Tarek Eissa, Liudmila Voronina, Marinus Huber, Frank Fleischmann, Mihaela Žigman
{"title":"Die Herausforderungen der molekularen Interpretationen von Infrarotspektren komplexer Proben","authors":"Tarek Eissa, Liudmila Voronina, Marinus Huber, Frank Fleischmann, Mihaela Žigman","doi":"10.1002/ange.202411596","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"<p>Die Infrarotspektroskopie (IR-Spektroskopie) wird traditionell als eine leistungsstarke Methode zur Analyse der Struktur einzelner organischer Verbindungen, zur Identifizierung einfacher Chemikalien oder im industriellen Einsatz zur Qualitätskontrolle und Prozessüberwachung genutzt.<span><sup>1-5</sup></span> Mittlerweile haben sich ihre Anwendungen auf die quantitative Analyse komplexer multimolekularer Mischungen ausgeweitet, einschließlich innovativer Anwendungen in der biomedizinischen Spektroskopie und Photonik.<span><sup>1, 2, 6-14</sup></span> Diese Ausweitung ist teilweise auf Fortschritte in der Instrumentierung zurückzuführen – wie verbesserte spektrale Auflösung, eine breitere Verfügbarkeit von Fourier-Transformations-IR-Spektrometern (FTIR) und zunehmend auch laserbasierte spektroskopische Methoden.<span><sup>1, 2, 15-19</sup></span> Darüber hinaus haben Fortschritte in der Computertechnik und der Molekularbiologie die IR-Spektroskopie zu einem wichtigen Werkzeug für die Hochdurchsatz-Untersuchung biologischer Proben gemacht.<span><sup>1, 2, 8, 20</sup></span></p><p>Die IR-Spektroskopie untersucht die Zusammensetzung einer gegebenen Mischung, indem sie gleichzeitig die resonante Schwingungsantwort der vorhandenen molekularen Strukturen misst, wenn diese durch IR-Strahlung angeregt werden. Der Hauptvorteil dieser Methode liegt in ihrer Fähigkeit, Informationen über eine Vielzahl molekularer Bestandteile innerhalb einer Probe in einer einzigen, markierungsfreien Messung zu liefern, die weder Vorkenntnisse noch eine aufwändige Probenvorbereitung erfordert. Bei der Analyse einzelner Substanzen oder Mischungen aus wenigen organischen Molekülen ist es in der Regel möglich, zwischen den spektroskopischen Signaturen verschiedener molekularer funktionaler Gruppen zu unterscheiden, sich auf gut definierte spektrale Bandenmuster zu verlassen und spezifische Substanzen mit hoher Sicherheit zu identifizieren.<span><sup>1, 3, 4</sup></span> Dies trifft jedoch nicht auf die Analyse von Spektren komplexerer multimolekularer Proben wie Bioflüssigkeiten, Zellbestandteilen oder anderen biologischen Medien zu. Die Überlappung von Absorptionsmaxima oder Wechselwirkungen zwischen verschiedenen molekularen Komponenten erschwert es, spektrale Signale verschiedener Funktionsgruppen spezifischen Substanzen oder gar molekularen Klassen (z. B. Kohlenhydrate, Lipide oder Proteine) zuzuordnen. Während die IR-Spektroskopie also sehr spezifisch für die Identifizierung von funktionalen Gruppen ist, kann die molekulare Interpretation von Absorptionsbanden eine Herausforderung darstellen. Zudem leidet die Methode bei der Analyse komplexer Mischungen, insbesondere zur Charackterisierung biologischer Systeme, häufig unter einer geringen molekularen Spezifität.<span><sup>21-25</sup></span></p><p>Dennoch ist der Wunsch, spektrale Signale in klinischen Szenarien spezifischen Substanzen zuzuordnen allgegenwärtig, und Fehlinterpretationen komplexer Spektren sind in der veröffentlichten Fachliteratur weit verbreitet. Nach unserer Erfahrung taucht in wissenschaftlichen Diskussionen häufig die Frage nach dem molekularen Ursprung der spektralen Signatur auf. Dies ist in der Regel jedoch nicht die richtige Fragestellung oder Sichtweise, da die Antworten oft auf zu stark vereinfachten Annahmen basieren. Diese Situation verdeutlicht ein grundlegenderes Problem: Die klassische Lehre der IR-Spektroskopie, die sich gut für einfache Matrizen eignet, lässt sich nicht direkt auf die Analyse molekular komplexer biologischer Medien übertragen. Obwohl viele Experten in diesem Bereich sich dieser Perspektive bewusst sind und sie teilen, besteht weiterhin ein dringender Bedarf an einem breiteren Paradigmenwechsel in der Art und Weise, wie spektrale Daten interpretiert und präsentiert werden. Es sollte ein Rahmen geschaffen werden, der die Komplexität biologischer Systeme angemessen berücksichtigt.