{"title":"Die Robert-Rössle-Straße in Berlin-Pankow. Zum Streit um die ehrende Erinnerung an einen „relativ belasteten“ Pathologen in der NS-Zeit","authors":"Thomas Beddies","doi":"10.1002/bewi.202300021","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"<p>Die Medizinhistoriographie weiß seit langem, dass die Medizin im „Dritten Reich“ nicht auf das kriminelle Vorgehen und die Taten einer kleinen Zahl wahlweise „verführter“ oder „verbrecherischer“ Medizinerinnen und Mediziner zu beschränken ist. Die umstandslose Anerkennung von „Machtübernahme“, „Gleichschaltung“ und „Führerprinzip“, die rücksichtslose Ausschaltung politisch oder „rassisch“ unliebsamer Kolleginnen und Kollegen, die bereitwillige Anpassung an das NS-Gesundheitssystem und die konsequente Anwendung rassenhygienischer Grundsätze und Maßnahmen durch den überwiegenden Teil der Ärzte- und Hochschullehrerschaft nach 1933 spricht gegen die Sichtweise, dass lediglich eine radikalisierte Minderheit an der NS-Medizin und ihren strafwürdigen Auswüchsen Anteil gehabt hätte. Um die Schattierungen von Täterschaft, Teilhabe, Mitläufertum und gewolltem Nichtwissen ausleuchten zu können, müssen individuelle wie auch kollektive Handlungen und Handlungsspielräume von Ärztinnen und Ärzten in der Krankenversorgung und der medizinischen Forschung im NS-Staat in den Blick genommen werden. In zahlreichen Untersuchungen, die sich auf Einzelpersonen ebenso bezogen wie auf Krankenhäuser, medizinische Fakultäten, Forschungseinrichtungen, Fachverbände und andere mehr, ist diese Arbeit in den vergangenen Jahren bereits umfangreich geleistet worden.<sup>1</sup></p><p>Die für den vorliegenden Beitrag relevanten Forschungen zur Pathologie (und zu den Pathologen) im Nationalsozialismus wurden vornehmlich in Aachen und in Düsseldorf geleistet. In Aachen, wo bereits umfangreich zu den medizinischen Fachgesellschaften im NS gearbeitet wurde,<sup>2</sup> identifizierte man (im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Pathologie, kurz DGP) in zwei Projektphasen nicht nur die Opfer von Verfolgung, Vertreibung und Entrechtung unter den Pathologen, sondern nahm auch die Fachvertreter in den Blick, die in der NS-Zeit Verantwortung innerhalb der DGP übernommen hatten.<sup>3</sup> Aus dem Kontext dieser Forschungen gingen auch Publikationen hervor, die sich mit der Rolle des Berliner Pathologen Robert Rössle (1876–1956) im Nationalsozialismus auseinandersetzten.<sup>4</sup> In Düsseldorf untersuchte Timo Baumann (mit Unterstützung des Bundesverbandes Deutscher Pathologen) wissenschaftliche Inhalte und Forschungsschwerpunkte der medizinischen Spezialdisziplin Pathologie in der Zeit des Nationalsozialismus; dazu gehörten auch die Schwerpunktsetzungen „Wehrpathologie“ und „Erbpathologie“.<sup>5</sup> Auf der Grundlage der genannten und weiterer Arbeiten soll im vorliegenden Beitrag der Streit um die Person Rössles, Ordinarius für Pathologie der Berliner Universität und Direktor des Pathologischen Instituts der Charité, in der konkurrierenden Erinnerungs- und Gedächtniskultur zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit in den Vordergrund gestellt werden. Anlass dazu gibt eine seit längerem anhaltende Umbenennungsdebatte um die Robert-Rössle-Straße im Berliner Ortsteil Buch.</p><p>Robert Rössle, geboren 1876 in Augsburg, studierte Medizin in München, Kiel und Straßburg; im Jahr 1900 promovierte er in München bei dem Gynäkologen Franz von Winckel (1837–1911).<sup>6</sup> Rössle arbeitete dann zunächst am Pathologischen Institut in Kiel, ab 1904 als Privatdozent für Allgemeine Pathologie und Pathologische Anatomie. 1906 ging er an das Pathologische Institut in München, das er ab 1909 in der Nachfolge Otto von Bollingers (1843–1909) auch leitete. 1911 übernahm er das Ordinariat für Allgemeine Pathologie und Pathologische Anatomie an der Universität Jena; 1921 wechselte er nach Basel. 1929 wurde er als Nachfolger Otto Lubarschs (1860–1933) auf den Lehrstuhl für Pathologie der Berliner Universität und zum Direktor des Pathologischen Instituts der Charité berufen. In diesen Funktionen verblieb er bis zu seiner Emeritierung 1948.<sup>7</sup></p><p>Zur Zeit der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 war Rössle also bereits ein arrivierter Fachmann auf seinem Gebiet, der mit dem Ruf auf den Virchow-Lehrstuhl 1929 eine Führungsrolle in der wissenschaftlichen Gemeinschaft der Pathologen des deutschen Sprachraums beanspruchen konnte. Dementsprechend befand er sich nach 1933 auch in einer günstigen Ausgangsposition, um als Wissenschaftler mit spezifischen Forschungsinteressen unter den neuen politischen Verhältnissen zu bestehen, sich diesen anzupassen oder sogar von ihnen zu profitieren.<sup>8</sup>1934 wurde Rössle zum Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften und 1936 der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina berufen. 1942 finden wir ihn als Mitglied im wissenschaftlichen Senat des Heeressanitätswesens, 1944 im wissenschaftlichen Beirat des Generalkommissars für das Sanitäts- und Gesundheitswesen Karl Brandt (1904–1948).<sup>9</sup></p><p>Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte Rössle – er war kein Mitglied der NSDAP geworden – bis zu seiner Emeritierung 1948 an der Berliner Universität weiter forschen und lehren (so wie u. a. auch der Gynäkologe Walter Stoeckel [1871–1961], der Chirurg Ferdinand Sauerbruch [1875–1951] und der Gerichtsmediziner Victor Müller-Heß [1883–1960], die wie Rössle jeweils bereits vor 1933 und auch noch nach 1945 ihre Stellungen innehatten).<sup>10</sup>1946 übernahm man ihn aus der aufgelösten Preußischen Akademie in die auf Veranlassung der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland gegründete Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. 1946/47 war er dort Sekretär der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse, 1949 der Klasse für medizinische Wissenschaften.<sup>11</sup> Zu dieser Zeit stand er wohl nominell noch dem Akademie-Institut für experimentelle Krebsforschung in Berlin-Buch beratend in Fragen der Geschwulst-Pathologie zur Verfügung. Fraglich ist allerdings, in welchem Umfang er angesichts seiner altersbedingten Verfassung und der politischen Verhältnisse dort tatsächlich noch tätig war bzw. sein konnte. Heinz Bielka erwähnt ihn in seinen Arbeiten zu den Instituten der Akademie der Wissenschaften in Berlin-Buch nicht;<sup>12</sup> auch in Bernd Gausemeiers neuerer Untersuchung zur biologischen und medizinischen Forschung in Berlin-Buch (1930–1989) findet er kaum Erwähnung.<sup>13</sup> Im Sommer 1949 erhielt Rössle vom Präsidium des Deutschen Volksrats den „Deutschen Nationalpreis im Goethejahr 1949“ verliehen (nach Staatsgründung im Oktober 1949: „Nationalpreis der DDR“).<sup>14</sup> Im März 1960 entschied die Akademie der Wissenschaften der DDR die an die Akademie-Sektion „Geschwulstkrankheiten“ angeschlossene „Geschwulstklinik“ nach Robert Rössle zu benennen. Das Institut entwickelte sich bis 1972 zum „Zentralinstitut für Krebsforschung“, einer Leiteinrichtung für die Krebsbehandlung in der DDR.<sup>15</sup>1974 wurde der Pappelweg in Berlin-Buch in „Robert-Rössle-Straße“ umbenannt.