{"title":"Forscher:innen in wissenschaftlichen und öffentlichen Erinnerungskulturen. Konjunkturen und Transformationsprozesse","authors":"Thorsten Halling, Anne Oommen-Halbach","doi":"10.1002/bewi.202300024","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"<p>Forscher:innen sind im öffentlichen Gedächtnis als Namensgeber:innen von Straßen, Plätzen und Institutionen weit über den Kontext von Universitäten und Forschungseinrichtungen hinaus allgegenwärtig. Insbesondere vor dem Hintergrund der deutschen Kolonialpolitik, des Nationalsozialismus und der SED-Herrschaft sind jedoch viele dieser Benennungen zunehmend umstritten.<sup>1</sup> Gerade erinnerungspolitische Debatten führ(t)en oft zu wissenschaftshistorischen (Auftrags-)Studien und einer veränderten öffentlichen Wahrnehmung historischer Persönlichkeiten. Dieses Wechselverhältnis ist in der Wissenschaftsgeschichte vor allem für den deutschen Sprachraum bislang nur punktuell beleuchtet worden.</p><p>Gedächtnis und Erinnerung als individuelle und soziale Phänomene verbinden Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften wie wenige andere, so konstatiert die Literaturwissenschaftlerin Astrid Erll in ihrer Einführung <i>Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen</i>.<sup>2</sup> Inzwischen wird dieser als kulturwissenschaftliches Paradigma bezeichnete Forschungsansatz einer andauernden (Selbst-)Historisierung unterzogen.<sup>3</sup> Im deutschen Sprachraum sind es vor allem die Arbeiten von Aleida und Jan Assmann, die sich seit den 1990er Jahren in vielen Studien als anschlussfähig erwiesen haben, gleichwohl sie konzeptuell kritisch hinterfragt wurden.<sup>4</sup> Aleida Assmann selbst wies darauf hin, dass die Einzeldisziplinen ihre jeweils spezifischen Perspektiven auf das Gedächtnis entwickelt haben.<sup>5</sup></p><p>Anhand zentraler Themenfelder der <i>Memory Studies</i> möchten wir in dieser Einleitung entsprechende Ansätze in der Wissenschaftsgeschichte skizzieren. Der im anglo-amerikanischen Sprachraum geprägte Begriff wird hier bewusst genutzt, da er den Forschungsansatz betont, den die seit 2008 erscheinende gleichnamige Zeitschrift prägnant definiert hat:</p><p>Memory Studies examine[s] the social, cultural, cognitive, political and technological shifts affecting how, what and why individuals, groups and societies remember, and forget. The journal responds to and seeks to shape public and academic discourses on the nature, manipulation, and contestation of memory in the contemporary era.<sup>6</sup></p><p>Der deutsche Begriff der Erinnerungskultur umfasst verschiedene Bedeutungsebenen: Analysekategorie, Forschungsgegenstand sowie einen intentionalen Aspekt, der auch als Erinnerungspolitik bezeichnet wird.<sup>7</sup></p><p>Ausführlich diskutiert wurden die Schnittmengen von Erinnerungskultur zur <i>Public History</i>, verstanden als angewandte Geschichtswissenschaft, zu der Oral History, Museen, Gedenkstätten, Medien und Archive zählen.<sup>8</sup> Traditionelle wissenschafts- und medizinhistorische Sammlungen an den Universitäten, interaktive Wissenschafts- und Technikmuseen sowie Industriedenkmale sind Bestandteil dieser Geschichtsvermittlung, die immer auch einzelne Forscher:innen ins öffentliche Gedächtnis rückt: Jüngst präsentierte die Max-Planck-Gesellschaft z. B. eine Ausstellung über „ihre“ Nobelpreisträger in der Bibliothek des Deutschen Museums in München mit dem Titel <i>Pioniere des Wissens</i>.<sup>9</sup> Partizipative Formate der <i>Public History</i> wie Geschichtsvereine<sup>10</sup> und Geschichtswerkstätten<sup>11</sup> sind im wissenschaftshistorischen Kontext in Form von Historischen Arbeitskreisen der Fachgesellschaften zu finden. Im Rahmen der Rekonstruktion der jeweiligen Fachgeschichte arbeiten hier charakteristischer Weise Vertreter:innen der Fachdisziplinen gemeinsam mit (Wissenschafts-)Historiker:innen an dem jeweiligen fachkulturellen Gedächtnis. In vielen Fällen sind es Auftragsforschungen, z. B. zur Geschichte der jeweiligen Fachgesellschaft während des Nationalsozialismus, die diese Zusammenarbeit initiieren oder aber befördern.