</p><p>In diesem Scientific Perspective Artikel untersuchen wir kritisch die Grenzen bei der Analyse komplexer Spektren – ein Thema, das unserer Meinung nach direkter und umfassender in der wissenschaftlichen Literatur behandelt werden sollte. Unser Fokus liegt auf der IR-Spektroskopie von menschlichen Blutderivaten – nativem Serum und Plasma. Wir beleuchten Beispiele aus früheren Studien, bei denen molekulare Interpretationen von vernünftigen und höchstwahrscheinlich korrekten Schlussfolgerungen bis hin zu hoch spekulativen und fragwürdigen Ergebnissen reichen. Anhand von Daten aus mehreren Fall-Kontroll- und Gesundheitsdiagnostik-Szenarien, die wir bereits untersucht haben, zeigen wir auf: (i) wie molekulare Interpretationen durch die Überlappung spektral ähnlicher, aber biologisch sehr unterschiedlicher Substanzen in die Irre geführt werden können; (ii) wie die Vorverarbeitung von Messdaten die Interpretation beeinflussen kann; und (iii) wie die Verknüpfung von niedrig konzentrierten Substanzen, z. B. DNA/RNA oder Protein-Biomarkern wie Krebsantigen 125 (CA125) oder Prostata-spezifischem Antigen (PSA), mit spektralen Signalen durch die Messsensitivität und Hintergrundvariabilität beeinträchtigt wird. Unsere Analysen und Schlussfolgerungen basieren auf verschiedenen Fallbeispielen von Molekülen, die in zellfreiem menschlichen Blut vorkommen – Proteine, Lipidpartikel, Nukleinsäuren und wasserlösliche Metaboliten (Ergänzende Tabelle S1), für die wir IR-Spektren gemessen haben. Darüber hinaus nutzen wir Spektren von mehreren tausend Blutserum- und Plasmaproben, die in den letzten zehn Jahren in unserem Labor experimentell gewonnen wurden.</p><p>Letztendlich fordern wir Anwender und Fachleute im Bereich der biomedizinischen IR-Spektroskopie auf, die Fingerabdruck-Natur dieses Ansatzes zu akzeptieren, welcher inhärent nicht über ausreichende molekulare Spezifität verfügt. Wichtig ist jedoch, dass diese Eigenschaft nicht verhindert, dass IR-Spektren spezifisch für eine Person oder einen physiologischen Zustand sein können. Um den Informationsgehalt von IR-molekularen Fingerabdrücken vollständig zu erfassen, können geeignete maschinelle Lernmethoden verwendet werden.<span><sup>1, 7, 24, 26-28</sup></span> In Anwendungsszenarien, in denen eine molekulare Interpretation experimenteller IR-spektroskopischer Signaturen erforderlich ist, sollten orthogonale, molekularspezifische Ansätze einbezogen oder die Proben auf eine Weise vorbereitet werden, die ihre molekulare Komplexität reduziert.<span><sup>10, 29-33</sup></span> Obwohl wir uns auf die IR-Spektroskopie von flüssigen Blutderivaten konzentrieren, gelten die von uns diskutierten Prinzipien allgemein für die Vibrationsspektroskopie unterschiedlicher biologischer Proben (z. B. Liquor oder interstitielle Flüssigkeit).<span><sup>34</sup></span> Wir möchten dazu beitragen und anleiten, die Schwingungsspektroskopie als zuverlässiges biomedizinisches Werkzeug zu etablieren, während wir gleichzeitig ihre Grenzen anerkennen. Wir sind überzeugt, dass der vorgeschlagene Ansatz zu einer breiteren Akzeptanz der technologischen Stärken dieser Technik führen und dazu beitragen wird, die Lücke zu schließen, um die Technologie näher an klinische Anwendungen heranzuführen.