</p><p>Faktisch dürfte sich der im Westteil Berlins im Bezirk Charlottenburg wohnende Rössle nach seiner Emeritierung 1948 angesichts der zeitgeschichtlichen Ereignisse (Währungsreform, Berlin-Blockade, Staatsgründungen) kaum noch im Sowjetischen („Demokratischen“) Sektor Berlins, der späteren „Hauptstadt der DDR“, aufgehalten haben. Dafür spricht auch, dass er 1949 nach dem Ausscheiden aus der Charité an die „in 6 Monaten auf Veranlassung von Professor Robert Rössle“ durch die beiden Pathologen Wladimir W. Meyer (1912–1997) und Claus Jürgen Lüders (1921–1990) errichtete Prosektur des Städtischen Krankenhauses in Berlin-Tempelhof (seit 1951 Wenckebach-Krankenhaus) wechselte;<sup>16</sup> dort blieb er noch bis in das Jahr 1953 hinein beruflich aktiv.<sup>17</sup> Wissenschaftlich suchte er über seine frühere Mitarbeiterin Else Knake (1901–1973) Anschluss an die Abteilung für Gewebeforschung an dem von Hans Nachtsheim (1890–1979) geleiteten Max-Planck-Institut für vergleichende Erbbiologie und Erbpathologie in Berlin-Dahlem (ehemalige Abteilung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik).<sup>18</sup> Knake hatte die Berliner Universität 1946/47 im Streit verlassen und war seit 1948 als Honorarprofessorin an der neu gegründeten Freien Universität Berlin tätig.<sup>19</sup></p><p>Für sein „Ankommen“ im Westen spricht auch, dass Rössle 1952 Ehrenpräsident des 55. Deutschen Ärztetages in West-Berlin wurde, und dass ihm in diesem Kontext das bundesrepublikanische Bundesverdienstkreuz verliehen wurde (am 5. September 1952 gedachte man im Rahmen des Ärztetages des 50. Todestags Rudolf Virchows).<sup>20</sup></p><p>In seiner wissenschaftlichen Arbeit hatte sich Rössle zunächst mit der Tumorpathologie und mit Entzündungsprozessen befasst, später auch mit Fragen des Wachstums, der Konstitutionslehre und des Alterns. Bekannt wurde er durch seine Forschungen zu den Allergien, die er als krankhafte Steigerung an sich normaler Vorgänge auf zellulärer Ebene ansah.<sup>21</sup> Nach 1933 befasste er sich verstärkt mit „Konstitutionspathologie“ und vor allem mit Zwillings- und Familienforschung.<sup>22</sup> So war er u. a. Mitherausgeber der <i>Zeitschrift für menschliche Vererbung und Konstitutionslehre</i> und gehörte dem Beirat der 1942 gegründeten „Deutschen Gesellschaft für Konstitutionsforschung“ an.<sup>23</sup></p><p>Rössle werden Verstrickungen in die NS-Medizin auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlicher Intensität vorgeworfen. Davon sollen hier die im Hinblick auf die Beurteilung seiner Rolle zwischen 1933 und 1945 relevanten Sachverhalte angeführt werden. Nicht weiter verfolgt wird die strittige Frage der Beteiligung Rössles an luftfahrtmedizinischen Experimenten, da nach Auffassung des Verfassers seine Rolle in diesen Zusammenhängen bislang nicht ausreichend substantiiert werden konnte.<sup>24</sup> Und auch seine Rolle bei der Entlassung jüdischer Kolleginnen und Kollegen aus der Charité nach 1933 soll hier nicht diskutiert werden. Rössle hatte den Entlassungen aus rassischen und/oder politischen Gründen aus seinem Institut nach 1933 zugestimmt oder sie hinnehmen müssen.<sup>25</sup> Er oder sein Institut nehmen im Zusammenhang der seit Anfang 1933 auch an der Charité und der Berliner Universität rollenden Entlassungswelle keine Sonderrolle ein.<sup>26</sup> Bereits die im folgenden aufgeführten Tatbestände zeigen aber, dass Rössle sich wissenschaftlich im Bereich bereitwilliger Anpassung an den Nationalsozialismus bewegte, und dass er in diesem Zusammenhang – aber auch als Privatmann – als aktiver Profiteur der Verhältnisse nach 1933 zu gelten hat, denen er sich geschmeidig anzupassen wusste.</p><p>Versteht man Erinnerungskultur als dynamisches Geschehen, an dem sich – auch vor dem Hintergrund der jeweiligen politischen Verhältnisse – unterschiedliche Interessengruppen aktiv beteiligen, so erscheint es nur folgerichtig, dass in einer pluralen Gesellschaft eine Mehrzahl „von Geschichtserzählungen, die sich zum Teil widersprechen“ um Deutungshoheit konkurrieren können.<sup>55</sup> Auch bei der Person Robert Rössles geht es um erinnerungskulturelle Richtungsentscheidungen und damit verbundene Repräsentationen und Wahrnehmungen im öffentlichen Raum. Gestritten wird dabei nicht nur um die unmittelbare Sicht auf Vergangenes, „sondern […] mittelbar auch um die Auseinandersetzungen mit historisch überlieferter oder sedimentierter Erinnerung, die schon da ist und ständig neu angeeignet und auf ihre Aktualitätspotenziale hin überprüft werden muss“.<sup>56</sup> Die Auseinandersetzung um die Erinnerung an den klinischen Pathologen und Hochschullehrer, der längst vor und während des Nationalsozialismus, aber auch noch nach 1945 und im „Kalten Krieg“ in der geteilten Frontstadt Berlin tätig war, ist geeignet, im Sinne der Sedimentierung die NS-Zeit mit der der frühen Nachkriegszeit und auch mit den entstehenden Erinnerungskulturen in Ost und West zu verbinden.</p><p>Dabei drehen sich Erinnerungen, so jüngst Malte Thiessen, ja eben nicht um Vergangenheit, sondern um die Gegenwart, womit sich auch „Dissonanzen der Erinnerung“ weniger aus einer „Konfliktträchtigkeit der Vergangenheit, sondern aus Konfliktlagen und Bedürfnissen der Gegenwart“ erklären lassen.<sup>57</sup> Im Streit um die Umbenennung der Robert-Rössle-Straße werden diese „Dissonanzen“ unmittelbar fassbar, indem sie erinnerungspolitisch aus der Gegenwart der wiedervereinigten deutschen Bundeshauptstadt auf die ehemalige „Hauptstadt der DDR“, aber auch auf die inzwischen ebenfalls vergangene politische Einheit „West-Berlin“ bezogen werden können. Der aktuelle Streit um Vergangenes lässt sich freilich produktiv machen, indem eine dissonante Erinnerungskultur das Potential hat, ganz „unterschiedliche Kontexte und Bedürfnisse für Erinnerungen sowie Kontingenzerfahrungen, Kohäsionsversuche und Konflikte zwischen Akteuren in den Fokus (zu stellen)“.<sup>58</sup> Das fordert nicht nur zur Dekonstruktion von Erinnerungen, sondern auch zur Reflexion der eigenen Sichtweise heraus und regt somit ein reflexives Geschichtsbewusstsein an. Die angesprochenen Dissonanzen lassen sich in der Debatte um die Robert-Rössle-Straße ohne Weiteres ausmachen; und ebenso ist anzunehmen, dass ein reflexives Geschichtsbewusstsein im Bezirk und in den beteiligten Gruppen und Institutionen durch die anhaltenden Debatten befördert wurde.</p><p>Ausgelöst durch die Initiative der Berliner Ärztin Ute Linz, die Rössle-Straße umzubenennen, haben sich diverse Akteure in die Diskussion für oder gegen eine Neubenennung eingeschaltet: von der Historischen Kommission des Max-Delbrück-Centrums (MDC) für Molekulare Medizin (Anlieger in der Robert-Rössle-Straße), über den Bucher Bürgerverein bis hin zu den Parteien der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) Pankow von Berlin. Eingebunden wurden zur Stützung der jeweiligen Positionen auch Einzelpersonen wie zuletzt der amerikanische Nobelpreisträger mit deutschen Wurzeln Bruce Beutler, der in einem Interview der <i>Berliner Zeitung</i> im November 2021 u. a. ausführte: „Wir benennen Straßen, um Menschen zu ehren, die Außergewöhnliches getan haben, nicht, um daran zu erinnern, dass schlechte Menschen schlechte Dinge getan haben.“<sup>59</sup> Experten, aber auch findige medizinhistorische Laien haben sich darum bemüht, einen aktuellen Sachstand zum Verhalten Rössles und seiner NS-Verstrickung aus den Bibliotheken und Archiven zusammenzutragen und Argumente für die Umbenennungsdebatte zu liefern. Für den zuständigen Ausschuss der Pankower BVV erstellte der Leiter des Museums Pankow, Bernt Roder, im Sommer 2020 schließlich eine Synopse „als Gegenüberstellung der unterschiedlichen Meinungen, Positionen und Quellenverweise im Zusammenhang mit der bislang geführten Diskussion um die beantragte Umbenennung der Robert-Rössle-Straße in Berlin-Buch“.