<sup>12</sup> In der Medizingeschichte hat bereits ein entsprechender Reflexionsprozess eingesetzt: „[…] die fachgesellschaftliche Erinnerungskultur [ist] immer wieder zeithistorisch kritisch zu analysieren, um über eine stetige Reflexion der Medizin die ‚Last und Lehre‘ zu erhalten.“<sup>13</sup> Auch und gerade Wissenschafts- und Medizinhistoriker:innen befinden sich daher nicht selten in unterschiedlichen Kontexten im Spannungsfeld von Geschichtsvermittlung – und damit auch der aktiven Mitgestaltung von Erinnerungskulturen – und der kritischen Analyse von Effekten einer <i>Public History</i>.</p><p>Insbesondere im Hinblick auf Konjunkturen und Transformationsprozesse der Erinnerung an Persönlichkeiten in den Wissenschaften im Kontext ihrer jeweiligen Disziplin sollen mit dieser Einleitung, aber auch mit diesem Themenheft insgesamt offene Fragen aufgeworfen werden. Erkenntnisleitend ist dabei die These, dass Forscher:innen, die sich mit Erinnerungskulturen in den Wissenschaften – insbesondere dann, wenn es sich womöglich um ihre eigene Disziplin handelt – vor der Herausforderung stehen, sich zumindest temporär von ihrer Identität als Teil der analysierten Erinnerungsgemeinschaft lösen zu müssen, um nicht den Logiken der fachkulturellen Erinnerung (dieser Begriff wird noch zu erläutern sein) zu unterliegen. Zahlreiche Beispiele aus den mit den <i>Memory Studies</i> befassten Disziplinen verdeutlichen das Problem der Selbstreflexion, sobald die Analyse von historischen Sachverhalten die persönlichen Erinnerungs- und Identitätskonstruktionen bedroht. Insbesondere die Verstrickung von akademischen Vorbildern in den Nationalsozialismus erweist sich hier immer wieder als Stolperstein.<sup>14</sup> Auch der Umgang von Medizinhistoriker:innen mit familienbiographischen Gesichtspunkten war bereits Gegenstand einer fachinternen erinnerungskulturellen Debatte,<sup>15</sup> die auf das komplexe Bedingungsgefüge von individuellem und kollektivem Erinnern verweist.</p><p>In den meisten kulturwissenschaftlichen Darstellungen werden die neuroanatomischen und neurofunktionalen Grundlagen<sup>16</sup> und die Psychologie<sup>17</sup> des individuellen Erinnerns bestenfalls gestreift. Besondere Aufmerksamkeit hingegen erhält die Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses,<sup>18</sup> auch im Hinblick auf die Frage des wissenschaftshistorischen Erkenntniswertes von Autobiographien von Wissenschaftler:innen für die Entwicklungsgeschichte von Fachkulturen.<sup>19</sup></p><p>Lebensläufe werden durch soziale Gedächtnisse gerahmt und sind zugleich ein Teil von sozialen Gedächtnissen. In der neueren sozialwissenschaftlichen Biographieforschung wurde daher vorgeschlagen, (Auto-)Biographien als Gedächtniskategorie zu verstehen.<sup>20</sup> Inwieweit autobiographische Erinnerungen die Erinnerungskultur eines ganzen, zumindest kleineren Fachs prägen können, gilt es noch vergleichend zu untersuchen.</p><p>Ein wichtiges erinnerungskulturelles, hieran anknüpfendes Forschungsfeld ist die Oral History, die weniger als eine Ansammlung von subjektiven Erinnerungen und Anekdoten zu verstehen ist als vielmehr als Methodik, mit der Erinnerungen von Zeitzeug:innen analysiert, kontextualisiert und für die nachfolgende historische Forschung im Idealfall dauerhaft zugänglich gemacht werden können.