</p><p>In dieser Perspektive haben wir die kritischen, aber oft übersehenen Feinheiten bei der Analyse von Schwingungsspektraldaten hervorgehoben, insbesondere der IR-Spektroskopie von zellfreiem Blut. Die Fähigkeit der Methode, molekulare Fingerabdrücke zu liefern, ist in ihrer Einfachheit, Geschwindigkeit und molekularen Breite unübertroffen – was sie zu einem erstklassigen Kandidaten für die Aufnahme in diagnostische Arbeitsabläufe mit hohem Durchsatz macht. Um die Technologie weiter voranzubringen und sie für die praktische Anwendung in der medizinischen Diagnostik nutzbar zu machen, muss man sich jedoch stets ihrer Grenzen bewusst sein.</p><p>In unseren diskutierten Fallstudien wurden Tausende von blutbasierten Spektren verwendet, zusätzlich zu den Spektren der vorherrschenden Proteine, der wichtigsten Lipidpartikel und der wichtigsten Metaboliten. Diese Einzelkomponentenspektren bilden zusammen die Hauptbestandteile des zellfreien Blutes. Wir räumen jedoch ein, dass dies keine erschöpfende Liste aller Blutbestandteile ist und dass unser Ansatz intermolekulare Wechselwirkungen nicht berücksichtigt hat.<span><sup>92</sup></span> Wie unsere Analyse jedoch zeigt, wird die Isolierung des Signals spezifischer Moleküle in komplexen Mischungen noch schwieriger, wenn man den Umfang der analysierten Substanzen erweitert und die Wechselwirkungen zwischen diesen molekularen Komponenten berücksichtigt.</p><p>Für die Zukunft plädieren wir für mehr Vorsicht bei der Interpretation von IR-Spektren, um spekulative Schlussfolgerungen zu vermeiden, was die Anwendung und Akzeptanz von Forschungsergebnissen, insbesondere im klinischen Umfeld, untergraben könnte. Stattdessen sollte die Hochdurchsatz-Fingerabdruck-Natur des Ansatzes akzeptiert werden. Indem wir sowohl die Möglichkeiten als auch die Grenzen dieses Ansatzes akzeptieren, können wir robuste spektroskopische Analyseverfahren effektiver gestalten.</p><p>Die Autoren erklären, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.</p><p><i>Tarek Eissa begann sein Studium der Informatik an der American University in Kairo, bevor er an die Technische Universität München wechselte, wo er seinen Master in Data Engineering and Analytics machte. Derzeit promoviert er im Team von Broadband Infrared Diagnostics (BIRD) am Lehrstuhl für Laserphysik der Ludwig-Maximilians-Universität München in Kooperation mit dem Lehrstuhl für Bioinformatik der Technischen Universität München. Angetrieben von seinem Interesse an Datenwissenschaft, konzentriert sich Tareks Forschung auf die Analyse von blutbasierten Infrarotspektren für die klinische Diagnostik</i>.</p><p><i>Liudmila Voronina studierte am Moskauer Institut für Physik und Technologie, bevor sie an die Eidgenössische Technische Hochschule Lausanne wechselte, wo sie ihren Doktortitel in Physikalischer Chemie erwarb. Im Jahr 2017 trat sie als Postdoc.Mobility-Stipendiatin des Schweizerischen Nationalfonds der Broadband Infrared Diagnostics Gruppe am Lehrstuhl für Laserphysik der Ludwig-Maximilians-Universität München bei. Seitdem ist Liudmila als leitende Wissenschaftlerin tätig und hat ihre Forschungsinteressen von der Spektroskopie einzelner Biomoleküle auf Anwendungen von Flüssigbiopsien ausgeweitet</i>.</p><p><i>Marinus Huber studierte Physik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und der Ludwig-Maximilians-Universität München und schloss seine Masterarbeit an der Harvard University ab. Für seine Promotion an der Ludwig-Maximilians-Universität entwickelte er neue laserbasierte Infrarotspektroskopie-Methoden für die medizinische Diagnostik. Diese Arbeit setzte er als Postdoktorand am Max-Planck-Institut für Quantenoptik, an der Friedrich-Schiller-Universität sowie an der Universität Kaiserslautern-Landau fort, wobei er sich auf innovative Anwendungen der Infrarotspektroskopie zur Analyse von Flüssigkeiten und Zellen konzentrierte</i>.