{"title":"„Experimentierräume“ beibehalten!","authors":"W. Habelitz-Tkotz, H. Klemeyer, J. Friedrich","doi":"10.1002/ckon.202400051","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"<p><i>Theorie und Experiment, sie gehören zusammen; eines ohne das andere bleibt unfruchtbar. Theorien ohne Experimente sind leer, Experimente ohne Theorie sind blind. Darum fordern beide, Theorie und Experiment, mit gleichem Nachdruck die ihnen gebührende Beachtung</i>. (Max Planck)</p><p>Liebe Leserinnen, liebe Leser,</p><p>das Experiment ist ein wesentlicher Bestandteil der naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung und spielt eine Schlüsselrolle im Unterricht. Es ermöglicht die Erschließung neuer, aktueller und gesellschaftlich relevanter Themenfelder. Im problemorientierten naturwissenschaftlichen Unterricht ist das Experiment zentral, da nur durch die experimentelle Überprüfung von Hypothesen Modelle, Theorien oder Gesetzmäßigkeiten entstehen können. Durch den Dreiklang von Denken, planmäßigem Handeln und Experimentieren wird die naturwissenschaftliche Erfahrung erweitert. Experimente fördern auch das Lernen über die Sinne, indem sie Schülerinnen und Schülern ermöglichen, chemische Reaktionen aktiv zu erleben.</p><p>Trotz dieser wichtigen Funktionen tritt das Experimentieren im Chemieunterricht zunehmend in den Hintergrund. Dies liegt unter anderem daran, dass Lehrkräfte zu Beginn ihrer Berufslaufbahn oft nicht über ausreichende experimentelle Fähigkeiten verfügen. Hinzu kommen die strengen Anforderungen des EU-Gefahrstoffrechts, das seit der RiSU 2013 auch im Schulbetrieb Anwendung findet. Dies hat die Konsequenz, dass immer, wenn mit Gefahrstoffen experimentiert wird, zuvor die damit verbundenen Gefährdungen schriftlich beurteilt sein müssen. Dabei sind vier Aspekte wichtig:</p><p>Die Beurteilung der Gefährdungen durch die Stoffgefahren einschließlich des ersten Aspekts wird bei den experimentellen Versuchsvorschriften, die kostenfrei mit der Datenbank DEGINTU zur Verfügung stehen, stets aktuell abgedeckt. Die RiSU 23 ermöglicht sogar den Lehrkräften, denen die notwendigen Kompetenzen zur Beurteilung der Experimente fehlen, bereits vorhandene Gefährdungsbeurteilungen Dritter zu verwenden.</p><p>Im Anschluss an die durch Fernunterricht geprägten Corona-Pandemie haben viele Lehrkräfte den experimentellen Unterricht nicht wieder aufgenommen, denn angesichts der chronischen Arbeitsüberlastung hat dieser oft das Nachsehen.</p><p>Außerdem fehlen in vielen Schulen angemessene Lernumgebungen für den experimentellen Chemieunterricht, was die Durchführung von Experimenten erschwert.</p><p>Angesichts dieser Situation wurde die Arbeitsgruppe „Experimentalunterricht“ gegründet, um die Bedeutung von Experimenten im Chemieunterricht zu stärken und die Arbeit der Chemielehrkräfte zu unterstützen. Die Arbeitsgruppe arbeitet auf drei Ebenen:</p><p>Die Arbeit der AG Experimentalunterricht zeigt dennoch nur eine begrenzte Wirkung, denn:</p><p>Die Ursache für diese Mängel liegt nicht allein in der Unterfinanzierung der Bildung, sondern auch in einer politischen Schwerpunktsetzung, die Ganztagsbetreuung und Inklusion priorisiert. Als Speerspitze für diese Entwicklung gelten die Montag-Stiftungen, die zum Thema Schulentwicklung und Schulbau diverse Schriften veröffentlicht und in diesem Sinn Schulbauberater ausgebildet hat. Die Strategien zur Anpassung von Bestandsgebäuden der Montag-Stiftungen führen beispielsweise dazu aus:</p><p><i>Fachunterrichtsräume werden in ihren Ausstattungsstandards deutlich zurückgenommen und wie gut ausgestattete Mehrzweckräume organisiert. dieses Konzept geht davon aus, dass bei einem handlungsorientierten Unterricht in den Naturwissenschaften keine hochwertigen Laborbedingungen erforderlich sind. Ein Wasseranschluss–so die These–ist nötig, aber schon der oft selbstverständliche Gasanschluss lässt sich vielfach durch einen handelsüblichen Kartuschengasbrenner ersetzen. Abzugshauben sind nur ganz punktuell vorzusehen im Gegenzug ergeben sich wesentlich flexiblere Möblierungs- und somit auch Unterrichtsoptionen. Statt in Ausstattung wird eher in Fläche investiert. Hinzu kommt, dass durch den Einsatz eines mobilen Laborwagens viele Experimente flexibel in ganz unterschiedlichen Räumen durchgeführt werden können–dann auch im normalen Unterrichtsbereich oder im Freiraum</i>. (Werkstattbericht „Schulumbau - Strategien zur Anpassung von Bestandsgebäuden“, Montag-Stiftungen „Urbane Räume“ und „Jugend und Gesellschaft“, 2012, Seite 20, Kapitel 3.3 Fachräume, S. 20: https://digital.zlb.de/viewer/api/v1/records/15879414/files/images/MUR_MJG_Schulumbau.pdf/full.pdf)</p><p>Obschon diese Textpassage sich aufgrund der hier zum Ausdruck gebrachten unerträglichen Arroganz gegenüber der Didaktik der Naturwissenschaft und der Ignoranz gegenüber den Grundsätzen der Arbeitssicherheit als Arbeitsgrundlage disqualifizieren sollte, werden jetzt eine Dekade später von einem namhaften Ausstatter für naturwissenschaftliche Fachräume Laborwagen für den mobilen Chemieunterricht unter dem Namen „Medienbuddys“ angeboten. Diese Medienbuddys können Sie mobil in jeden Klassenraum verfrachten, eine 6 Liter Gaskartusche ist im Inneren verborgen und versehen ist sie mit Stromanschlüssen, W-Lan- und diversen anderen Computeranschlüssen und betrieben werden kann sie mit einem Li-Ionen-Akku, der ebenfalls im Inneren verbaut ist. Damit brauchen wir also auch keine Fachräume mehr und „hurra“, das Problem ist gelöst … Ach und nebenbei, für den Fall, dass Wasseranschlüsse fehlen, gibt es auch hierfür einen Laborwagen vom Typ „Aqua-Mobil“, den Chemielehrkräfte vor dem Unterricht betanken und danach entleeren sollen.</p><p>Infolge dessen werden bei Schulumbauten oft Fachräume zurückgebaut oder durch Mehrzweckräume ersetzt, was die Durchführung von Experimenten weiter erschwert.</p><p>Die Arbeitsgruppe hat daher eine Checkliste zur Ausstattung von Fachräumen erstellt, um sicherzustellen, dass diese den Sicherheitsstandards entsprechen. Diese Checkliste ist online verfügbar unter https://www.gdch.de/fileadmin/downloads/Netzwerk_und_Strukturen/Fachgruppen/Chemieunterricht/PDF/Experimentalunterricht_Fachraeume_Checkliste_FGCU.pdf</p><p>Zusätzlich wurde ein Whitepaper zur Situation des chemischen Experimentalunterrichts verfasst, das Missstände aufzeigt und konkrete Lösungsvorschläge bietet. Dieses Papier wurde den Kultusministerien aller Bundesländer vorgelegt, um auf die Notwendigkeit von Verbesserungen im Chemieunterricht hinzuweisen. Das Papier ist online verfügbar; https://www.gdch.de/fileadmin/downloads/Publikationen/Weitere_Publikationen/PDF/2024_Whitepaper-ExpunterrichtV3-mit-Anlagen.pdf</p><p>Zurück zum Titel dieses Editorials: <i>„Experimentierräume“ beibehalten</i> meint daher nicht nur, dass Schulen über die notwendige Ausstattung an Fachräumen und Chemikalien verfügen, sondern auch, dass Chemielehrkräfte entsprechend ausgebildet und fortgebildet und die notwendigen Ressourcen hierfür bereitgestellt werden. Die Arbeitsgruppe wird sich weiterhin vehement dafür einsetzen, dass der experimentelle Chemieunterricht gestärkt wird und die ihm gebührende zentrale Rolle im naturwissenschaftlichen Unterricht behält.