<sup>21</sup></p><p>Mit dem Begriff des kollektiven Gedächtnisses ist eine Vielzahl von nicht trennscharfen Konzepten und weiteren Termini (z. B. Erinnerungsorte, Erinnerungskulturen, Erinnerungsgemeinschaften) verbunden. Im Mittelpunkt stehen in der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung verschiedene sogenannte Erinnerungsmodi (u. a. soziales, kommunikatives oder auch kulturelles Gedächtnis), die versuchen, Erinnerungsphänomene in zeitliche, räumliche und funktionale Beziehung zueinander zu setzen. Die wirkmächtigen Überlegungen zur Differenzierung von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis einerseits und dem Funktions- und Speichergedächtnis (Jan und Aleida Assmann) andererseits machen zugleich die Transformationsprozesse von Erinnerungskulturen erklärbar.<sup>22</sup> Gedächtniskulturen unterliegen einer diachronen Pluralität und sind dabei sowohl innerhalb als auch außerhalb der Wissenschaften als „diskursives Konstrukt“<sup>23</sup> zu verstehen.</p><p>In Anlehnung an die Idee von Fachkulturen in den Wissenschaften,<sup>24</sup> insbesondere infolge von Professionalisierung und Fachdifferenzierung,<sup>25</sup> wird an dieser Stelle dafür plädiert, die heterogene Erinnerungskultur in den Wissenschaften differenziert als <i>fachkulturelle Erinnerung</i> zu verstehen. Fachkulturen können sich in jeweils eigenen Ausprägungen, beispielsweise von „Ordnungen der Geschlechter“<sup>26</sup>, Fachsprache<sup>27</sup>, Evidenzarrangements<sup>28</sup>, epistemischen Praktiken<sup>29</sup>, Denkstilen<sup>30</sup>, Methoden, Publikationsstrategien, Anerkennung<sup>31</sup> und Habitus<sup>32</sup> ausdrücken. Einige dieser Ausprägungen beeinflussen auch die Ausdifferenzierungen der fachkulturellen Erinnerung der jeweiligen Wissenschaften und ihrer Subdisziplinen.</p><p>Fachkulturelle Erinnerung dient Teildisziplinen intern zur Identitätsstiftung und zur Selbstvergewisserung auch gegenüber dem wissenschaftlichen Nachwuchs sowie zur Pflege von Reputationsgenealogien.<sup>33</sup> Extern dienen Tradition und Erfahrung in Abgrenzung zu konkurrierenden Nachbardisziplinen als Qualitäts- und Alleinstellungsmerkmale. Gedächtnisakteur:innen sind hier sowohl Fachgesellschaften als auch akademische Institutionen aus den jeweiligen Disziplinen.<sup>34</sup> Die in jüngster Zeit häufiger zu beobachtende „Wiederentdeckung“ von weiblichen Identifikationsfiguren in der Geschichte einzelner Fachdisziplinen ist hierbei als eine – sowohl nach innen als auch nach außen gerichtete – fachkulturelle Erinnerungspolitik im Kontext neuer gesellschaftlicher Geschlechterordnungen zu verstehen, die gezielt von Entscheidungsträgern, z. B. von Vorständen der Fachgesellschaften, gesteuert wird.<sup>35</sup></p><p>.</p><p>Angelehnt an das Konzept der <i>lieux de mémoire</i> von Pierre Nora, haben sich Erinnerungsorte als vielfältig anschlussfähige<sup>36</sup> Analysekategorie in den <i>Memory Studies</i> etabliert. Sie können dabei Orte im engeren als auch im konzeptuellen Sinne umfassen (materielle Dimension) und zugleich eine gesellschaftliche Funktion (funktionale Dimension) wie auch eine symbolische Bedeutung (symbolische Dimension) aufweisen.<sup>37</sup></p><p>Diese mehrdimensionale Bedeutung wird ganz besonders Gedenkstätten zugesprochen, die an authentischen Orten z. B. an die Verbrechen des Nationalsozialismus erinnern.<sup>38</sup> Nicht selten verbinden diese Orte mit der Erinnerungsarbeit auch eine spezifische Forschung, wie im medizinhistorischen Kontext etwa für die Gedenkstätte und das Museum Sachsenhausen (Krankenrevier des KZ Sachsenhausen)<sup>39</sup> oder die Gedenkstätte Hadamar (Tötungsanstalt Hadamar)<sup>40</sup> bekannt. In Berlin mündete ein mehrjähriges wissenschaftshistorisches Forschungsprojekt in den <i>GeDenkOrt Charité</i>.<sup>41</sup> Peter Voswinckel beschrieb das Entstehen und das (physische) Verschwinden eines Erinnerungsorts auf dem Gelände der Charité anhand der so genannten Krebsbaracke.