</p><p><i>Frank Fleischmann studierte Biologie an der Technischen Universität München und promovierte dort im Fach Phytopathologie. Nach seiner Postdoktorandenforschung in der Forstpathologie an derselben Universität arbeitete er beim Genetik-Dienstleister IMGM Laboratories in Martinsried. Im Jahr 2018 schloss sich Frank dem Broadband Infrared Diagnostics (BIRD) Team am Lehrstuhl für Laserphysik der Ludwig-Maximilians-Universität München an, wo er sich auf die Etablierung und Anwendung der Infrarot-Molekülspektroskopie zur Analyse komplexer menschlicher Proben konzentriert</i>.</p><p><i>Mihaela Žigman studierte Molekularbiologie an der Universität Ljubljana und promovierte an der Universität Wien. Während ihrer Postdoktorandenforschung am Institut für Molekulare Biotechnologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien und am Fred Hutchinson Cancer Research Center in Seattle untersuchte sie molekulare Mechanismen, die die Zellteilung steuern. Nach ihrer Forschung an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg kam sie 2015 an die Ludwig-Maximilians-Universität München. Mihaela etablierte dort die Forschungsgruppe Broadband Infrared Diagnostics (BIRD), die Infrarot-Molekülspektroskopie zur Analyse und Kartierung der menschlichen Gesundheit einsetzt</i>.</p>","PeriodicalId":7803,"journal":{"name":"Angewandte Chemie","volume":"136 50","pages":""},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"2024-11-07","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"https://onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.1002/ange.202411596","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Angewandte Chemie","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/ange.202411596","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"","JCRName":"","Score":null,"Total":0}
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Abstract
Die Infrarotspektroskopie (IR-Spektroskopie) wird traditionell als eine leistungsstarke Methode zur Analyse der Struktur einzelner organischer Verbindungen, zur Identifizierung einfacher Chemikalien oder im industriellen Einsatz zur Qualitätskontrolle und Prozessüberwachung genutzt.1-5 Mittlerweile haben sich ihre Anwendungen auf die quantitative Analyse komplexer multimolekularer Mischungen ausgeweitet, einschließlich innovativer Anwendungen in der biomedizinischen Spektroskopie und Photonik.1, 2, 6-14 Diese Ausweitung ist teilweise auf Fortschritte in der Instrumentierung zurückzuführen – wie verbesserte spektrale Auflösung, eine breitere Verfügbarkeit von Fourier-Transformations-IR-Spektrometern (FTIR) und zunehmend auch laserbasierte spektroskopische Methoden.1, 2, 15-19 Darüber hinaus haben Fortschritte in der Computertechnik und der Molekularbiologie die IR-Spektroskopie zu einem wichtigen Werkzeug für die Hochdurchsatz-Untersuchung biologischer Proben gemacht.1, 2, 8, 20
Die IR-Spektroskopie untersucht die Zusammensetzung einer gegebenen Mischung, indem sie gleichzeitig die resonante Schwingungsantwort der vorhandenen molekularen Strukturen misst, wenn diese durch IR-Strahlung angeregt werden. Der Hauptvorteil dieser Methode liegt in ihrer Fähigkeit, Informationen über eine Vielzahl molekularer Bestandteile innerhalb einer Probe in einer einzigen, markierungsfreien Messung zu liefern, die weder Vorkenntnisse noch eine aufwändige Probenvorbereitung erfordert. Bei der Analyse einzelner Substanzen oder Mischungen aus wenigen organischen Molekülen ist es in der Regel möglich, zwischen den spektroskopischen Signaturen verschiedener molekularer