{"title":"Schmerz und Schrei: Sophokles’ Philoktet als Grenzfall der Ästhetik in Antike und Moderne","authors":"Irmgard Männlein-Robert","doi":"10.1515/anab-2014-0108","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Auf den ersten Blick sieht Philoktet, der Held der gleichnamigen griechischen Tragödie des Sophokles, wie ein Held sui generis aus: Er glänzt nicht im Kampf, er ist nicht stark und schön, vielmehr leidet er an wilden Schmerzen, hat eine eklige, stinkende Wunde – und er schreit während seiner scharfen, wiederkehrenden Schmerzattacken. Auf den zweiten Blick freilich erkennt man, dass dieser leidende Held als besonders eindrückliche Symbolfigur menschlichen Leidens, und zwar körperlichen Leidens überhaupt, zu begreifen ist. Der klassische Tragödiendichter Sophokles hat hier eine singuläre Ästhetik von Schmerz und Leiden, kurz: eine Ästhetik des Wilden, des Hässlichen in Szene gesetzt, die ihresgleichen sucht und die deswegen auch in späteren Zeiten die Gemüter derer bewegt hat, die sich mit der griechischen Tragödie, griechischen Helden und überhaupt antiken Exempla auseinander gesetzt haben. In diesem Beitrag soll zum einen (A) der bereits für die Antike erkennbare ästhetische Diskurs um das anthropologische Phänomen von ‹Schmerz› und ‹Schreien› Philoktets skizziert und zum anderen darauf aufbauend (B) gezeigt werden, wie das Exempel ‹Philoktet› in der europäischen Ästhetik des 18. Jh.s., besonders bei Johann Joachim Winckelmann, Gotthold Ephraim Lessing und Johann Gottfried Herder, also an der Schwelle zur deutschen Klassik, interpretiert und funktionalisiert wird, wie Philoktet hier zum ambivalenten Element eines weniger klassischen, als eher klassizistischen ästhetischen Diskurses wird.1 Dabei sei die neuzeitliche Ästhetik (im Sinne von Carsten Zelle)2 als eine doppelte, d. h. zum einen als ‹Lehre vom Schönen›, zum anderen als ‹Lehre vom Erhabenen›, verstanden. Denn anders als das ‹nur Schöne› rührt das Erhabene das Herz und wühlt es auf, so Jean Baptiste Dubos.3 Erhaben ist, «was auch die größten Geister in Erstaunung hinreisset, oder mit Schrecken anfüllet».4 In diesem Sinne darf auch das Leiden des tragischen Helden Philoktet als pathetisch, als wild und ungestüm, als Leidenschaften erregend und somit ‹erhaben› auch im Sinne der späteren Definitionen von Kant und Schiller5 gelten. Was freilich die Erscheinungsformen und die Dramaturgie seines Leidens und seines","PeriodicalId":42033,"journal":{"name":"ANTIKE UND ABENDLAND","volume":"60 1","pages":"112 - 90"},"PeriodicalIF":0.1000,"publicationDate":"2014-01-01","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"https://sci-hub-pdf.com/10.1515/anab-2014-0108","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"ANTIKE UND ABENDLAND","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.1515/anab-2014-0108","RegionNum":4,"RegionCategory":"历史学","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"0","JCRName":"CLASSICS","Score":null,"Total":0}
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Abstract
Auf den ersten Blick sieht Philoktet, der Held der gleichnamigen griechischen Tragödie des Sophokles, wie ein Held sui generis aus: Er glänzt nicht im Kampf, er ist nicht stark und schön, vielmehr leidet er an wilden Schmerzen, hat eine eklige, stinkende Wunde – und er schreit während seiner scharfen, wiederkehrenden Schmerzattacken. Auf den zweiten Blick freilich erkennt man, dass dieser leidende Held als besonders eindrückliche Symbolfigur menschlichen Leidens, und zwar körperlichen Leidens überhaupt, zu begreifen ist. Der klassische Tragödiendichter Sophokles hat hier eine singuläre Ästhetik von Schmerz und Leiden, kurz: eine Ästhetik des Wilden, des Hässlichen in Szene gesetzt, die ihresgleichen sucht und die deswegen auch in späteren Zeiten die Gemüter derer bewegt hat, die sich mit der griechischen Tragödie, griechischen Helden und überhaupt antiken Exempla auseinander gesetzt haben. In diesem Beitrag soll zum einen (A) der bereits für die Antike erkennbare ästhetische Diskurs um das anthropologische Phänomen von ‹Schmerz› und ‹Schreien› Philoktets skizziert und zum anderen darauf aufbauend (B) gezeigt werden, wie das Exempel ‹Philoktet› in der europäischen Ästhetik des 18. Jh.s., besonders bei Johann Joachim Winckelmann, Gotthold Ephraim Lessing und Johann Gottfried Herder, also an der Schwelle zur deutschen Klassik, interpretiert und funktionalisiert wird, wie Philoktet hier zum ambivalenten Element eines weniger klassischen, als eher klassizistischen ästhetischen Diskurses wird.1 Dabei sei die neuzeitliche Ästhetik (im Sinne von Carsten Zelle)2 als eine doppelte, d. h. zum einen als ‹Lehre vom Schönen›, zum anderen als ‹Lehre vom Erhabenen›, verstanden. Denn anders als das ‹nur Schöne› rührt das Erhabene das Herz und wühlt es auf, so Jean Baptiste Dubos.3 Erhaben ist, «was auch die größten Geister in Erstaunung hinreisset, oder mit Schrecken anfüllet».4 In diesem Sinne darf auch das Leiden des tragischen Helden Philoktet als pathetisch, als wild und ungestüm, als Leidenschaften erregend und somit ‹erhaben› auch im Sinne der späteren Definitionen von Kant und Schiller5 gelten. Was freilich die Erscheinungsformen und die Dramaturgie seines Leidens und seines
期刊介绍:
The ANTIKE UND ABENDLAND yearbook was founded immediately after the Second World War by Bruno Snell as a forum for interdisciplinary discussion of topics from Antiquity and the history of their later effects. The Editorial Board contains representatives from the disciplines of Classical Studies, Ancient History, Germanic Studies, Romance Studies and English Studies. Articles are published on classical literature and its reception, the history of science, Greek myths, classical mythology and its European heritage; in addition, there are contributions on Ancient history, art, philosophy, science, religion and their significance for the history of European culture and thought.