<sup>42</sup> Wissenschaftshistorisch erkenntnisgewinnend kann das Konzept der Erinnerungsorte, so zeigen es exemplarische Studien (zumeist aus der Medizingeschichte<sup>43</sup>), auch für Personen und ihr Werk,<sup>44</sup> für Fachgesellschaften<sup>45</sup> oder auch deren Kongresse<sup>46</sup> angewendet werden. Auch für erinnerungspolitische Initiativen zur Etablierung von Erinnerungsorten aus der Geschichte der Chemie<sup>47</sup> und der Physik<sup>48</sup> liegen erste Reflexionen vor.</p><p>Dass sich das Konzept der Erinnerungsorte auch transnational auf die Überschneidungen, Verflechtungen und Asymmetrien der Erinnerungskulturen zweier Nachbarländer anwenden lässt, zeigen die von Hahn et al. herausgegebenen <i>Deutsch-Polnische[n] Erinnerungsorte</i><sup>49</sup>, die sich auch auf wissenschaftshistorisch relevante Kontexte erstrecken. Als diesbezügliches Beispiel kann die dort nachzulesende Interpretation von Janusz Korczak als immaterieller „deutsch-polnischer Erinnerungsort“ dienen.<sup>50</sup> Schließlich wurden der Holocaust selbst als europäischer <i>lieu de mémoire</i> und die europäischen Länder als diesbezügliche Erinnerungsgemeinschaft mit einem „gemeinsamen europäischen Bezugspunkt in der Vergangenheit“ verstanden.<sup>51</sup> Ein Konzept, dessen Grenzen wiederum verwischt wurden durch die von Levy und Sznaider entworfene kosmopolitische Perspektive auf die Erinnerung an den Holocaust im Sinne „nationenübergreifender Gedächtniskulturen“.<sup>52</sup></p><p>Mit einem digitalen Erinnerungsort und der Initiative „Gegen das Vergessen“ gedenkt die Deutsche Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) der Ausgrenzung, Vertreibung und Ermordung ihrer jüdischen Mitglieder: „Die DGVS versteht die Erinnerung an ihre jüdischen Mitglieder 1932/1933 als fortwährenden Auftrag. Die Zusammenstellung der Biografien ist gleichsam ein offener Gedenkort, der durch einen kontinuierlichen Arbeitsprozess gestaltet wird.“<sup>53</sup> Offen ist die Frage, inwiefern eine aktive Erinnerungsarbeit im Anschluss an die Vielzahl von sogenannten Aufarbeitungsprojekten in den letzten 30 Jahren zur Geschichte der verschiedenen medizinischen Fachgesellschaften in der Zeit des Nationalsozialismus zur Regel, somit zum Teil ihrer jeweiligen fachkulturellen Erinnerung wurde.</p><p>Die Wirkungsweise kollektiver Gedächtnisse kann mithilfe der (sozialen) Netzwerkanalyse<sup>54</sup> im Sinne eines vernetzten Gedenkens analysiert werden und anknüpfen an methodisch etablierte Untersuchungen von Beziehungsverflechtungen zwischen Wissenschaftler:innen anhand von Korrespondenz-<sup>55</sup> oder auch (Ko-)Zitationsnetzwerken<sup>56</sup>. Solche Untersuchungen eröffnen die Möglichkeit, die zeitgenössische Wahrnehmung der Forschungsleistung und die hiermit verknüpfte Anerkennung einzelner Mitglieder der <i>scientific community</i> zu beleuchten. Sie verdeutlichen zugleich die außerordentliche Wirkung, die institutionelle<sup>57</sup> und personelle Strukturen im akademischen Metier<sup>58</sup> auf die fachkulturelle Erinnerung entfalten können. So kann beispielsweise die individuelle Bezugnahme einzelner Wissenschaftler:innen auf akademisch renommierte Institutionen zur „Konstruktion einer disziplinarischen Linearität, einer Abfolge gelehrter Menschen“ beitragen und damit die „zukünftige Gestalt des akademischen Metiers im eigenen Sinne“ beeinflusst und für kommende Generationen festgeschrieben werden.<sup>59</sup> Dabei profitieren Mitglieder von Institutionen, beispielsweise von Wissenschaftsakademien,<sup>60</sup> aufgrund des positiven <i>Sich-in-Beziehung-Setzens</i> zu anderen profilierten Gelehrten hinsichtlich ihrer akademischen Reputation von Erinnerungsnetzwerken. In wissenschaftlichen Fachgesellschaften sorgen Ehrenmitgliedschaften und renommierte Wissenschaftspreise für ähnliche Effekte, wobei „die ehrende Institution und die Geehrten wechselseitig voneinander profitieren“.