</p><p><i>Jens Friedrich ist Professor für Chemie und Chemie-Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg und Sprecher der Arbeitsgruppe Experimentalunterricht</i>.</p>","PeriodicalId":43673,"journal":{"name":"ChemKon","volume":"31 7","pages":"239-240"},"PeriodicalIF":0.4000,"publicationDate":"2024-10-11","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"https://onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.1002/ckon.202400051","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"ChemKon","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/ckon.202400051","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"Q4","JCRName":"EDUCATION, SCIENTIFIC DISCIPLINES","Score":null,"Total":0}
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Abstract
Theorie und Experiment, sie gehören zusammen; eines ohne das andere bleibt unfruchtbar. Theorien ohne Experimente sind leer, Experimente ohne Theorie sind blind. Darum fordern beide, Theorie und Experiment, mit gleichem Nachdruck die ihnen gebührende Beachtung. (Max Planck)
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
das Experiment ist ein wesentlicher Bestandteil der naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung und spielt eine Schlüsselrolle im Unterricht. Es ermöglicht die Erschließung neuer, aktueller und gesellschaftlich relevanter Themenfelder. Im problemorientierten naturwissenschaftlichen Unterricht ist das Experiment zentral, da nur durch die experimentelle Überprüfung von Hypothesen Modelle, Theorien oder Gesetzmäßigkeiten entstehen können. Durch den Dreiklang von Denken, planmäßigem Handeln und Experimentieren wird die naturwissenschaftliche Erfahrung erweitert. Experimente fördern auch das Lernen über die Sinne, indem sie Schülerinnen und Schülern ermöglichen, chemische Reaktionen aktiv zu erleben.
Trotz dieser wichtigen Funktionen tritt das Experimentieren im Chemieunterricht zunehmend in den Hintergrund. Dies liegt unter anderem daran, dass Lehrkräfte zu Beginn ihrer Berufslaufbahn oft nicht über ausreichende experimentelle Fähigkeiten verfügen. Hinzu kommen die strengen Anforderungen des EU-Gefahrstoffrechts, das seit der RiSU 2013 auch im Schulbetrieb Anwendung findet. Dies hat die Konsequenz, dass immer, wenn mit Gefahrstoffen experimentiert wird, zuvor die damit verbundenen Gefährdungen schriftlich beurteilt sein müssen. Dabei sind vier Aspekte wichtig:
Die Beurteilung der Gefährdungen durch die Stoffgefahren einschließlich des ersten Aspekts wird bei den experimentellen Versuchsvorschriften, die kostenfrei mit der Datenbank DEGINTU zur Verfügung stehen, stets aktuell abgedeckt. Die RiSU 23 ermöglicht sogar den Lehrkräften, denen die notwendigen Kompetenzen zur Beurteilung der Experimente fehlen, bereits vorhandene Gefährdungsbeurteilungen Dritter zu verwenden.
Im Anschluss an die durch Fernunterricht geprägten Corona-Pandemie haben viele Lehrkräfte den experimentellen Unterricht nicht wieder aufgenommen, denn angesichts der chronischen Arbeitsüberlastung hat dieser oft das Nachsehen.
Außerdem fehlen in vielen Schulen angemessene Lernumgebungen für den experimentellen Chemieunterricht, was die Durchführung von Experimenten erschwert.
