{"title":"2015 einordnen. Historische Perspektiven auf ein bewegtes Jahr. Einleitung","authors":"Jakob Schönhagen","doi":"10.1177/16118944221077407","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Amira hatte wenig Grund zur Hoffnung. Im Jahr 2015 war sie eine von vielen, eine Frau mit Kind wie ein Viertel der weltweit 65 Millionen Flüchtlinge. Ihre syrische Heimatstadt Homs war im Bürgerkrieg zerstört worden. Was 2011 als Teil des arabischen Frühlings begonnen hatte, spitzte sich in Syrien innerhalb weniger Jahre in einer verheerenden Spirale der Gewalt zu. Bis heute sind dem Syrienkrieg 600.000 Menschen zum Opfer gefallen, bis 2015 verließen zehn Millionen Syrerinnen und Syrer ihre Heimat, die Hälfte der Bevölkerung. So floh auch Amira. Sie konnte nicht wieder zurück und hatte keine Aussicht auf ein internationales Resettlement, also eine Neuansiedlung in einem Drittstatt. Im Jahr des großen Exodus aus Syrien erhielt nur 1 Prozent aller Flüchtlinge weltweit die Möglichkeit, sich in Drittstaaten niederzulassen. Mit ihrer Tochter hätte sie in Lagern an der Grenze zu Syrien Zuflucht suchen können, so wie 9 Prozent der Flüchtlinge. Diese lebten von Ration zu Ration und konnten die Camps nicht frei verlassen. An eine Selbstversorgung war nicht zu denken. Amira hätte sich auch der Mehrheit der syrischen Flüchtlinge anschließen können: Drei Viertel von ihnen tauchten in den Großstädten der Nachbarländer unter. Ohne Arbeitsund Aufenthaltserlaubnis wären allerdings auch hier die Aussichten auf ein einigermaßen selbstbestimmtes Leben begrenzt gewesen. Amira beschloss deshalb, die gefährliche Reise über das Mittelmeer nach Griechenland und von dort über die Balkanroute nach Zentraleuropa zu wagen—so wie rund eine Million syrischer Flüchtlinge. Auch Wuli war einer von vielen. Er floh 1988 als 18-Jähriger aus Somaliland, als sich die Kämpfe zwischen den Sezessionisten und dem somalischen Militär zuspitzten: Auf die Unabhängigkeitsbewegung reagierte das somalische Militär mit scharfen Repressionsmaßnahmen und breitflächigen Bombardements. 50.000 Menschen starben, 400.000 flohen innerhalb des Landes, 400.000 über die Grenzen in Flüchtlingslager in Äthiopien oder Dschibuti. So wie Wuli. Bis heute lebt er in einem Lager in Dschibuti. Das Camp liegt isoliert in einer unwirtlichen","PeriodicalId":44275,"journal":{"name":"Journal of Modern European History","volume":"20 1","pages":"2 - 7"},"PeriodicalIF":0.3000,"publicationDate":"2022-02-01","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Journal of Modern European History","FirstCategoryId":"98","ListUrlMain":"https://doi.org/10.1177/16118944221077407","RegionNum":3,"RegionCategory":"历史学","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"Q2","JCRName":"HISTORY","Score":null,"Total":0}
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Abstract
Amira hatte wenig Grund zur Hoffnung. Im Jahr 2015 war sie eine von vielen, eine Frau mit Kind wie ein Viertel der weltweit 65 Millionen Flüchtlinge. Ihre syrische Heimatstadt Homs war im Bürgerkrieg zerstört worden. Was 2011 als Teil des arabischen Frühlings begonnen hatte, spitzte sich in Syrien innerhalb weniger Jahre in einer verheerenden Spirale der Gewalt zu. Bis heute sind dem Syrienkrieg 600.000 Menschen zum Opfer gefallen, bis 2015 verließen zehn Millionen Syrerinnen und Syrer ihre Heimat, die Hälfte der Bevölkerung. So floh auch Amira. Sie konnte nicht wieder zurück und hatte keine Aussicht auf ein internationales Resettlement, also eine Neuansiedlung in einem Drittstatt. Im Jahr des großen Exodus aus Syrien erhielt nur 1 Prozent aller Flüchtlinge weltweit die Möglichkeit, sich in Drittstaaten niederzulassen. Mit ihrer Tochter hätte sie in Lagern an der Grenze zu Syrien Zuflucht suchen können, so wie 9 Prozent der Flüchtlinge. Diese lebten von Ration zu Ration und konnten die Camps nicht frei verlassen. An eine Selbstversorgung war nicht zu denken. Amira hätte sich auch der Mehrheit der syrischen Flüchtlinge anschließen können: Drei Viertel von ihnen tauchten in den Großstädten der Nachbarländer unter. Ohne Arbeitsund Aufenthaltserlaubnis wären allerdings auch hier die Aussichten auf ein einigermaßen selbstbestimmtes Leben begrenzt gewesen. Amira beschloss deshalb, die gefährliche Reise über das Mittelmeer nach Griechenland und von dort über die Balkanroute nach Zentraleuropa zu wagen—so wie rund eine Million syrischer Flüchtlinge. Auch Wuli war einer von vielen. Er floh 1988 als 18-Jähriger aus Somaliland, als sich die Kämpfe zwischen den Sezessionisten und dem somalischen Militär zuspitzten: Auf die Unabhängigkeitsbewegung reagierte das somalische Militär mit scharfen Repressionsmaßnahmen und breitflächigen Bombardements. 50.000 Menschen starben, 400.000 flohen innerhalb des Landes, 400.000 über die Grenzen in Flüchtlingslager in Äthiopien oder Dschibuti. So wie Wuli. Bis heute lebt er in einem Lager in Dschibuti. Das Camp liegt isoliert in einer unwirtlichen