<sup>61</sup> Sie konstruieren ein symbolisch aufgeladenes <i>sample</i> von besonders erinnerungswürdigen Fachvertreter:innen. Ebenso identitätsstiftend wirken Eponyme und Benennungen von Preisen, deren Impulsgeber in den meisten Fällen berufliche Weggefährt:innen oder auch akademische Schüler:innen sind.</p><p>Eine besonders starke, unter Umständen lebenslang aufrechterhaltene Bezugnahme erfahren Lehrer:innen von ihren Schüler:innen,<sup>62</sup> bei denen die Dankbarkeit für erlernte Fähigkeiten, für die Aufnahme in fachspezifische Netzwerke im Sinne einer karrierefördernden Patronage unter Umständen das Tradieren von Lehrmeinungen oder Methoden befördert, die mit dem Namen des akademischen Lehrers oder der Lehrerin verbunden sind. Des Weiteren entfalten akademische Schüler-Lehrer-Verhältnisse nicht selten eine charakteristische Erinnerungsdynamik in ritualisierten akademischen Jubiläumsfeierlichkeiten und -beiträgen sowie in Nekrologen, die die fachkulturelle Erinnerung über die individuellen Forscherpersönlichkeiten hinaus präformieren.<sup>63</sup> Insbesondere das Genre der Nachrufe wurde als Ort identifiziert, „an dem sich ein Forschungsfeld über sich selbst verständigt“.<sup>64</sup> Dazu können die Zugehörigkeit zu einem spezifischen Forschungsfeld, soziale Netzwerke und Informationen zum fachspezifischen Habitus gehören.<sup>65</sup> Im Sinne einer intellektuellen Genealogie kann von einer Art akademischen Familiengedächtnis gesprochen werden, teilweise mit dem Effekt der „kumulativen Heroisierung“, wie sie die vergleichende Tradierungsforschung bei der Wiedererzählung des großelterlichen Narrativs zu den eigenen Erfahrungen im Nationalsozialismus beobachtet hat.<sup>66</sup></p><p>Warum aber funktioniert dieses akademische Familiengedächtnis nicht immer? Warum werden Akademiker:innen vergessen, obwohl sie in entsprechenden Strukturen eingebunden und anerkannt waren, wie Tobias Winnerling für vier Gelehrte aus dem späten 17. Jahrhundert<sup>67</sup> nachgezeichnet hat? Aleida Assmann beschreibt das Nicht-Erinnern als selektives Vergessen, als „Ausblendung all dessen, was nicht in den jeweiligen Erinnerungsrahmen passt“.<sup>68</sup> Für das Vergessen und Verschweigen innerhalb der ärztlichen Biographik nach 1945 der im Nationalsozialismus verfolgten, vertriebenen oder ermordeten Ärzt:innen hat Peter Voswinckel ganz bewusst den Begriff der „Damnatio memoriae“<sup>69</sup> gewählt und damit diesen Prozess als intentionale Handlung im Sinne einer fachkulturellen Erinnerungspolitik gekennzeichnet. Der physischen Vertreibung jüdischer Kolleg:innen folgte dabei nicht selten auch die Auslöschung aus dem Gedächtnis der Erinnerungsgemeinschaft. Begünstigt wird das Verschwinden von Akteur:innen aus der fachkulturellen Erinnerung auch durch strukturelle Arbeitsbedingungen in den Wissenschaften, beispielsweise temporäre Mitarbeit an Forschungsentwicklungen.<sup>70</sup></p><p>Es lohnt sich für Wissenschaftshistoriker:innen – so meinen wir – diese jeweiligen Erinnerungsrahmen zu entschlüsseln, insbesondere dann, wenn nicht nur Akteur:innen, sondern auch die mit ihnen verbundenen Konzepte ohne erkennbare fachliche Begründung aus dem Wissenskanon der jeweiligen Disziplin oder der Fachrichtung verschwunden sind.</p><p>Als Gründe für die zu beobachtende außerordentliche Konjunktur von Erinnerungsphänomenen sowohl innerhalb als auch außerhalb des akademischen Diskurses werden vor allem historische Transformationsprozesse wie das Ende der durch Zeitzeug:innen vermittelten Erinnerung an die Shoah oder die Rekonfiguration nationaler und ethnischer Gedächtnisse nach dem Ende des Kalten Krieges in Europa angeführt.