funktionaler Gruppen zu unterscheiden, sich auf gut definierte spektrale Bandenmuster zu verlassen und spezifische Substanzen mit hoher Sicherheit zu identifizieren.1, 3, 4 Dies trifft jedoch nicht auf die Analyse von Spektren komplexerer multimolekularer Proben wie Bioflüssigkeiten, Zellbestandteilen oder anderen biologischen Medien zu. Die Überlappung von Absorptionsmaxima oder Wechselwirkungen zwischen verschiedenen molekularen Komponenten erschwert es, spektrale Signale verschiedener Funktionsgruppen spezifischen Substanzen oder gar molekularen Klassen (z. B. Kohlenhydrate, Lipide oder Proteine) zuzuordnen. Während die IR-Spektroskopie also sehr spezifisch für die Identifizierung von funktionalen Gruppen ist, kann die molekulare Interpretation von Absorptionsbanden eine Herausforderung darstellen. Zudem leidet die Methode bei der Analyse komplexer Mischungen, insbesondere zur Charackterisierung biologischer Systeme, häufig unter einer geringen molekularen Spezifität.21-25
Dennoch ist der Wunsch, spektrale Signale in klinischen Szenarien spezifischen Substanzen zuzuordnen allgegenwärtig, und Fehlinterpretationen komplexer Spektren sind in der veröffentlichten Fachliteratur weit verbreitet. Nach unserer Erfahrung taucht in wissenschaftlichen Diskussionen häufig die Frage nach dem molekularen Ursprung der spektralen Signatur auf. Dies ist in der Regel jedoch nicht die richtige Fragestellung oder Sichtweise, da die Antworten oft auf zu stark vereinfachten Annahmen basieren. Diese Situation verdeutlicht ein grundlegenderes Problem: Die klassische Lehre der IR-Spektroskopie, die sich gut für einfache Matrizen eignet, lässt sich nicht direkt auf die Analyse molekular komplexer biologischer Medien übertragen. Obwohl viele Experten in diesem Bereich sich dieser Perspektive bewusst sind und sie teilen, besteht weiterhin ein dringender Bedarf an einem breiteren Paradigmenwechsel in der Art und Weise, wie spektrale Daten interpretiert und präsentiert werden. Es sollte ein Rahmen geschaffen werden, der die Komplexität biologischer Systeme angemessen berücksichtigt.
In diesem Scientific Perspective Artikel untersuchen wir kritisch die Grenzen bei der Analyse komplexer Spektren – ein Thema, das unserer Meinung nach direkter und umfassender in der wissenschaftlichen Literatur behandelt werden sollte. Unser Fokus liegt auf der IR-Spektroskopie von menschlichen Blutderivaten – nativem Serum und Plasma. Wir beleuchten Beispiele aus früheren Studien, bei denen molekulare Interpretationen von vernünftigen und höchstwahrscheinlich korrekten Schlussfolgerungen bis hin zu hoch spekulativen und fragwürdigen Ergebnissen reichen. Anhand von Daten aus mehreren Fall-Kontroll- und Gesundheitsdiagnostik-Szenarien, die wir bereits untersucht haben, zeigen wir auf: (i) wie molekulare Interpretationen durch die Überlappung spektral ähnlicher, aber biologisch sehr unterschiedlicher Substanzen in die Irre geführt werden können; (ii) wie die Vorverarbeitung von Messdaten die Interpretation beeinflussen kann; und (iii) wie die Verknüpfung von niedrig konzentrierten Substanzen, z. B. DNA/RNA oder Protein-Biomarkern wie Krebsantigen 125 (CA125) oder Prostata-spezifischem Antigen (PSA), mit spektralen Signalen durch die Messsensitivität und Hintergrundvariabilität beeinträchtigt wird. Unsere Analysen und Schlussfolgerungen basieren auf verschiedenen Fallbeispielen von Molekülen, die in zellfreiem menschlichen Blut vorkommen – Proteine, Lipidpartikel, Nukleinsäuren und wasserlösliche Metaboliten (Ergänzende Tabelle S1), für die wir IR-Spektren gemessen haben. Darüber hinaus nutzen wir Spektren von mehreren tausend Blutserum- und Plasmaproben, die in den letzten zehn Jahren in unserem Labor experimentell gewonnen wurden.