<sup>60</sup> Die Zusammenstellung diente als Diskussions- und Entscheidungsgrundlage für den Ausschuss für Weiterbildung, Kultur und Städtepartnerschaften und der BVV Pankow als zuständige politische Gremien der Entscheidungsfindung. Dem Pro und Contra einer Umbenennung widmeten die Journalistinnen Anja Reich und Wiebke Hollersen in der <i>Berliner Zeitung</i> seit Oktober 2021 eine mehrteilige Artikelserie.<sup>61</sup> Am 15. Juni 2022 stimmte die BVV auf Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen dann zwar einer Umbenennung zu,<sup>62</sup> tatsächlich ist dieser Akt aber bislang (Stand: Ende 2023) nicht vollzogen worden; Gegnerinnen und Gegner einer Umbenennung führen mit offenen Briefen, einer Online-Petition und einer Klageandrohung die Auseinandersetzung weiter.<sup>63</sup></p><p>Wenn man im Hinblick auf die Beurteilung der NS-Belastung Robert Rössles eine Unterscheidung in absolute und relative Kriterien vornimmt, so ist wohl zu sagen, dass er nicht in dem Sinne eindeutig („absolut“) in die Medizinverbrechen der Medizin im Nationalsozialismus involviert war, dass juristisch vorwerfbares Verhalten offenkundig wäre. Auch sein privates Grundstücksgeschäft, wiewohl der schrittweisen und systematischen Enteignung jüdischer Menschen im NS-Staat zuzuordnen, war mit der geleisteten Entschädigungszahlung keiner richterlichen Entscheidung unterworfen. Legt man hingegen relative Kriterien an, so ist die Eingebundenheit in zeittypische Vorgänge zweifellos gegeben. Solche Bewertungen beruhen dann auf Vergleichen, bei denen eine Person – je nachdem, wie die Referenzen gewählt werden – als positiv (nicht so schlimm wie …) oder negativ (schlimmer als …) erscheint. Der Grad der persönlichen Verantwortung ist also in einer Ausprägung vorhanden, die für die Beurteilung der Belastung (und den daraus resultierenden Handlungsempfehlungen) noch Ermessensspielraum lässt.<sup>64</sup></p><p>Dieser Spielraum wird auch in der Stellungnahme der Historischen Kommission des Max-Delbrück-Centrums bzw. für den Wissenschaftscampus Berlin-Buch genutzt. In Empfehlungen für das Bezirksamt Pankow betreffend die Umbenennung der Robert-Rössle-Straße heißt es, dass die kritische Hinterfragung historischer Namensgebungen zwar grundsätzlich begrüßt würde. Auch ergäben die vorliegenden Analysen (die auch von Mitgliedern der Kommission angestellt wurden), dass Robert Rössle in der „Nazi-Zeit“ vielfach ein opportunistisches, zum Teil verwerfliches und unmoralisches Verhalten gezeigt hätte, das zu verurteilen sei. Die Analyse zeige aber auch, dass Rössle nicht „zur schlimmsten Kategorie“ der „verbrecherischen Nazis“ gehörte. Zudem wäre „der Robert Rössle“ der Jahre von 1933 bis 1945 „nicht der ganze Robert Rössle“:</p><p>Er war ein exzellenter Wissenschaftler auf dem Lehrstuhl von Rudolf Virchow an der Charité. Nach dem 2. Weltkrieg hat sich Robert Rössle sehr verdient gemacht um den Aufbau der Forschungsinstitute der Akademie der Wissenschaften der DDR in Buch als Wissenschaftsstandort. Es waren diese bleibenden Verdienste, die dazu geführt haben, die auf den Campus zuführende Straße zu DDR Zeiten nach ihm zu benennen.<sup>65</sup></p><p>Einmal abgesehen von der Frage tatsächlicher Verdienste Rössles beim Aufbau der Bucher Institute, wird hier eine Rechnung aufgemacht, die darauf hinausläuft, seine „Verfehlungen“ von seinen „Verdiensten“ zu subtrahieren. Das Ergebnis wäre dann immer noch positiv, die Verdienste würden überwiegen; die Straße sollte nach ihm benannt bleiben. Es liegt auf der Hand, dass pure Arithmetik schon im Hinblick auf die unterschiedliche Qualität (Tragweite und Gewicht) der eingebrachten Argumente hier nicht zum Ziel führen kann.</p><p>Die Umbenennung einer Straße – wenn sie denn überhaupt als erinnerungspolitisch probates Instrument ins Auge gefasst wird – lässt sich rechtfertigen durch ein belegtes schwerwiegendes Fehlverhalten der namensgebenden Person. Eine organisatorische Nähe zum NS-Staat (Partei, Organisationen) wäre anzuführen oder eine nachweisbare Teilhabe an NS-spezifischen, nachgewiesenermaßen unethischen oder sogar verbrecherischen Forschungen. Ob freilich eine aus heutiger Sicht „mangelnde Vorbildfunktion“ für folgende Generationen (von Ärztinnen und Ärzten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern) ein Argument für eine Umbenennung sein kann oder sollte, wird kontrovers diskutiert. Nicht selten wird angeführt, Aberkennungen, die allein einem jeweiligen „Zeitgeist“ folgten, führten auch zu einer Leere („Geschichtsvernichtung“), die kaum wieder zu füllen sei. Da Menschen sich in Systemen bewegten, müssten ihre Handlungen im Kontext ihrer Zeit bewertet werden. Wolfgang Thierse, ehemaliger Präsident des Deutschen Bundestags, äußerte sich dazu in der <i>Frankfurter Allgemeinen Zeitung</i> und sprach von „neuen Bilderstürmen“:</p><p>Die Tilgung von Namen, Denkmalstürze, Denunziation von Geistesgrößen [sic!] gehören historisch meist zu revolutionären, blutigen Umstürzen. Heute handelt es sich eher um symbolische Befreiungsakte von lastender, lästiger, böser Geschichte. Die subjektive Betroffenheit zählt dabei mehr als der genaue Blick auf die Bedeutungsgeschichte eines Namens, eines Denkmals, einer Person […]. Die Reinigung und Liquidation von Geschichte war bisher Sache von Diktatoren, autoritären Regimen, religiös-weltanschaulichen Fanatikern. Das darf nicht Sache von Demokratien werden. In jedem einzelnen Fall ist breite öffentliche Diskussion sinnvoller und als Konsequenz Kommentierung statt Zerstörung der bessere Weg. […] Wir brauchen die Stolpersteine der Geschichte. <sup>66</sup></p><p>Zur Problematik der Umbenennung findet seit einigen Jahren auch eine rege Diskussion unter den Studierenden der Humanmedizin im Hinblick auf Wegenamen auf dem Campus der Charité im Berliner Bezirk Mitte statt. Die Position des akademischen Nachwuchses („Kritische Mediziner*innen Berlin“) ist dabei eindeutig: Die Benennung einer Straße nach einer Person wäre eine Ehre und die Person sollte „zeitloses“ Vorbild sein. Wenn, so argumentieren die Studentinnen und Studenten, aus heutiger Sicht die Person kein Vorbild ist, und das muss nicht unbedingt ein eindeutiger Täter sein, sei eine weitere oder dauernde Ehrung nicht zu rechtfertigen:<sup>67</sup></p><p>Die „kritischen Mediziner*innen“ wünschen sich ein Umdenken darüber, welche Persönlichkeiten als Vorbilder für zukünftige Ärztinnen und Ärzte dienen können. Bei der Auswahl solle neben akademischen Verdiensten auch soziales Engagement und Zivilcourage in den Fokus rücken.<sup>68</sup></p><p>Welche Schlüsse ergeben sich aus diesen weit auseinanderliegenden Positionierungen für den Unterricht in den Studiengängen der Humanmedizin, der Pflege- und der Gesundheitswissenschaften? Wie wäre in der Konsequenz inhumanen Handelns und im Hinblick auf nicht eingelöste Zivilität (Anständigkeit) vorzugehen? Wie wäre der akademische Nachwuchs darin zu bestärken, die eigene Haltung vor dem Hintergrund des vermittelten historischen Wissens immer wieder kritisch zu reflektieren? Wie wäre Ärztinnen und Ärzten oder Pflegerinnen und Pflegern eine von Verantwortung gegenüber den Menschen geprägte Haltung angesichts aktueller gesellschaftlicher, politischer, ökonomischer Zumutungen zu vermitteln? Wäre um Nachsicht zu bitten für aktive Opportunisten, die sich unter Nutzung zeitspezifischer Möglichkeiten berufliche und persönliche Vorteile verschafften? Wäre auf Milde zu plädieren gegenüber den „Minderbelasteten“, die zwar nicht unmittelbar tatausführend waren, ohne die aber die monströsen Verbrechen nicht möglich gewesen wären? Oder wäre hier nicht eher dem Anspruch zu folgen, die Studierenden zu handlungsorientierender, kritisch-historischer Selbstreflexion zu befähigen? Wären sie nicht hinzuweisen auf ihre jederzeitige, ausnahmslose Verpflichtung auf Bürger- und Menschenrechte, auf Empathie statt selbstmitleidiger Erbarmungslosigkeit – auf „Anständigsein“ statt „Schäbigsein“?