{"title":"Von Löwen und Mönchen: Tiere in spätantiker Hagiographie","authors":"Bardo María Gauly","doi":"10.1515/anab-2019-0008","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Der Münsteraner Philosophieprofessor Blumenberg bemerkt, als er von seinem häuslichen Schreibtisch aufsieht, einen Löwen, und dieser Löwe wird in den folgenden Jahren zu seinem ständigen Begleiter; das ist die Ausgangssituation in Sibylle Lewitscharoffs Roman Blumenberg, der im Jahr 2011 erschienen ist. Allerdings bemerkt niemand in Blumenbergs Umgebung den Löwen, auch dann nicht, als er dem Professor in die Vorlesung folgt. Der einzige Mensch, der außer Blumenberg selbst den Löwen wahrnimmt, ist eine alte Nonne, die sich über das Tier ebenso wenig wundert wie der Held des Romans. Das erste Kapitel, das «Der Löwe I» überschrieben ist (es folgen noch einige weitere entsprechend betitelte Kapitel), handelt davon, wie der Philosoph mit dem ungewöhnlichen Phänomen umgeht, und stellt auch die entscheidende Frage: «Wer war der Löwe?»1 Sie wird nicht einfach beantwortet; erzählt wird, dass Blumenberg überreizt auf die sich angesichts des Löwen einstellende «Bilderflut» reagiert habe: «Agaues falscher Löwe. Die Fabel vom Hoftag des Löwen. Der Löwe des Psalmisten, brüllend. Der aus dem Lande Kanaan für immer verschwundene Löwe. Das Symboltier des Evangelisten Markus. Maria Aegyptiaca und ihr Begleitlöwe. Das fromme Tier des Hieronymus im Gehäus. Wer war der Löwe?»2 Schon zuvor hatte der Gelehrte aber eine Antwort auf eine andere Frage ventiliert, die nach dem Grund für das Auftauchen des Tieres: «Der Löwe ist zu mir gekommen, weil ich der letzte Philosoph bin, der ihn zu würdigen versteht, dachte Blumenberg.»3 Die selbstbewusste These verweist auf die Auseinandersetzung des Philosophen mit dem Problem der Begriffsbildung und mit dem Denken in Bildern; und damit wird sich der Leser des Romans nicht nur die Frage nach dem Wesen des Tieres und der Bedeutung seines Erscheinens stellen, sondern auch die nach dem Status der Hauptfigur. Offensichtlich sind wir aufgefordert, die Figur mit dem historisch verbürgten, 1996 verstorbenen Philosophen Hans Blumenberg zu identifizieren oder sie zumindest auf ihn zu beziehen, auch wenn der Vorname im ganzen Roman ungenannt bleibt. Aber die Paratexte weisen explizit auf ihn hin,4 und zu den Referenzen auf den historischen Blumenberg gehört auch die Erwähnung eines kleinen Büchleins über Löwen, das der Philosoph verfasst habe. Allerdings erscheint dieses Opusculum im Roman noch zu Lebzeiten des Philosophen, während es in der außerliterarischen Welt erst aus dem Nachlass herausgegeben worden ist.5 Nicht nur in der gerade zitierten «Bilderflut» evoziert die Erzählung die mythische, literarische und bildliche Ahnenreihe von Blumenbergs Löwen; besonders nachdrücklich wird immer wieder die Parallelität mit Hieronymus’ Löwen herausgestellt; schon im ersten","PeriodicalId":42033,"journal":{"name":"ANTIKE UND ABENDLAND","volume":"65-66 1","pages":"174 - 189"},"PeriodicalIF":0.1000,"publicationDate":"2020-09-10","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"https://sci-hub-pdf.com/10.1515/anab-2019-0008","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"ANTIKE UND ABENDLAND","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.1515/anab-2019-0008","RegionNum":4,"RegionCategory":"历史学","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"0","JCRName":"CLASSICS","Score":null,"Total":0}
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Abstract
Der Münsteraner Philosophieprofessor Blumenberg bemerkt, als er von seinem häuslichen Schreibtisch aufsieht, einen Löwen, und dieser Löwe wird in den folgenden Jahren zu seinem ständigen Begleiter; das ist die Ausgangssituation in Sibylle Lewitscharoffs Roman Blumenberg, der im Jahr 2011 erschienen ist. Allerdings bemerkt niemand in Blumenbergs Umgebung den Löwen, auch dann nicht, als er dem Professor in die Vorlesung folgt. Der einzige Mensch, der außer Blumenberg selbst den Löwen wahrnimmt, ist eine alte Nonne, die sich über das Tier ebenso wenig wundert wie der Held des Romans. Das erste Kapitel, das «Der Löwe I» überschrieben ist (es folgen noch einige weitere entsprechend betitelte Kapitel), handelt davon, wie der Philosoph mit dem ungewöhnlichen Phänomen umgeht, und stellt auch die entscheidende Frage: «Wer war der Löwe?»1 Sie wird nicht einfach beantwortet; erzählt wird, dass Blumenberg überreizt auf die sich angesichts des Löwen einstellende «Bilderflut» reagiert habe: «Agaues falscher Löwe. Die Fabel vom Hoftag des Löwen. Der Löwe des Psalmisten, brüllend. Der aus dem Lande Kanaan für immer verschwundene Löwe. Das Symboltier des Evangelisten Markus. Maria Aegyptiaca und ihr Begleitlöwe. Das fromme Tier des Hieronymus im Gehäus. Wer war der Löwe?»2 Schon zuvor hatte der Gelehrte aber eine Antwort auf eine andere Frage ventiliert, die nach dem Grund für das Auftauchen des Tieres: «Der Löwe ist zu mir gekommen, weil ich der letzte Philosoph bin, der ihn zu würdigen versteht, dachte Blumenberg.»3 Die selbstbewusste These verweist auf die Auseinandersetzung des Philosophen mit dem Problem der Begriffsbildung und mit dem Denken in Bildern; und damit wird sich der Leser des Romans nicht nur die Frage nach dem Wesen des Tieres und der Bedeutung seines Erscheinens stellen, sondern auch die nach dem Status der Hauptfigur. Offensichtlich sind wir aufgefordert, die Figur mit dem historisch verbürgten, 1996 verstorbenen Philosophen Hans Blumenberg zu identifizieren oder sie zumindest auf ihn zu beziehen, auch wenn der Vorname im ganzen Roman ungenannt bleibt. Aber die Paratexte weisen explizit auf ihn hin,4 und zu den Referenzen auf den historischen Blumenberg gehört auch die Erwähnung eines kleinen Büchleins über Löwen, das der Philosoph verfasst habe. Allerdings erscheint dieses Opusculum im Roman noch zu Lebzeiten des Philosophen, während es in der außerliterarischen Welt erst aus dem Nachlass herausgegeben worden ist.5 Nicht nur in der gerade zitierten «Bilderflut» evoziert die Erzählung die mythische, literarische und bildliche Ahnenreihe von Blumenbergs Löwen; besonders nachdrücklich wird immer wieder die Parallelität mit Hieronymus’ Löwen herausgestellt; schon im ersten
期刊介绍:
The ANTIKE UND ABENDLAND yearbook was founded immediately after the Second World War by Bruno Snell as a forum for interdisciplinary discussion of topics from Antiquity and the history of their later effects. The Editorial Board contains representatives from the disciplines of Classical Studies, Ancient History, Germanic Studies, Romance Studies and English Studies. Articles are published on classical literature and its reception, the history of science, Greek myths, classical mythology and its European heritage; in addition, there are contributions on Ancient history, art, philosophy, science, religion and their significance for the history of European culture and thought.