Angesichts dieser Situation wurde die Arbeitsgruppe „Experimentalunterricht“ gegründet, um die Bedeutung von Experimenten im Chemieunterricht zu stärken und die Arbeit der Chemielehrkräfte zu unterstützen. Die Arbeitsgruppe arbeitet auf drei Ebenen:
Die Arbeit der AG Experimentalunterricht zeigt dennoch nur eine begrenzte Wirkung, denn:
Die Ursache für diese Mängel liegt nicht allein in der Unterfinanzierung der Bildung, sondern auch in einer politischen Schwerpunktsetzung, die Ganztagsbetreuung und Inklusion priorisiert. Als Speerspitze für diese Entwicklung gelten die Montag-Stiftungen, die zum Thema Schulentwicklung und Schulbau diverse Schriften veröffentlicht und in diesem Sinn Schulbauberater ausgebildet hat. Die Strategien zur Anpassung von Bestandsgebäuden der Montag-Stiftungen führen beispielsweise dazu aus:
Fachunterrichtsräume werden in ihren Ausstattungsstandards deutlich zurückgenommen und wie gut ausgestattete Mehrzweckräume organisiert. dieses Konzept geht davon aus, dass bei einem handlungsorientierten Unterricht in den Naturwissenschaften keine hochwertigen Laborbedingungen erforderlich sind. Ein Wasseranschluss–so die These–ist nötig, aber schon der oft selbstverständliche Gasanschluss lässt sich vielfach durch einen handelsüblichen Kartuschengasbrenner ersetzen. Abzugshauben sind nur ganz punktuell vorzusehen im Gegenzug ergeben sich wesentlich flexiblere Möblierungs- und somit auch Unterrichtsoptionen. Statt in Ausstattung wird eher in Fläche investiert. Hinzu kommt, dass durch den Einsatz eines mobilen Laborwagens viele Experimente flexibel in ganz unterschiedlichen Räumen durchgeführt werden können–dann auch im normalen Unterrichtsbereich oder im Freiraum. (Werkstattbericht „Schulumbau - Strategien zur Anpassung von Bestandsgebäuden“, Montag-Stiftungen „Urbane Räume“ und „Jugend und Gesellschaft“, 2012, Seite 20, Kapitel 3.3 Fachräume, S. 20: https://digital.zlb.de/viewer/api/v1/records/15879414/files/images/MUR_MJG_Schulumbau.pdf/full.pdf)
Obschon diese Textpassage sich aufgrund der hier zum Ausdruck gebrachten unerträglichen Arroganz gegenüber der Didaktik der Naturwissenschaft und der Ignoranz gegenüber den Grundsätzen der Arbeitssicherheit als Arbeitsgrundlage disqualifizieren sollte, werden jetzt eine Dekade später von einem namhaften Ausstatter für naturwissenschaftliche Fachräume Laborwagen für den mobilen Chemieunterricht unter dem Namen „Medienbuddys“ angeboten. Diese Medienbuddys können Sie mobil in jeden Klassenraum verfrachten, eine 6 Liter Gaskartusche ist im Inneren verborgen und versehen ist sie mit Stromanschlüssen, W-Lan- und diversen anderen Computeranschlüssen und betrieben werden kann sie mit einem Li-Ionen-Akku, der ebenfalls im Inneren verbaut ist. Damit brauchen wir also auch keine Fachräume mehr und „hurra“, das Problem ist gelöst … Ach und nebenbei, für den Fall, dass Wasseranschlüsse fehlen, gibt es auch hierfür einen Laborwagen vom Typ „Aqua-Mobil“, den Chemielehrkräfte vor dem Unterricht betanken und danach entleeren sollen.
Infolge dessen werden bei Schulumbauten oft Fachräume zurückgebaut oder durch Mehrzweckräume ersetzt, was die Durchführung von Experimenten weiter erschwert.
Die Arbeitsgruppe hat daher eine Checkliste zur Ausstattung von Fachräumen erstellt, um sicherzustellen, dass diese den Sicherheitsstandards entsprechen. Diese Checkliste ist online verfügbar unter https://www.gdch.de/fileadmin/downloads/Netzwerk_und_Strukturen/Fachgruppen/Chemieunterricht/PDF/Experimentalunterricht_Fachraeume_Checkliste_FGCU.pdf
Zusätzlich wurde ein Whitepaper zur Situation des chemischen Experimentalunterrichts verfasst, das Missstände aufzeigt und konkrete Lösungsvorschläge bietet. Dieses Papier wurde den Kultusministerien aller Bundesländer vorgelegt, um auf die Notwendigkeit von Verbesserungen im Chemieunterricht hinzuweisen. Das Papier ist online verfügbar; https://www.gdch.de/fileadmin/downloads/Publikationen/Weitere_Publikationen/PDF/2024_Whitepaper-ExpunterrichtV3-mit-Anlagen.pdf
Zurück zum Titel dieses Editorials: „Experimentierräume“ beibehalten meint daher nicht nur, dass Schulen über die notwendige Ausstattung an Fachräumen und Chemikalien verfügen, sondern auch, dass Chemielehrkräfte entsprechend ausgebildet und fortgebildet und die notwendigen Ressourcen hierfür bereitgestellt werden. Die Arbeitsgruppe wird sich weiterhin vehement dafür einsetzen, dass der experimentelle Chemieunterricht gestärkt wird und die ihm gebührende zentrale Rolle im naturwissenschaftlichen Unterricht behält.
Jens Friedrich ist Professor für Chemie und Chemie-Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg und Sprecher der Arbeitsgruppe Experimentalunterricht.