{"title":"Deutscher Studenten Balintpreis 2023","authors":"David Friedrich Rau","doi":"10.1055/a-2134-7003","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Die Blätter des großen Kirschbaums haben sich orange-rötlich gefärbt. Sie schweben zu Boden. Ich beobachte sie dabei. Mein Blick schweift über den großen Garten. Ich sitze in meinem ehemaligen Kinderzimmer in der Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin. Hier verbringe ich den meisten Teil meiner Lernzeit für das dritte Staatsexamen. In dieser großen Ruhe habe ich die nötige Konzentration zum Arbeiten. Es ist Oktober. Viel zu warm für diese Jahreszeit. Der Sommer und damit mein Praktisches Jahr liegen hinter mir. Mein Studium neigt sich dem Ende zu und langsam schaue ich Richtung Weihnachten, dem Zeitpunkt, an dem ich nach sieben Jahren nun endlich Arzt sein werde. Als Kind habe ich gern die französische Zeichentrickserie „Weihnachtsmann und Co. KG“ geschaut, die jedes Jahr seit 20 Jahren regelmäßig zum Fest ausgestrahlt wird. Eine Art „Dinner for One“ oder „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ für viele in meiner Generation. Und doch ist es nicht nur die Verbindung zu meiner kindlichen Vergangenheit, mein altes Zimmer und der nahende Winter, die diese Erinnerung wachrufen. Denn zur Co. KG des Weihnachtsmanns gehört in der Serie auch „Grantelbart“. Und an ihn habe ich bereits im letzten Sommer im PJ gedacht: In meinem letzten PJ-Tertial habe ich viel Zeit auf der IntensivStation verbracht. Aufgrund des allgegenwärtigen Personalmangels wurde auch hier die Zahl der Betten enorm reduziert. Verschärft wurde die Situation durch den prekären Status eines Kreiskrankenhauses in einer relativ strukturschwachen Region. Die verbliebenen ärztlichen und pflegerischen KollegInnen arbeiteten wie fast überall an und über ihrem Belastungslimit. Die Grundstimmung war angespannt bis resigniert. Gegen Ende der morgendlichen Visite nahm mich ein Arzt beiseite. Der Herr im nächsten Zimmer sei, was man einen schwierigen Patienten nenne. Er habe einen Haufen an Diagnosen. Er lehne alles außer supportiven Maßnahmen ab. Zusätzlich sei er ein wenig speziell, was ich gleich merken würde. Wir betraten das Zweibettzimmer. Allein, hinter dem blauen Raumtrenner, lag der Patient, den wir visitieren wollten. Er trug eine Sauerstoffbrille, dafür aber kein Oberteil. Sein langer zersauster grauer Bart fiel auf den dicken Bauch, der sich über die nach unten geschobene Bettdecke wölbte. Darunter lugten die Zehen hervor, unter deren brüchigen Nägeln sich ein dunkler Schmutzfilm gesammelt hatte. Der Blick des Mannes war unverwandt auf den Fernseher gerichtet, der über seinem Bett angebracht war. Aus seinen Kopfhörern knarzte das Vormittagsprogramm. Mein Blick richtete sich auf den Nachttisch, auf dem zahlreiche, teilweise geleerte, Colaflaschen standen. Eine Pflegekraft kämpfte mit dem Chaos am Bett, während sie die Elektroden für das EKG auf seiner Brust befestigte. Es schien den Patienten nicht aus seiner Ruhe zu bringen. „Guten Morgen. Wie geht es Ihnen heute?“, begann mein Kollege das Gespräch. „Ich will nach Hause“, erwiderte der Mann. Er wirkte trotz der Schwere seines Krankheitszustandes recht vital. Seine kräftigen Arme lagen ruhig an seinen Seiten. „Wir können Sie gern in wenigen Tagen entlassen, wir würden allerdings gerne erst ein paar Untersuchungen abwarten. Haben Sie in der Zwischenzeit nochmal über die Medikation nachgedacht?“ „Ich will heute nach Hause.“ Das Gespräch setzte sich auf diese Art und Weise noch eine Weile fort. Trotz der mehrfachen Betonung der guten Behandelbarkeit der Grunderkrankung und der großen Wahrscheinlichkeit zu sterben bei fehlender Medikation, beharrte unser Patient auf seinem Entlassungswunsch. Schließlich, am Ende des Gesprächs vereinbarten die beiden, dass eine Entlassung gegen ärztlichen Rat noch am gleichen Tag erfolgen sollte. Deutscher Studenten Balintpreis 2023 Endlich Zuhause","PeriodicalId":40662,"journal":{"name":"Balint-Journal","volume":"24 1","pages":"53 - 58"},"PeriodicalIF":0.1000,"publicationDate":"2023-09-01","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Balint-Journal","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.1055/a-2134-7003","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"Q4","JCRName":"PSYCHIATRY","Score":null,"Total":0}