</p><p>Die Verbrechen des Nationalsozialismus sind nicht nur Staats- sondern auch Gesellschaftsverbrechen, indem die Beteiligung der Bürgergesellschaft – auch der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – die Taten erst ermöglichte. Robert Rössle hat im Angesicht des Nationalsozialismus ebenso versagt wie die ganz überwältigende Mehrheit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, der Ärztinnen und Ärzte, Juristinnen und Juristen, Lehrerinnen und Lehrer; er hat genauso versagt wie die überwältigende Mehrheit gesellschaftlicher Leistungsträger, der – wie es soziologisch heißt – Funktionseliten; und er steht, denkt man an Rössles Rolle nach 1945, für die Kontinuität unbehelligter, ordensbehängter Eliten in den Nachkriegsordnungen. Überzeugt es die Studierenden, wenn der „bedeutende Pathologe“ Rössle abgespalten wird von dem Mann, der wissenschaftlich wie privat durch das Unrechtssystem Vorteile genossen hat?</p><p>Es geht um mangelnde Zivilcourage, prinzipienlosen Opportunismus, politische Indolenz, persönliches Karrierestreben. Die Geschichte der Wissenschaften – auch der Natur- oder Lebenswissenschaften – in den Jahren zwischen 1933 und 1945 existiert nicht neben der Geschichte des Nationalsozialismus; sie ist vielmehr Bestandteil derselben. Es wäre dementsprechend falsch anzunehmen, eine Wissenschaftsgeschichte als Erfolgsgeschichte könnte die Unrechtsgeschichte des Nationalsozialismus auch nur in Teilen aufheben; eine Aufrechnung in diesem Sinne verbietet sich aus juristischen wie auch aus moralischen Gründen.</p><p>Während also der Wissenschaftscampus in Berlin-Buch, so der Eindruck, sich in einer Tradition großer Wissenschaftsorganisationen von der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (der heutigen Max Planck-Gesellschaft) über die 1946 gegründete Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin bis hin zur heutigen Helmholtz-Gemeinschaft sieht und vielleicht auch aus diesem Kontinuitätsdenken heraus „nur“ zu einer „kritischen Historisierung“ der Person Rössles im Nationalsozialismus neigt; während die Bürger Buchs argwöhnen, hinter der Absicht der Straßenumbenennung stecke der Wille zur „Geschichtsvernichtung“ in dem Sinne, dass die Erinnerung an das seinerzeit hochkarätige Zentralinstitut für Krebsforschung der DDR endgültig aus der Topographie Buchs verschwinden solle (und damit auch ein Teil der Bucher Identität und zahlreicher, im Übrigen unbestrittener, individueller Lebensleistungen), sehen die Aktivisten für eine Umbenennung in dem bewussten Akt der Umbenennung die Möglichkeit, auf die Einbindung der Bucher Forschungs- und Krankenversorgungseinrichtungen in die NS-Gesundheitspolitik zwischen 1933 und 1945 hinzuweisen und das moralische Versagen auch hochkarätiger Wissenschaftler im Nationalsozialismus angesichts der Verlockungen verantwortungsfreier Forschung und persönlicher Vorteilsnahme explizit zu machen.</p><p>Wann (und ob) es im Ergebnis der Auseinandersetzungen um die Robert-Rössle-Straße noch zu einer Umbenennung kommen wird, ist derzeit (Stand: Ende 2023) ungewiss. Festzustellen ist aber, dass Zuspitzungen in der Diskussion dazu geführt haben, dass es inzwischen in der Einschätzung der Person Rössles – je nach Standpunkt – geradezu zu Überhöhungen in die eine oder andere Richtung gekommen ist, indem er wahlweise als eindeutig verabscheuenswürdiger Wissenschaftler im Nationalsozialismus oder aber als im Grunde antinazistischer, politisch konservativer (oder „unpolitischer“) Pathologe mit einer hoch anzuerkennenden Aufbauleistung nach 1945 charakterisiert wird. Beides verbietet sich in der behaupteten Ausschließlichkeit und vor dem Hintergrund eines unübersichtlichen Geschehens in vernetzten Wissenschaftsstrukturen im Nationalsozialismus. Heinz-Peter Schmiedebach hat kürzlich darauf hingewiesen,<sup>69</sup> dass sich aus dem Zusammenwirken politischer Gegebenheiten, sozialer Interaktionen und schließlich individueller Bereitschaft zum Tätigwerden Handlungsspielräume wissenschaftlicher und ärztlicher Akteure ergaben, die die Frage: „Wer war (formal) Nationalsozialist?“ in den Hintergrund treten lassen sollten. Wichtiger sei die Analyse tatsächlichen Agierens im wissenschaftlichen Kontext auf der einen Seite und der spezifischen politischen Bedingungen, die den Protagonisten Handlungsspielräume eröffneten oder aber verschlossen, auf der anderen.<sup>70</sup> So ließen sich auch Handlungen erkennen, deren Ursprung und Durchführung unter Umständen erst durch vorgelagerte soziale Kontakte oder auch Zufälle ermöglicht wurden und deren konstituierendes Element die aus einem gemeinsamen zielgerichteten Streben hervorgehenden Aktionen einer Mehrzahl von Individuen sind. Diese Verschränkung ist besonders auf dem Gebiet der Biopolitik und der NS-Erb- und Rassenpolitik greifbar, die in der Komplexität organisierter Forschungsprozesse zu gesplitterten Zuständigkeiten führte. Die Fokussierung auf das gemeinsame Ziel einer Gruppe, an dessen Realisierung alle Beteiligten zwar in unterschiedlicher Weise mitwirkten, für das wegen der von allen geteilten Intention aber eine gemeinsame Verantwortung bestand, ermöglicht es, Kategorien wie z. B. „Profiteur“ oder „Kollaborateur“ durch eine weitere Differenzierungsebene zu ergänzen. Neben der individuellen Beteiligung wäre in der Konsequenz verknüpften Agierens auch eine „vernetzte Verantwortung“ zu konstatieren, die ein irreduzibles kollektives Moment der partizipatorischen Absicht und konkreten Mitwirkung enthält. So verstanden wäre für einzelne Personen einer solchen Gruppe auch die Entwicklung von Entlastungsstrategien im Sinne einer nur peripheren Beteiligung und einer „arbeitsteiligen Verantwortungsdiffusion“, so Schmiedebach, nicht mehr möglich; individuelle Entlastungsstrategien könnten zurückgewiesen werden.</p><p>In Bezug auf Robert Rössle wären Schmiedebachs Überlegungen z. B. anzuwenden auf die Zusammenarbeit mit dem „Staatskrankenhaus der Justiz“ in Berlin-Moabit und dem dortigen Leiter Schlegel im Kontext der Zwangskastrationen, aber auch auf Victor Müller-Heß, den Leiter des Instituts für gerichtliche Medizin der Berliner Universität, im Hinblick auf die „kollegiale“ Lieferung von Leichen im Rahmen der „familiären Pathologie“. Anzuregen wären auch weitere Forschungen in Bezug auf Rössles Kontakte zur Neuropathologie des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Hirnforschung (Hugo Spatz [1888–1969], Hallervorden) und des Instituts für Anatomie der Berliner Universität (Stieve). Für die Zeit nach 1945 steht eine Analyse seiner Beteiligung an (bzw. Haltung zu) den wissenschaftspolitischen Weichenstellungen im zunehmend durch die Systemkonkurrenzen geprägten Berlin noch am Anfang.</p><p>Schon jetzt kann gesagt werden, dass im Prozess der Entscheidungsfindung die von Thiessen angeführten unterschiedlichen Kontexte und Bedürfnisse für Erinnerungen klar hervorgetreten sind. Das Verfahren selbst und der weiter bestehende Forschungsbedarf könnten dazu beitragen, dass auch im Falle einer Umbenennung die Erinnerung an Robert Rössle nicht „ausgemerzt“ würde.<sup>71</sup></p>","PeriodicalId":55388,"journal":{"name":"Berichte zur Wissenschaftsgeschichte","volume":null,"pages":null},"PeriodicalIF":0.6000,"publicationDate":"2024-04-08","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"https://onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.1002/bewi.202300021","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Berichte zur Wissenschaftsgeschichte","FirstCategoryId":"98","ListUrlMain":"https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/bewi.202300021","RegionNum":2,"RegionCategory":"哲学","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"Q2","JCRName":"HISTORY & PHILOSOPHY OF SCIENCE","Score":null,"Total":0}