Letztendlich fordern wir Anwender und Fachleute im Bereich der biomedizinischen IR-Spektroskopie auf, die Fingerabdruck-Natur dieses Ansatzes zu akzeptieren, welcher inhärent nicht über ausreichende molekulare Spezifität verfügt. Wichtig ist jedoch, dass diese Eigenschaft nicht verhindert, dass IR-Spektren spezifisch für eine Person oder einen physiologischen Zustand sein können. Um den Informationsgehalt von IR-molekularen Fingerabdrücken vollständig zu erfassen, können geeignete maschinelle Lernmethoden verwendet werden.1, 7, 24, 26-28 In Anwendungsszenarien, in denen eine molekulare Interpretation experimenteller IR-spektroskopischer Signaturen erforderlich ist, sollten orthogonale, molekularspezifische Ansätze einbezogen oder die Proben auf eine Weise vorbereitet werden, die ihre molekulare Komplexität reduziert.10, 29-33 Obwohl wir uns auf die IR-Spektroskopie von flüssigen Blutderivaten konzentrieren, gelten die von uns diskutierten Prinzipien allgemein für die Vibrationsspektroskopie unterschiedlicher biologischer Proben (z. B. Liquor oder interstitielle Flüssigkeit).34 Wir möchten dazu beitragen und anleiten, die Schwingungsspektroskopie als zuverlässiges biomedizinisches Werkzeug zu etablieren, während wir gleichzeitig ihre Grenzen anerkennen. Wir sind überzeugt, dass der vorgeschlagene Ansatz zu einer breiteren Akzeptanz der technologischen Stärken dieser Technik führen und dazu beitragen wird, die Lücke zu schließen, um die Technologie näher an klinische Anwendungen heranzuführen.
In dieser Perspektive haben wir die kritischen, aber oft übersehenen Feinheiten bei der Analyse von Schwingungsspektraldaten hervorgehoben, insbesondere der IR-Spektroskopie von zellfreiem Blut. Die Fähigkeit der Methode, molekulare Fingerabdrücke zu liefern, ist in ihrer Einfachheit, Geschwindigkeit und molekularen Breite unübertroffen – was sie zu einem erstklassigen Kandidaten für die Aufnahme in diagnostische Arbeitsabläufe mit hohem Durchsatz macht. Um die Technologie weiter voranzubringen und sie für die praktische Anwendung in der medizinischen Diagnostik nutzbar zu machen, muss man sich jedoch stets ihrer Grenzen bewusst sein.
In unseren diskutierten Fallstudien wurden Tausende von blutbasierten Spektren verwendet, zusätzlich zu den Spektren der vorherrschenden Proteine, der wichtigsten Lipidpartikel und der wichtigsten Metaboliten. Diese Einzelkomponentenspektren bilden zusammen die Hauptbestandteile des zellfreien Blutes. Wir räumen jedoch ein, dass dies keine erschöpfende Liste aller Blutbestandteile ist und dass unser Ansatz intermolekulare Wechselwirkungen nicht berücksichtigt hat.92 Wie unsere Analyse jedoch zeigt, wird die Isolierung des Signals spezifischer Moleküle in komplexen Mischungen noch schwieriger, wenn man den Umfang der analysierten Substanzen erweitert und die Wechselwirkungen zwischen diesen molekularen Komponenten berücksichtigt.
