veränderungen waren von Nachrufen auf den Staat begleitet, aber untergegangen war doch jeweils nur eine bestimmte Form des Staates, nicht dieser selbst. Vor 60 Jahren stand der Staat aber verhältnismäßig unangefochten da. Auch die Verfassung, ja, das öffentliche Recht insgesamt, hatte damit weiterhin einen festen Bezugspunkt. Selbst die Abgrenzung zum Privatrecht ließ sich noch vergleichsweise unbestritten anhand der Merkmale von Überund Unterordnung einerseits, Gleichordnung andererseits vornehmen. In den wissenschaftlichen Disziplinen spiegelte sich das wider. Die Allgemeine Staatslehre gehörte zum Pflichtprogramm des juristischen Studiums. Die Grundvorlesung zur Verfassung hieß „Staatsrecht“, und auch die Lehrbücher nannten sich so. Auf internationales Recht musste man bei der Behandlung des Staatsrechts noch keine Rücksicht nehmen. Die Lehre vom Verwaltungsrecht konzentrierte sich im Wesentlichen auf die hoheitliche Verwaltung. Für die Nachbardisziplin der Politikwissenschaft war der Staat ebenfalls noch nicht fragwürdig geworden, sondern Bezugspunkt der Politik geblieben. Es gab auch keine alternativen Modelle. Im Sozialismus war der Staat, Karl Marx zum Trotz, nicht abgestorben, sondern im Gegenteil immer ausgreifender geworden. Die zahlreichen in die Selbstbestimmung entlassenen Kolonien organisierten sich staatlich. Das zentrale Werk der frühen Politikwissenschaft über das politische System der Bundesrepublik trug den Titel „Staat und Gesellschaft in Deutschland“, der politologische Band I.","PeriodicalId":173727,"journal":{"name":"Wandlungen im Öffentlichen Recht","volume":"143 2","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"2020-10-15","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":"{\"title\":\"Staat und Verfassung vor 60 Jahren und heute\",\"authors\":\"D. Grimm\",\"doi\":\"10.5771/9783748905127-95\",\"DOIUrl\":null,\"url\":null,\"abstract\":\"Der moderne Staat als dominante politische Existenzform von Völkern oder Gesellschaften entstand vor etwa 450 Jahren. 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Der moderne Staat als dominante politische Existenzform von Völkern oder Gesellschaften entstand vor etwa 450 Jahren. Ein exaktes Datum kann man nicht angeben, denn es handelt sich bei der Entstehung des Staates nicht um ein Ereignis, sondern um einen Prozess, der örtlich und zeitlich verschieden verlief und zu unterschiedlichen Ergebnissen führte. In diesen 450 Jahren hat er sich vielfach gewandelt, vom Fürstenstaat zum Volksstaat, vom absoluten Staat zum Verfassungsstaat, vom konfessionellen zum säkularen Staat, vom liberalen Staat zum Sozialstaat usw. Fast alle Veränderungen waren von Nachrufen auf den Staat begleitet, aber untergegangen war doch jeweils nur eine bestimmte Form des Staates, nicht dieser selbst. Vor 60 Jahren stand der Staat aber verhältnismäßig unangefochten da. Auch die Verfassung, ja, das öffentliche Recht insgesamt, hatte damit weiterhin einen festen Bezugspunkt. Selbst die Abgrenzung zum Privatrecht ließ sich noch vergleichsweise unbestritten anhand der Merkmale von Überund Unterordnung einerseits, Gleichordnung andererseits vornehmen. In den wissenschaftlichen Disziplinen spiegelte sich das wider. Die Allgemeine Staatslehre gehörte zum Pflichtprogramm des juristischen Studiums. Die Grundvorlesung zur Verfassung hieß „Staatsrecht“, und auch die Lehrbücher nannten sich so. Auf internationales Recht musste man bei der Behandlung des Staatsrechts noch keine Rücksicht nehmen. Die Lehre vom Verwaltungsrecht konzentrierte sich im Wesentlichen auf die hoheitliche Verwaltung. Für die Nachbardisziplin der Politikwissenschaft war der Staat ebenfalls noch nicht fragwürdig geworden, sondern Bezugspunkt der Politik geblieben. Es gab auch keine alternativen Modelle. Im Sozialismus war der Staat, Karl Marx zum Trotz, nicht abgestorben, sondern im Gegenteil immer ausgreifender geworden. Die zahlreichen in die Selbstbestimmung entlassenen Kolonien organisierten sich staatlich. Das zentrale Werk der frühen Politikwissenschaft über das politische System der Bundesrepublik trug den Titel „Staat und Gesellschaft in Deutschland“, der politologische Band I.