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Abstract
Die Medizinhistoriographie weiß seit langem, dass die Medizin im „Dritten Reich“ nicht auf das kriminelle Vorgehen und die Taten einer kleinen Zahl wahlweise „verführter“ oder „verbrecherischer“ Medizinerinnen und Mediziner zu beschränken ist. Die umstandslose Anerkennung von „Machtübernahme“, „Gleichschaltung“ und „Führerprinzip“, die rücksichtslose Ausschaltung politisch oder „rassisch“ unliebsamer Kolleginnen und Kollegen, die bereitwillige Anpassung an das NS-Gesundheitssystem und die konsequente Anwendung rassenhygienischer Grundsätze und Maßnahmen durch den überwiegenden Teil der Ärzte- und Hochschullehrerschaft nach 1933 spricht gegen die Sichtweise, dass lediglich eine radikalisierte Minderheit an der NS-Medizin und ihren strafwürdigen Auswüchsen Anteil gehabt hätte. Um die Schattierungen von Täterschaft, Teilhabe, Mitläufertum und gewolltem Nichtwissen ausleuchten zu können, müssen individuelle wie auch kollektive Handlungen und Handlungsspielräume von Ärztinnen und Ärzten in der Krankenversorgung und der medizinischen Forschung im NS-Staat in den Blick genommen werden. In zahlreichen Untersuchungen, die sich auf Einzelpersonen ebenso bezogen wie auf Krankenhäuser, medizinische Fakultäten, Forschungseinrichtungen, Fachverbände und andere mehr, ist diese Arbeit in den vergangenen Jahren bereits umfangreich geleistet worden.1
Die für den vorliegenden Beitrag relevanten Forschungen zur Pathologie (und zu den Pathologen) im Nationalsozialismus wurden vornehmlich in Aachen und in Düsseldorf geleistet. In Aachen, wo bereits umfangreich zu den medizinischen Fachgesellschaften im NS gearbeitet wurde,2 identifizierte man (im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Pathologie, kurz DGP) in zwei Projektphasen nicht nur die Opfer von Verfolgung, Vertreibung und Entrechtung unter den Pathologen, sondern nahm auch die Fachvertreter in den Blick, die in der NS-Zeit Verantwortung innerhalb der DGP übernommen hatten.3 Aus dem Kontext dieser Forschungen gingen auch Publikationen hervor, die sich mit der Rolle des Berliner Pathologen Robert Rössle (1876–1956) im Nationalsozialismus auseinandersetzten.4 In Düsseldorf untersuchte Timo Baumann (mit Unterstützung des Bundesverbandes Deutscher Pathologen) wissenschaftliche Inhalte und Forschungsschwerpunkte der medizinischen Spezialdisziplin Pathologie in der Zeit des Nationalsozialismus; dazu gehörten auch die Schwerpunktsetzungen „Wehrpathologie“ und „Erbpathologie“.5 Auf der Grundlage der genannten und weiterer Arbeiten soll im vorliegenden Beitrag der Streit um die Person Rössles, Ordinarius für Pathologie der Berliner Universität und Direktor des Pathologischen Instituts der Charité, in der konkurrierenden Erinnerungs- und Gedächtniskultur zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit in den Vordergrund gestellt werden. Anlass dazu gibt eine seit längerem anhaltende Umbenennungsdebatte um die Robert-Rössle-Straße im Berliner Ortsteil Buch.
Robert Rössle, geboren 1876 in Augsburg, studierte Medizin in München, Kiel und Straßburg; im Jahr 1900 promovierte er in München bei dem Gynäkologen Franz von Winckel (1837–1911).6 Rössle arbeitete dann zunächst am Pathologischen Institut in Kiel, ab 1904 als Privatdozent für Allgemeine Pathologie und Pathologische Anatomie. 1906 ging er an das Pathologische Institut in München, das er ab 1909 in der Nachfolge Otto von Bollingers (1843–1909) auch leitete. 1911 übernahm er das Ordinariat für Allgemeine Pathologie und Pathologische Anatomie an der Universität Jena; 1921 wechselte er nach Basel. 1929 wurde er als Nachfolger Otto Lubarschs (1860–1933) auf den Lehrstuhl für Pathologie der Berliner Universität und zum Direktor des Pathologischen Instituts der Charité berufen. In diesen Funktionen verblieb er bis zu seiner Emeritierung 1948.7
Zur Zeit der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 war Rössle also bereits ein arrivierter Fachmann auf seinem Gebiet, der mit dem Ruf auf den Virchow-Lehrstuhl 1929 eine Führungsrolle in der wissenschaftlichen Gemeinschaft der Pathologen des deutschen Sprachraums beanspruchen konnte. Dementsprechend befand er sich nach 1933 auch in einer günstigen Ausgangsposition, um als Wissenschaftler mit spezifischen Forschungsinteressen unter den neuen politischen Verhältnissen zu bestehen, sich diesen anzupassen oder sogar von ihnen zu profitieren.81934 wurde Rössle zum Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften und 1936 der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina berufen. 1942 finden wir ihn als Mitglied im wissenschaftlichen Senat des Heeressanitätswesens, 1944 im wissenschaftlichen Beirat des Generalkommissars für das Sanitäts- und Gesundheitswesen Karl Brandt (1904–1948).9
Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte Rössle – er war kein Mitglied der NSDAP geworden – bis zu seiner Emeritierung 1948 an der Berliner Universität weiter forschen und lehren (so wie u. a. auch der Gynäkologe Walter Stoeckel [1871–1961], der Chirurg Ferdinand Sauerbruch [1875–1951] und der Gerichtsmediziner Victor Müller-Heß [1883–1960], die wie Rössle jeweils bereits vor 1933 und auch noch nach 1945 ihre Stellungen innehatten).101946 übernahm man ihn aus der aufgelösten Preußischen Akademie in die auf Veranlassung der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland gegründete Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. 1946/47 war er dort Sekretär der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse, 1949 der Klasse für medizinische Wissenschaften.11 Zu dieser Zeit stand er wohl nominell noch dem Akademie-Institut für experimentelle Krebsforschung in Berlin-Buch beratend in Fragen der Geschwulst-Pathologie zur Verfügung. Fraglich ist allerdings, in welchem Umfang er angesichts seiner altersbedingten Verfassung und der politischen Verhältnisse dort tatsächlich noch tätig war bzw. sein konnte. Heinz Bielka erwähnt ihn in seinen Arbeiten zu den Instituten der Akademie der Wissenschaften in Berlin-Buch nicht;12 auch in Bernd Gausemeiers neuerer Untersuchung zur biologischen und medizinischen Forschung in Berlin-Buch (1930–1989) findet er kaum Erwähnung.13 Im Sommer 1949 erhielt Rössle vom Präsidium des Deutschen Volksrats den „Deutschen Nationalpreis im Goethejahr 1949“ verliehen (nach Staatsgründung im Oktober 1949: „Nationalpreis der DDR“).14 Im März 1960 entschied die Akademie der Wissenschaften der DDR die an die Akademie-Sektion „Geschwulstkrankheiten“ angeschlossene „Geschwulstklinik“ nach Robert Rössle zu benennen. Das Institut entwickelte sich bis 1972 zum „Zentralinstitut für Krebsforschung“, einer Leiteinrichtung für die Krebsbehandlung in der DDR.151974 wurde der Pappelweg in Berlin-Buch in „Robert-Rössle-Straße“ umbenannt.