Für die Zukunft plädieren wir für mehr Vorsicht bei der Interpretation von IR-Spektren, um spekulative Schlussfolgerungen zu vermeiden, was die Anwendung und Akzeptanz von Forschungsergebnissen, insbesondere im klinischen Umfeld, untergraben könnte. Stattdessen sollte die Hochdurchsatz-Fingerabdruck-Natur des Ansatzes akzeptiert werden. Indem wir sowohl die Möglichkeiten als auch die Grenzen dieses Ansatzes akzeptieren, können wir robuste spektroskopische Analyseverfahren effektiver gestalten.
Die Autoren erklären, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.
Tarek Eissa begann sein Studium der Informatik an der American University in Kairo, bevor er an die Technische Universität München wechselte, wo er seinen Master in Data Engineering and Analytics machte. Derzeit promoviert er im Team von Broadband Infrared Diagnostics (BIRD) am Lehrstuhl für Laserphysik der Ludwig-Maximilians-Universität München in Kooperation mit dem Lehrstuhl für Bioinformatik der Technischen Universität München. Angetrieben von seinem Interesse an Datenwissenschaft, konzentriert sich Tareks Forschung auf die Analyse von blutbasierten Infrarotspektren für die klinische Diagnostik.
Liudmila Voronina studierte am Moskauer Institut für Physik und Technologie, bevor sie an die Eidgenössische Technische Hochschule Lausanne wechselte, wo sie ihren Doktortitel in Physikalischer Chemie erwarb. Im Jahr 2017 trat sie als Postdoc.Mobility-Stipendiatin des Schweizerischen Nationalfonds der Broadband Infrared Diagnostics Gruppe am Lehrstuhl für Laserphysik der Ludwig-Maximilians-Universität München bei. Seitdem ist Liudmila als leitende Wissenschaftlerin tätig und hat ihre Forschungsinteressen von der Spektroskopie einzelner Biomoleküle auf Anwendungen von Flüssigbiopsien ausgeweitet.
Marinus Huber studierte Physik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und der Ludwig-Maximilians-Universität München und schloss seine Masterarbeit an der Harvard University ab. Für seine Promotion an der Ludwig-Maximilians-Universität entwickelte er neue laserbasierte Infrarotspektroskopie-Methoden für die medizinische Diagnostik. Diese Arbeit setzte er als Postdoktorand am Max-Planck-Institut für Quantenoptik, an der Friedrich-Schiller-Universität sowie an der Universität Kaiserslautern-Landau fort, wobei er sich auf innovative Anwendungen der Infrarotspektroskopie zur Analyse von Flüssigkeiten und Zellen konzentrierte.
Frank Fleischmann studierte Biologie an der Technischen Universität München und promovierte dort im Fach Phytopathologie. Nach seiner Postdoktorandenforschung in der Forstpathologie an derselben Universität arbeitete er beim Genetik-Dienstleister IMGM Laboratories in Martinsried. Im Jahr 2018 schloss sich Frank dem Broadband Infrared Diagnostics (BIRD) Team am Lehrstuhl für Laserphysik der Ludwig-Maximilians-Universität München an, wo er sich auf die Etablierung und Anwendung der Infrarot-Molekülspektroskopie zur Analyse komplexer menschlicher Proben konzentriert.
Mihaela Žigman studierte Molekularbiologie an der Universität Ljubljana und promovierte an der Universität Wien. Während ihrer Postdoktorandenforschung am Institut für Molekulare Biotechnologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien und am Fred Hutchinson Cancer Research Center in Seattle untersuchte sie molekulare Mechanismen, die die Zellteilung steuern. Nach ihrer Forschung an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg kam sie 2015 an die Ludwig-Maximilians-Universität München. Mihaela etablierte dort die Forschungsgruppe Broadband Infrared Diagnostics (BIRD), die Infrarot-Molekülspektroskopie zur Analyse und Kartierung der menschlichen Gesundheit einsetzt.