引用次数: 0
Abstract
Die Blätter des großen Kirschbaums haben sich orange-rötlich gefärbt. Sie schweben zu Boden. Ich beobachte sie dabei. Mein Blick schweift über den großen Garten. Ich sitze in meinem ehemaligen Kinderzimmer in der Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin. Hier verbringe ich den meisten Teil meiner Lernzeit für das dritte Staatsexamen. In dieser großen Ruhe habe ich die nötige Konzentration zum Arbeiten. Es ist Oktober. Viel zu warm für diese Jahreszeit. Der Sommer und damit mein Praktisches Jahr liegen hinter mir. Mein Studium neigt sich dem Ende zu und langsam schaue ich Richtung Weihnachten, dem Zeitpunkt, an dem ich nach sieben Jahren nun endlich Arzt sein werde. Als Kind habe ich gern die französische Zeichentrickserie „Weihnachtsmann und Co. KG“ geschaut, die jedes Jahr seit 20 Jahren regelmäßig zum Fest ausgestrahlt wird. Eine Art „Dinner for One“ oder „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ für viele in meiner Generation. Und doch ist es nicht nur die Verbindung zu meiner kindlichen Vergangenheit, mein altes Zimmer und der nahende Winter, die diese Erinnerung wachrufen. Denn zur Co. KG des Weihnachtsmanns gehört in der Serie auch „Grantelbart“. Und an ihn habe ich bereits im letzten Sommer im PJ gedacht: In meinem letzten PJ-Tertial habe ich viel Zeit auf der IntensivStation verbracht. Aufgrund des allgegenwärtigen Personalmangels wurde auch hier die Zahl der Betten enorm reduziert. Verschärft wurde die Situation durch den prekären Status eines Kreiskrankenhauses in einer relativ strukturschwachen Region. Die verbliebenen ärztlichen und pflegerischen KollegInnen arbeiteten wie fast überall an und über ihrem Belastungslimit. Die Grundstimmung war angespannt bis resigniert. Gegen Ende der morgendlichen Visite nahm mich ein Arzt beiseite. Der Herr im nächsten Zimmer sei, was man einen schwierigen Patienten nenne. Er habe einen Haufen an Diagnosen. Er lehne alles außer supportiven Maßnahmen ab. Zusätzlich sei er ein wenig speziell, was ich gleich merken würde. Wir betraten das Zweibettzimmer. Allein, hinter dem blauen Raumtrenner, lag der Patient, den wir visitieren wollten. Er trug eine Sauerstoffbrille, dafür aber kein Oberteil. Sein langer zersauster grauer Bart fiel auf den dicken Bauch, der sich über die nach unten geschobene Bettdecke wölbte. Darunter lugten die Zehen hervor, unter deren brüchigen Nägeln sich ein dunkler Schmutzfilm gesammelt hatte. Der Blick des Mannes war unverwandt auf den Fernseher gerichtet, der über seinem Bett angebracht war. Aus seinen Kopfhörern knarzte das Vormittagsprogramm. Mein Blick richtete sich auf den Nachttisch, auf dem zahlreiche, teilweise geleerte, Colaflaschen standen. Eine Pflegekraft kämpfte mit dem Chaos am Bett, während sie die Elektroden für das EKG auf seiner Brust befestigte. Es schien den Patienten nicht aus seiner Ruhe zu bringen. „Guten Morgen. Wie geht es Ihnen heute?“, begann mein Kollege das Gespräch. „Ich will nach Hause“, erwiderte der Mann. Er wirkte trotz der Schwere seines Krankheitszustandes recht vital. Seine kräftigen Arme lagen ruhig an seinen Seiten. „Wir können Sie gern in wenigen Tagen entlassen, wir würden allerdings gerne erst ein paar Untersuchungen abwarten. Haben Sie in der Zwischenzeit nochmal über die Medikation nachgedacht?“ „Ich will heute nach Hause.“ Das Gespräch setzte sich auf diese Art und Weise noch eine Weile fort. Trotz der mehrfachen Betonung der guten Behandelbarkeit der Grunderkrankung und der großen Wahrscheinlichkeit zu sterben bei fehlender Medikation, beharrte unser Patient auf seinem Entlassungswunsch. Schließlich, am Ende des Gesprächs vereinbarten die beiden, dass eine Entlassung gegen ärztlichen Rat noch am gleichen Tag erfolgen sollte. Deutscher Studenten Balintpreis 2023 Endlich Zuhause