Faktisch dürfte sich der im Westteil Berlins im Bezirk Charlottenburg wohnende Rössle nach seiner Emeritierung 1948 angesichts der zeitgeschichtlichen Ereignisse (Währungsreform, Berlin-Blockade, Staatsgründungen) kaum noch im Sowjetischen („Demokratischen“) Sektor Berlins, der späteren „Hauptstadt der DDR“, aufgehalten haben. Dafür spricht auch, dass er 1949 nach dem Ausscheiden aus der Charité an die „in 6 Monaten auf Veranlassung von Professor Robert Rössle“ durch die beiden Pathologen Wladimir W. Meyer (1912–1997) und Claus Jürgen Lüders (1921–1990) errichtete Prosektur des Städtischen Krankenhauses in Berlin-Tempelhof (seit 1951 Wenckebach-Krankenhaus) wechselte;16 dort blieb er noch bis in das Jahr 1953 hinein beruflich aktiv.17 Wissenschaftlich suchte er über seine frühere Mitarbeiterin Else Knake (1901–1973) Anschluss an die Abteilung für Gewebeforschung an dem von Hans Nachtsheim (1890–1979) geleiteten Max-Planck-Institut für vergleichende Erbbiologie und Erbpathologie in Berlin-Dahlem (ehemalige Abteilung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik).18 Knake hatte die Berliner Universität 1946/47 im Streit verlassen und war seit 1948 als Honorarprofessorin an der neu gegründeten Freien Universität Berlin tätig.19
Für sein „Ankommen“ im Westen spricht auch, dass Rössle 1952 Ehrenpräsident des 55. Deutschen Ärztetages in West-Berlin wurde, und dass ihm in diesem Kontext das bundesrepublikanische Bundesverdienstkreuz verliehen wurde (am 5. September 1952 gedachte man im Rahmen des Ärztetages des 50. Todestags Rudolf Virchows).20
In seiner wissenschaftlichen Arbeit hatte sich Rössle zunächst mit der Tumorpathologie und mit Entzündungsprozessen befasst, später auch mit Fragen des Wachstums, der Konstitutionslehre und des Alterns. Bekannt wurde er durch seine Forschungen zu den Allergien, die er als krankhafte Steigerung an sich normaler Vorgänge auf zellulärer Ebene ansah.21 Nach 1933 befasste er sich verstärkt mit „Konstitutionspathologie“ und vor allem mit Zwillings- und Familienforschung.22 So war er u. a. Mitherausgeber der Zeitschrift für menschliche Vererbung und Konstitutionslehre und gehörte dem Beirat der 1942 gegründeten „Deutschen Gesellschaft für Konstitutionsforschung“ an.23
Rössle werden Verstrickungen in die NS-Medizin auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlicher Intensität vorgeworfen. Davon sollen hier die im Hinblick auf die Beurteilung seiner Rolle zwischen 1933 und 1945 relevanten Sachverhalte angeführt werden. Nicht weiter verfolgt wird die strittige Frage der Beteiligung Rössles an luftfahrtmedizinischen Experimenten, da nach Auffassung des Verfassers seine Rolle in diesen Zusammenhängen bislang nicht ausreichend substantiiert werden konnte.24 Und auch seine Rolle bei der Entlassung jüdischer Kolleginnen und Kollegen aus der Charité nach 1933 soll hier nicht diskutiert werden. Rössle hatte den Entlassungen aus rassischen und/oder politischen Gründen aus seinem Institut nach 1933 zugestimmt oder sie hinnehmen müssen.25 Er oder sein Institut nehmen im Zusammenhang der seit Anfang 1933 auch an der Charité und der Berliner Universität rollenden Entlassungswelle keine Sonderrolle ein.26 Bereits die im folgenden aufgeführten Tatbestände zeigen aber, dass Rössle sich wissenschaftlich im Bereich bereitwilliger Anpassung an den Nationalsozialismus bewegte, und dass er in diesem Zusammenhang – aber auch als Privatmann – als aktiver Profiteur der Verhältnisse nach 1933 zu gelten hat, denen er sich geschmeidig anzupassen wusste.
Versteht man Erinnerungskultur als dynamisches Geschehen, an dem sich – auch vor dem Hintergrund der jeweiligen politischen Verhältnisse – unterschiedliche Interessengruppen aktiv beteiligen, so erscheint es nur folgerichtig, dass in einer pluralen Gesellschaft eine Mehrzahl „von Geschichtserzählungen, die sich zum Teil widersprechen“ um Deutungshoheit konkurrieren können.55 Auch bei der Person Robert Rössles geht es um erinnerungskulturelle Richtungsentscheidungen und damit verbundene Repräsentationen und Wahrnehmungen im öffentlichen Raum. Gestritten wird dabei nicht nur um die unmittelbare Sicht auf Vergangenes, „sondern […] mittelbar auch um die Auseinandersetzungen mit historisch überlieferter oder sedimentierter Erinnerung, die schon da ist und ständig neu angeeignet und auf ihre Aktualitätspotenziale hin überprüft werden muss“.56 Die Auseinandersetzung um die Erinnerung an den klinischen Pathologen und Hochschullehrer, der längst vor und während des Nationalsozialismus, aber auch noch nach 1945 und im „Kalten Krieg“ in der geteilten Frontstadt Berlin tätig war, ist geeignet, im Sinne der Sedimentierung die NS-Zeit mit der der frühen Nachkriegszeit und auch mit den entstehenden Erinnerungskulturen in Ost und West zu verbinden.
Dabei drehen sich Erinnerungen, so jüngst Malte Thiessen, ja eben nicht um Vergangenheit, sondern um die Gegenwart, womit sich auch „Dissonanzen der Erinnerung“ weniger aus einer „Konfliktträchtigkeit der Vergangenheit, sondern aus Konfliktlagen und Bedürfnissen der Gegenwart“ erklären lassen.57 Im Streit um die Umbenennung der Robert-Rössle-Straße werden diese „Dissonanzen“ unmittelbar fassbar, indem sie erinnerungspolitisch aus der Gegenwart der wiedervereinigten deutschen Bundeshauptstadt auf die ehemalige „Hauptstadt der DDR“, aber auch auf die inzwischen ebenfalls vergangene politische Einheit „West-Berlin“ bezogen werden können. Der aktuelle Streit um Vergangenes lässt sich freilich produktiv machen, indem eine dissonante Erinnerungskultur das Potential hat, ganz „unterschiedliche Kontexte und Bedürfnisse für Erinnerungen sowie Kontingenzerfahrungen, Kohäsionsversuche und Konflikte zwischen Akteuren in den Fokus (zu stellen)“.58 Das fordert nicht nur zur Dekonstruktion von Erinnerungen, sondern auch zur Reflexion der eigenen Sichtweise heraus und regt somit ein reflexives Geschichtsbewusstsein an. Die angesprochenen Dissonanzen lassen sich in der Debatte um die Robert-Rössle-Straße ohne Weiteres ausmachen; und ebenso ist anzunehmen, dass ein reflexives Geschichtsbewusstsein im Bezirk und in den beteiligten Gruppen und Institutionen durch die anhaltenden Debatten befördert wurde.
