{"title":"Alethische und Narrative Modelle von Verschwörungstheorien","authors":"David Heering","doi":"10.22613/zfpp/9.2.6","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Das Ziel dieses Aufsatzes ist es, dialektischen Raum für eine bisher mindestens zu wenig diskutierte Theorieoption hinsichtlich des Nachdenkens über Verschwörungstheorien zu schaffen. Die bestehende Literatur geht fast ausschließlich davon aus, dass Verschwörungstheorien Erklärungen sind. Die typische mentale Einstellung gegenüber den Inhalten von Verschwörungstheorien ist demnach die der Überzeugung – eine Einstellung also, die durch ihre repräsentationale und propositionale Struktur gekennzeichnet ist und folglich als wahr oder falsch, gut oder schlecht gerechtfertigt bewertet werden kann. Ich nenne Modelle, die dieser Annahme folgen, alethische Modelle. Alethische Modelle können Verschwörungstheorien nicht als distinkte Klasse begreifen, ohne sie als epistemisch defizitär zu kennzeichnen. Die bestehende Literatur befindet sich deshalb in einer misslichen Pattsituation: Sie muss entweder Verschwörungstheorien als Klasse Irrationalität (oder andere epistemische Defizite) unterstellen (Generalismus). Oder sie muss verneinen, dass Verschwörungstheorien eine distinkte Klasse mentaler Einstellungen darstellen. Verschwörungstheorien sind dann lediglich eine weitere Form von Theorie, Theorien über Verschwörungen, und sollten einzeln auf ihre etwaigen Mängel oder Tugenden geprüft werden (Partikularismus). Dagegen motiviert dieser Aufsatz das Forschungsprogramm der narrativen Modelle. Laut narrativen Modellen sind Verschwörungstheorien in erster Linie Geschichten – also strukturierte Fiktionen. Die für sie relevanten mentalen Einstellungen sind demnach auch Einstellungen der Fiktionalität – Spiele (make-believe) und Imagination. Fiktionen und fiktionale Einstellungen wiederum sind nicht den Normen der Vernunft unterworfen. Sie sind weder rational noch irrational. Narrative Modelle können deshalb Verschwörungstheorien als distinkte Klasse fassen, ohne sie über defizitäre Merkmale herauszugreifen. Darüber hinaus erklären sie bestimmte Merkmale des verschwörungstheoretischen Diskurses besonders gut und sie bieten neue Perspektive auf die Popularität von Verschwörungstheorien und die Interventionsmöglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen.","PeriodicalId":53352,"journal":{"name":"Zeitschrift fur Praktische Philosophie","volume":null,"pages":null},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"2023-03-28","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"1","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Zeitschrift fur Praktische Philosophie","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.22613/zfpp/9.2.6","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"Q3","JCRName":"Arts and Humanities","Score":null,"Total":0}
引用次数: 1
Abstract
Das Ziel dieses Aufsatzes ist es, dialektischen Raum für eine bisher mindestens zu wenig diskutierte Theorieoption hinsichtlich des Nachdenkens über Verschwörungstheorien zu schaffen. Die bestehende Literatur geht fast ausschließlich davon aus, dass Verschwörungstheorien Erklärungen sind. Die typische mentale Einstellung gegenüber den Inhalten von Verschwörungstheorien ist demnach die der Überzeugung – eine Einstellung also, die durch ihre repräsentationale und propositionale Struktur gekennzeichnet ist und folglich als wahr oder falsch, gut oder schlecht gerechtfertigt bewertet werden kann. Ich nenne Modelle, die dieser Annahme folgen, alethische Modelle. Alethische Modelle können Verschwörungstheorien nicht als distinkte Klasse begreifen, ohne sie als epistemisch defizitär zu kennzeichnen. Die bestehende Literatur befindet sich deshalb in einer misslichen Pattsituation: Sie muss entweder Verschwörungstheorien als Klasse Irrationalität (oder andere epistemische Defizite) unterstellen (Generalismus). Oder sie muss verneinen, dass Verschwörungstheorien eine distinkte Klasse mentaler Einstellungen darstellen. Verschwörungstheorien sind dann lediglich eine weitere Form von Theorie, Theorien über Verschwörungen, und sollten einzeln auf ihre etwaigen Mängel oder Tugenden geprüft werden (Partikularismus). Dagegen motiviert dieser Aufsatz das Forschungsprogramm der narrativen Modelle. Laut narrativen Modellen sind Verschwörungstheorien in erster Linie Geschichten – also strukturierte Fiktionen. Die für sie relevanten mentalen Einstellungen sind demnach auch Einstellungen der Fiktionalität – Spiele (make-believe) und Imagination. Fiktionen und fiktionale Einstellungen wiederum sind nicht den Normen der Vernunft unterworfen. Sie sind weder rational noch irrational. Narrative Modelle können deshalb Verschwörungstheorien als distinkte Klasse fassen, ohne sie über defizitäre Merkmale herauszugreifen. Darüber hinaus erklären sie bestimmte Merkmale des verschwörungstheoretischen Diskurses besonders gut und sie bieten neue Perspektive auf die Popularität von Verschwörungstheorien und die Interventionsmöglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen.