{"title":"[Naturheilkunde in Leitlinien: David Sackett und die frischen Frisuren].","authors":"Detmar Jobst","doi":"10.1159/000447440","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Die Sackett’sche Idee der evidenzbasierten Medizin (EBM) hat zu forschungsbasierten Therapieentscheidungen gefuhrt, Lehrmeinungen und Postulate infrage gestellt und den Wissenstransfer beschleunigt. Ein neues Zeitalter der Aufklarung in der Medizin wurde eingelautet. Man konnte sagen: Alte Zopfe wurden und werden im Licht aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse abgeschnitten, die Meinung von Opinion Leaders und Experten muss sich hinten anstellen. Auch Naturheilverfahren (NHV) wurden davon erfasst. Dann bewegte sich die EBM in eine problematische Richtung: Ihre Auslegung ging zunehmend mit starrem Blick auf Meta-Analysen und Reviews einher. Beschrieben hat David Sackett die Anwendung der EBM jedoch so: «...in making decisions about the care of individual patients, the practice of evidence based medicine means integrating individual clinical expertise with the best available external clinical evidence from systematic research» [1]. Die Ergebnisse von Meta-Analysen und Reviews bestimmen heute die Kernaussagen von Leitlinien, die wiederum in Lehrbuchern und vor Gerichten zu Richtlinien avancieren. Dabei sollten Leitlinien Wissenskorridore bilden, erfullt von den besten wissenschaftlichen Erkenntnissen, von der Expertise der arztlichen Anwender und den Bedurfnissen der Patienten. Die Sackett’sche EBM sieht diese Trias vor! Und NHV sowie die Komplementarund Alternativmedizin (CAM) in Leitlinien funktionieren aus meiner Sicht genau so am allerbesten: als evidenzgestutzte Wissenskorridore, angewendet von geschulten und kundigen Arzten, in gutem Austausch mit den Patienten und zu deren Wohl. Im Betrieb der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V., der Dachorganisation fur das Regelwerk der Leitlinienerstellung, gilt naturgemas das geschriebene Wort – der Austausch mit den Patienten und ihre Behandlung finden in Kliniken und Praxen statt. Die arztlichen Autoren und Vertreter von NHV und CAM konnen sich trotzdem glucklich schatzen, am Leitlinienschaffen teilzuhaben: Durch die geforderten Evidenzbeweise geben sie Impulse an das Forschungsgeschehen, frischen damit und durch umfangliche Literaturrecherchen die Kenntnisse uber die tradierten Lehren auf und stellen NHV und CAM im besten Fall gleichberechtigt in einer Leitlinie dar, direkt neben den Methoden der Mainstream-Medizin. Jedenfalls hat der «body of evidence», der weltweite Wissensschatz von NHV und CAM, in erfreulichem Umfang zugenommen. Im ungunstigen Fall mussen die Vertreter von NHV und CAM gegen Vorurteile von Mitautoren kampfen. Zwar mag formal eine Untersuchung uber Blutegel dem hohen Evidenzlevel 1b (z.B. fur die Linderung von Kniearthrose-Schmerzen) entsprechen. Auch mag der Blutegel als Medizinprodukt apothekengangig und verordnungsfahig, sogar abrechenbar nach der Gebuhrenordnung fur Arzte sein. Doch warum erhalt er in der Leitlinie nur die schwachste Empfehlungsstarke C? Published online: June 23, 2016","PeriodicalId":51049,"journal":{"name":"Forschende Komplementarmedizin","volume":null,"pages":null},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"2016-01-01","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"https://sci-hub-pdf.com/10.1159/000447440","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Forschende Komplementarmedizin","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.1159/000447440","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"2016/6/23 0:00:00","PubModel":"Epub","JCR":"","JCRName":"","Score":null,"Total":0}
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Abstract
Die Sackett’sche Idee der evidenzbasierten Medizin (EBM) hat zu forschungsbasierten Therapieentscheidungen gefuhrt, Lehrmeinungen und Postulate infrage gestellt und den Wissenstransfer beschleunigt. Ein neues Zeitalter der Aufklarung in der Medizin wurde eingelautet. Man konnte sagen: Alte Zopfe wurden und werden im Licht aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse abgeschnitten, die Meinung von Opinion Leaders und Experten muss sich hinten anstellen. Auch Naturheilverfahren (NHV) wurden davon erfasst. Dann bewegte sich die EBM in eine problematische Richtung: Ihre Auslegung ging zunehmend mit starrem Blick auf Meta-Analysen und Reviews einher. Beschrieben hat David Sackett die Anwendung der EBM jedoch so: «...in making decisions about the care of individual patients, the practice of evidence based medicine means integrating individual clinical expertise with the best available external clinical evidence from systematic research» [1]. Die Ergebnisse von Meta-Analysen und Reviews bestimmen heute die Kernaussagen von Leitlinien, die wiederum in Lehrbuchern und vor Gerichten zu Richtlinien avancieren. Dabei sollten Leitlinien Wissenskorridore bilden, erfullt von den besten wissenschaftlichen Erkenntnissen, von der Expertise der arztlichen Anwender und den Bedurfnissen der Patienten. Die Sackett’sche EBM sieht diese Trias vor! Und NHV sowie die Komplementarund Alternativmedizin (CAM) in Leitlinien funktionieren aus meiner Sicht genau so am allerbesten: als evidenzgestutzte Wissenskorridore, angewendet von geschulten und kundigen Arzten, in gutem Austausch mit den Patienten und zu deren Wohl. Im Betrieb der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V., der Dachorganisation fur das Regelwerk der Leitlinienerstellung, gilt naturgemas das geschriebene Wort – der Austausch mit den Patienten und ihre Behandlung finden in Kliniken und Praxen statt. Die arztlichen Autoren und Vertreter von NHV und CAM konnen sich trotzdem glucklich schatzen, am Leitlinienschaffen teilzuhaben: Durch die geforderten Evidenzbeweise geben sie Impulse an das Forschungsgeschehen, frischen damit und durch umfangliche Literaturrecherchen die Kenntnisse uber die tradierten Lehren auf und stellen NHV und CAM im besten Fall gleichberechtigt in einer Leitlinie dar, direkt neben den Methoden der Mainstream-Medizin. Jedenfalls hat der «body of evidence», der weltweite Wissensschatz von NHV und CAM, in erfreulichem Umfang zugenommen. Im ungunstigen Fall mussen die Vertreter von NHV und CAM gegen Vorurteile von Mitautoren kampfen. Zwar mag formal eine Untersuchung uber Blutegel dem hohen Evidenzlevel 1b (z.B. fur die Linderung von Kniearthrose-Schmerzen) entsprechen. Auch mag der Blutegel als Medizinprodukt apothekengangig und verordnungsfahig, sogar abrechenbar nach der Gebuhrenordnung fur Arzte sein. Doch warum erhalt er in der Leitlinie nur die schwachste Empfehlungsstarke C? Published online: June 23, 2016