Ausgelöst durch die Initiative der Berliner Ärztin Ute Linz, die Rössle-Straße umzubenennen, haben sich diverse Akteure in die Diskussion für oder gegen eine Neubenennung eingeschaltet: von der Historischen Kommission des Max-Delbrück-Centrums (MDC) für Molekulare Medizin (Anlieger in der Robert-Rössle-Straße), über den Bucher Bürgerverein bis hin zu den Parteien der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) Pankow von Berlin. Eingebunden wurden zur Stützung der jeweiligen Positionen auch Einzelpersonen wie zuletzt der amerikanische Nobelpreisträger mit deutschen Wurzeln Bruce Beutler, der in einem Interview der Berliner Zeitung im November 2021 u. a. ausführte: „Wir benennen Straßen, um Menschen zu ehren, die Außergewöhnliches getan haben, nicht, um daran zu erinnern, dass schlechte Menschen schlechte Dinge getan haben.“59 Experten, aber auch findige medizinhistorische Laien haben sich darum bemüht, einen aktuellen Sachstand zum Verhalten Rössles und seiner NS-Verstrickung aus den Bibliotheken und Archiven zusammenzutragen und Argumente für die Umbenennungsdebatte zu liefern. Für den zuständigen Ausschuss der Pankower BVV erstellte der Leiter des Museums Pankow, Bernt Roder, im Sommer 2020 schließlich eine Synopse „als Gegenüberstellung der unterschiedlichen Meinungen, Positionen und Quellenverweise im Zusammenhang mit der bislang geführten Diskussion um die beantragte Umbenennung der Robert-Rössle-Straße in Berlin-Buch“.60 Die Zusammenstellung diente als Diskussions- und Entscheidungsgrundlage für den Ausschuss für Weiterbildung, Kultur und Städtepartnerschaften und der BVV Pankow als zuständige politische Gremien der Entscheidungsfindung. Dem Pro und Contra einer Umbenennung widmeten die Journalistinnen Anja Reich und Wiebke Hollersen in der Berliner Zeitung seit Oktober 2021 eine mehrteilige Artikelserie.61 Am 15. Juni 2022 stimmte die BVV auf Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen dann zwar einer Umbenennung zu,62 tatsächlich ist dieser Akt aber bislang (Stand: Ende 2023) nicht vollzogen worden; Gegnerinnen und Gegner einer Umbenennung führen mit offenen Briefen, einer Online-Petition und einer Klageandrohung die Auseinandersetzung weiter.63
Wenn man im Hinblick auf die Beurteilung der NS-Belastung Robert Rössles eine Unterscheidung in absolute und relative Kriterien vornimmt, so ist wohl zu sagen, dass er nicht in dem Sinne eindeutig („absolut“) in die Medizinverbrechen der Medizin im Nationalsozialismus involviert war, dass juristisch vorwerfbares Verhalten offenkundig wäre. Auch sein privates Grundstücksgeschäft, wiewohl der schrittweisen und systematischen Enteignung jüdischer Menschen im NS-Staat zuzuordnen, war mit der geleisteten Entschädigungszahlung keiner richterlichen Entscheidung unterworfen. Legt man hingegen relative Kriterien an, so ist die Eingebundenheit in zeittypische Vorgänge zweifellos gegeben. Solche Bewertungen beruhen dann auf Vergleichen, bei denen eine Person – je nachdem, wie die Referenzen gewählt werden – als positiv (nicht so schlimm wie …) oder negativ (schlimmer als …) erscheint. Der Grad der persönlichen Verantwortung ist also in einer Ausprägung vorhanden, die für die Beurteilung der Belastung (und den daraus resultierenden Handlungsempfehlungen) noch Ermessensspielraum lässt.64
Dieser Spielraum wird auch in der Stellungnahme der Historischen Kommission des Max-Delbrück-Centrums bzw. für den Wissenschaftscampus Berlin-Buch genutzt. In Empfehlungen für das Bezirksamt Pankow betreffend die Umbenennung der Robert-Rössle-Straße heißt es, dass die kritische Hinterfragung historischer Namensgebungen zwar grundsätzlich begrüßt würde. Auch ergäben die vorliegenden Analysen (die auch von Mitgliedern der Kommission angestellt wurden), dass Robert Rössle in der „Nazi-Zeit“ vielfach ein opportunistisches, zum Teil verwerfliches und unmoralisches Verhalten gezeigt hätte, das zu verurteilen sei. Die Analyse zeige aber auch, dass Rössle nicht „zur schlimmsten Kategorie“ der „verbrecherischen Nazis“ gehörte. Zudem wäre „der Robert Rössle“ der Jahre von 1933 bis 1945 „nicht der ganze Robert Rössle“:
Er war ein exzellenter Wissenschaftler auf dem Lehrstuhl von Rudolf Virchow an der Charité. Nach dem 2. Weltkrieg hat sich Robert Rössle sehr verdient gemacht um den Aufbau der Forschungsinstitute der Akademie der Wissenschaften der DDR in Buch als Wissenschaftsstandort. Es waren diese bleibenden Verdienste, die dazu geführt haben, die auf den Campus zuführende Straße zu DDR Zeiten nach ihm zu benennen.65
Einmal abgesehen von der Frage tatsächlicher Verdienste Rössles beim Aufbau der Bucher Institute, wird hier eine Rechnung aufgemacht, die darauf hinausläuft, seine „Verfehlungen“ von seinen „Verdiensten“ zu subtrahieren. Das Ergebnis wäre dann immer noch positiv, die Verdienste würden überwiegen; die Straße sollte nach ihm benannt bleiben. Es liegt auf der Hand, dass pure Arithmetik schon im Hinblick auf die unterschiedliche Qualität (Tragweite und Gewicht) der eingebrachten Argumente hier nicht zum Ziel führen kann.
Die Umbenennung einer Straße – wenn sie denn überhaupt als erinnerungspolitisch probates Instrument ins Auge gefasst wird – lässt sich rechtfertigen durch ein belegtes schwerwiegendes Fehlverhalten der namensgebenden Person. Eine organisatorische Nähe zum NS-Staat (Partei, Organisationen) wäre anzuführen oder eine nachweisbare Teilhabe an NS-spezifischen, nachgewiesenermaßen unethischen oder sogar verbrecherischen Forschungen. Ob freilich eine aus heutiger Sicht „mangelnde Vorbildfunktion“ für folgende Generationen (von Ärztinnen und Ärzten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern) ein Argument für eine Umbenennung sein kann oder sollte, wird kontrovers diskutiert. Nicht selten wird angeführt, Aberkennungen, die allein einem jeweiligen „Zeitgeist“ folgten, führten auch zu einer Leere („Geschichtsvernichtung“), die kaum wieder zu füllen sei. Da Menschen sich in Systemen bewegten, müssten ihre Handlungen im Kontext ihrer Zeit bewertet werden. Wolfgang Thierse, ehemaliger Präsident des Deutschen Bundestags, äußerte sich dazu in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und sprach von „neuen Bilderstürmen“:
Die Tilgung von Namen, Denkmalstürze, Denunziation von Geistesgrößen [sic!] gehören historisch meist zu revolutionären, blutigen Umstürzen. Heute handelt es sich eher um symbolische Befreiungsakte von lastender, lästiger, böser Geschichte. Die subjektive Betroffenheit zählt dabei mehr als der genaue Blick auf die Bedeutungsgeschichte eines Namens, eines Denkmals, einer Person […]. Die Reinigung und Liquidation von Geschichte war bisher Sache von Diktatoren, autoritären Regimen, religiös-weltanschaulichen Fanatikern. Das darf nicht Sache von Demokratien werden. In jedem einzelnen Fall ist breite öffentliche Diskussion sinnvoller und als Konsequenz Kommentierung statt Zerstörung der bessere Weg. […] Wir brauchen die Stolpersteine der Geschichte. 66
Zur Problematik der Umbenennung findet seit einigen Jahren auch eine rege Diskussion unter den Studierenden der Humanmedizin im Hinblick auf Wegenamen auf dem Campus der Charité im Berliner Bezirk Mitte statt. Die Position des akademischen Nachwuchses („Kritische Mediziner*innen Berlin“) ist dabei eindeutig: Die Benennung einer Straße nach einer Person wäre eine Ehre und die Person sollte „zeitloses“ Vorbild sein. Wenn, so argumentieren die Studentinnen und Studenten, aus heutiger Sicht die Person kein Vorbild ist, und das muss nicht unbedingt ein eindeutiger Täter sein, sei eine weitere oder dauernde Ehrung nicht zu rechtfertigen:67
Die „kritischen Mediziner*innen“ wünschen sich ein Umdenken darüber, welche Persönlichkeiten als Vorbilder für zukünftige Ärztinnen und Ärzte dienen können. Bei der Auswahl solle neben akademischen Verdiensten auch soziales Engagement und Zivilcourage in den Fokus rücken.68
Welche Schlüsse ergeben sich aus diesen weit auseinanderliegenden Positionierungen für den Unterricht in den Studiengängen der Humanmedizin, der Pflege- und der Gesundheitswissenschaften? Wie wäre in der Konsequenz inhumanen Handelns und im Hinblick auf nicht eingelöste Zivilität (Anständigkeit) vorzugehen? Wie wäre der akademische Nachwuchs darin zu bestärken, die eigene Haltung vor dem Hintergrund des vermittelten historischen Wissens immer wieder kritisch zu reflektieren? Wie wäre Ärztinnen und Ärzten oder Pflegerinnen und Pflegern eine von Verantwortung gegenüber den Menschen geprägte Haltung angesichts aktueller gesellschaftlicher, politischer, ökonomischer Zumutungen zu vermitteln? Wäre um Nachsicht zu bitten für aktive Opportunisten, die sich unter Nutzung zeitspezifischer Möglichkeiten berufliche und persönliche Vorteile verschafften? Wäre auf Milde zu plädieren gegenüber den „Minderbelasteten“, die zwar nicht unmittelbar tatausführend waren, ohne die aber die monströsen Verbrechen nicht möglich gewesen wären? Oder wäre hier nicht eher dem Anspruch zu folgen, die Studierenden zu handlungsorientierender, kritisch-historischer Selbstreflexion zu befähigen? Wären sie nicht hinzuweisen auf ihre jederzeitige, ausnahmslose Verpflichtung auf Bürger- und Menschenrechte, auf Empathie statt selbstmitleidiger Erbarmungslosigkeit – auf „Anständigsein“ statt „Schäbigsein“?
Die Verbrechen des Nationalsozialismus sind nicht nur Staats- sondern auch Gesellschaftsverbrechen, indem die Beteiligung der Bürgergesellschaft – auch der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – die Taten erst ermöglichte. Robert Rössle hat im Angesicht des Nationalsozialismus ebenso versagt wie die ganz überwältigende Mehrheit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, der Ärztinnen und Ärzte, Juristinnen und Juristen, Lehrerinnen und Lehrer; er hat genauso versagt wie die überwältigende Mehrheit gesellschaftlicher Leistungsträger, der – wie es soziologisch heißt – Funktionseliten; und er steht, denkt man an Rössles Rolle nach 1945, für die Kontinuität unbehelligter, ordensbehängter Eliten in den Nachkriegsordnungen. Überzeugt es die Studierenden, wenn der „bedeutende Pathologe“ Rössle abgespalten wird von dem Mann, der wissenschaftlich wie privat durch das Unrechtssystem Vorteile genossen hat?
Es geht um mangelnde Zivilcourage, prinzipienlosen Opportunismus, politische Indolenz, persönliches Karrierestreben. Die Geschichte der Wissenschaften – auch der Natur- oder Lebenswissenschaften – in den Jahren zwischen 1933 und 1945 existiert nicht neben der Geschichte des Nationalsozialismus; sie ist vielmehr Bestandteil derselben. Es wäre dementsprechend falsch anzunehmen, eine Wissenschaftsgeschichte als Erfolgsgeschichte könnte die Unrechtsgeschichte des Nationalsozialismus auch nur in Teilen aufheben; eine Aufrechnung in diesem Sinne verbietet sich aus juristischen wie auch aus moralischen Gründen.
Während also der Wissenschaftscampus in Berlin-Buch, so der Eindruck, sich in einer Tradition großer Wissenschaftsorganisationen von der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (der heutigen Max Planck-Gesellschaft) über die 1946 gegründete Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin bis hin zur heutigen Helmholtz-Gemeinschaft sieht und vielleicht auch aus diesem Kontinuitätsdenken heraus „nur“ zu einer „kritischen Historisierung“ der Person Rössles im Nationalsozialismus neigt; während die Bürger Buchs argwöhnen, hinter der Absicht der Straßenumbenennung stecke der Wille zur „Geschichtsvernichtung“ in dem Sinne, dass die Erinnerung an das seinerzeit hochkarätige Zentralinstitut für Krebsforschung der DDR endgültig aus der Topographie Buchs verschwinden solle (und damit auch ein Teil der Bucher Identität und zahlreicher, im Übrigen unbestrittener, individueller Lebensleistungen), sehen die Aktivisten für eine Umbenennung in dem bewussten Akt der Umbenennung die Möglichkeit, auf die Einbindung der Bucher Forschungs- und Krankenversorgungseinrichtungen in die NS-Gesundheitspolitik zwischen 1933 und 1945 hinzuweisen und das moralische Versagen auch hochkarätiger Wissenschaftler im Nationalsozialismus angesichts der Verlockungen verantwortungsfreier Forschung und persönlicher Vorteilsnahme explizit zu machen.
Wann (und ob) es im Ergebnis der Auseinandersetzungen um die Robert-Rössle-Straße noch zu einer Umbenennung kommen wird, ist derzeit (Stand: Ende 2023) ungewiss. Festzustellen ist aber, dass Zuspitzungen in der Diskussion dazu geführt haben, dass es inzwischen in der Einschätzung der Person Rössles – je nach Standpunkt – geradezu zu Überhöhungen in die eine oder andere Richtung gekommen ist, indem er wahlweise als eindeutig verabscheuenswürdiger Wissenschaftler im Nationalsozialismus oder aber als im Grunde antinazistischer, politisch konservativer (oder „unpolitischer“) Pathologe mit einer hoch anzuerkennenden Aufbauleistung nach 1945 charakterisiert wird. Beides verbietet sich in der behaupteten Ausschließlichkeit und vor dem Hintergrund eines unübersichtlichen Geschehens in vernetzten Wissenschaftsstrukturen im Nationalsozialismus. Heinz-Peter Schmiedebach hat kürzlich darauf hingewiesen,69 dass sich aus dem Zusammenwirken politischer Gegebenheiten, sozialer Interaktionen und schließlich individueller Bereitschaft zum Tätigwerden Handlungsspielräume wissenschaftlicher und ärztlicher Akteure ergaben, die die Frage: „Wer war (formal) Nationalsozialist?“ in den Hintergrund treten lassen sollten. Wichtiger sei die Analyse tatsächlichen Agierens im wissenschaftlichen Kontext auf der einen Seite und der spezifischen politischen Bedingungen, die den Protagonisten Handlungsspielräume eröffneten oder aber verschlossen, auf der anderen.70 So ließen sich auch Handlungen erkennen, deren Ursprung und Durchführung unter Umständen erst durch vorgelagerte soziale Kontakte oder auch Zufälle ermöglicht wurden und deren konstituierendes Element die aus einem gemeinsamen zielgerichteten Streben hervorgehenden Aktionen einer Mehrzahl von Individuen sind. Diese Verschränkung ist besonders auf dem Gebiet der Biopolitik und der NS-Erb- und Rassenpolitik greifbar, die in der Komplexität organisierter Forschungsprozesse zu gesplitterten Zuständigkeiten führte. Die Fokussierung auf das gemeinsame Ziel einer Gruppe, an dessen Realisierung alle Beteiligten zwar in unterschiedlicher Weise mitwirkten, für das wegen der von allen geteilten Intention aber eine gemeinsame Verantwortung bestand, ermöglicht es, Kategorien wie z. B. „Profiteur“ oder „Kollaborateur“ durch eine weitere Differenzierungsebene zu ergänzen. Neben der individuellen Beteiligung wäre in der Konsequenz verknüpften Agierens auch eine „vernetzte Verantwortung“ zu konstatieren, die ein irreduzibles kollektives Moment der partizipatorischen Absicht und konkreten Mitwirkung enthält. So verstanden wäre für einzelne Personen einer solchen Gruppe auch die Entwicklung von Entlastungsstrategien im Sinne einer nur peripheren Beteiligung und einer „arbeitsteiligen Verantwortungsdiffusion“, so Schmiedebach, nicht mehr möglich; individuelle Entlastungsstrategien könnten zurückgewiesen werden.
In Bezug auf Robert Rössle wären Schmiedebachs Überlegungen z. B. anzuwenden auf die Zusammenarbeit mit dem „Staatskrankenhaus der Justiz“ in Berlin-Moabit und dem dortigen Leiter Schlegel im Kontext der Zwangskastrationen, aber auch auf Victor Müller-Heß, den Leiter des Instituts für gerichtliche Medizin der Berliner Universität, im Hinblick auf die „kollegiale“ Lieferung von Leichen im Rahmen der „familiären Pathologie“. Anzuregen wären auch weitere Forschungen in Bezug auf Rössles Kontakte zur Neuropathologie des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Hirnforschung (Hugo Spatz [1888–1969], Hallervorden) und des Instituts für Anatomie der Berliner Universität (Stieve). Für die Zeit nach 1945 steht eine Analyse seiner Beteiligung an (bzw. Haltung zu) den wissenschaftspolitischen Weichenstellungen im zunehmend durch die Systemkonkurrenzen geprägten Berlin noch am Anfang.
Schon jetzt kann gesagt werden, dass im Prozess der Entscheidungsfindung die von Thiessen angeführten unterschiedlichen Kontexte und Bedürfnisse für Erinnerungen klar hervorgetreten sind. Das Verfahren selbst und der weiter bestehende Forschungsbedarf könnten dazu beitragen, dass auch im Falle einer Umbenennung die Erinnerung an Robert Rössle nicht „ausgemerzt“ würde.71
期刊介绍:
Die Geschichte der Wissenschaften ist in erster Linie eine Geschichte der Ideen und Entdeckungen, oft genug aber auch der Moden, Irrtümer und Missverständnisse. Sie hängt eng mit der Entwicklung kultureller und zivilisatorischer Leistungen zusammen und bleibt von der politischen Geschichte keineswegs unberührt.