<sup>71</sup> Eine Erinnerungskonjunktur kann allerdings auch durch unvorhergesehene Ereignisse ausgelöst werden, wie das jüngst gesteigerte Interesse an der historischen Seuchengeschichte im Kontext der Covid-19-Pandemie gezeigt hat.<sup>72</sup> Am Beispiel der Spanischen Grippe von 1918/19 diskutiert der Band <i>Pandemic Re-Awakenings</i> dezidiert die Mechanismen des Erinnerns und Vergessens mit Blick auf dieses Jahrhundertereignis im internationalen Vergleich.<sup>73</sup> Im Kontext der Pandemieereignisse entbrannte in Deutschland eine erinnerungspolitische Debatte um den Namensgeber des Robert-Koch-Instituts, der zu dieser Zeit in der Öffentlichkeit wohl sichtbarsten wissenschaftlichen Institution. In die mediale Auseinandersetzung zur Frage einer Umbenennung schalteten sich auch Vertreter:innen der Wissenschaftsgeschichte ein.<sup>74</sup></p><p>Als ein weiterer wirkmächtiger Auslöser für erinnerungskulturelle, aber auch geschichtswissenschaftliche Konjunkturen können Jubiläen fungieren, wie Gundermann et al. in ihrer Einleitung zum Sammelband <i>Historische Jubiläen. Zwischen historischer Identitätsstiftung und geschichtskultureller Reflexion</i> zeigen können:</p><p>Tatsächlich verraten Verlagsprospekte historischer Fachbücher und Angebotstische in Buchhandlungen viel über eine ausgeprägte Orientierung der Vergangenheitsvergegenwärtigung an historischen Daten und einer Heraushebung ihrer Wiederkehr. Dies verläuft quer zum wissenschaftlichen Primat einer Dekonstruktion von Ereignisfixierung und Kausalitätschronologien.<sup>75</sup></p><p>In der Wissenschaftsgeschichte sind es insbesondere Jubiläumsfeiern und die mit ihnen verbundenen Festschriften für wissenschaftliche Institutionen, die sehr häufig in dem oben beschriebenen Konflikt stehen. Habbo Knoch spricht beispielweise von Universitätsjubiläen als „Kristallisationspunkten universitärer Sinnstiftungen“.<sup>76</sup> Auch für die Erinnerung an einzelne Forscher:innen spielen Jubiläen und Jahrestage eine zentrale Rolle. (Fach-)öffentlich begangene Jahrestage spiegeln dabei nicht nur die erinnerungspolitische Agenda der jeweiligen Gedächtnisakteur:innen wider, sondern verdeutlichen auch reflexionsbedürftige Hierarchien und Narrative.<sup>77</sup></p><p>Diese hegemonialen Narrative dominieren sehr häufig das fachkulturelle Gedächtnis. Im Hinblick auf die Reflexion der jeweils eigenen Rolle während des Nationalsozialismus konnte bereits an vielen Beispielen verdeutlicht werden, wie wirkmächtig sie vor allem in kleineren Erinnerungsgemeinschaften sind.<sup>78</sup></p><p>Entsprechende Transformationsprozesse werden vor allem als Konflikt wahrgenommen<sup>79</sup> und lassen sich gleichermaßen auf der Ebene des nationalen Gedächtnisses an den Holocaust nachvollziehen.<sup>80</sup> Malte Thießen fasste dieses vielfach beschriebene Phänomen jüngst prägnant zusammen:</p><p>Erinnerungen drehen sich nicht um Vergangenheit, sondern um die Gegenwart. Die Dissonanzen der Erinnerung erklären sich weniger aus der Konfliktträchtigkeit von Vergangenheit, sondern aus Konfliktlagen und Bedürfnissen der Gegenwart. Erinnerung ist umstritten, weil es in dem Streit um uns selbst und um unsere Sicht auf die Welt geht. Dissonanzen sind damit der beste Beweis, dass Erinnerungen uns alle angehen.<sup>81</sup></p><p>Im fachkulturellen Erinnerungsdiskurs sind solche Dissonanzen besonders laut hörbar, wenn die „Entehrung“ von Wissenschaftler:innen im öffentlichen Raum verhandelt wird und hierbei gegenwärtige Identitätskonstruktionen berührt werden. Ein prägnantes Beispiel stellt der von der Universität Salzburg vorgenommene Widerruf der Verleihung der Ehrendoktorwürde an Konrad Lorenz dar, der wiederum zum Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit weiteren „Ehrregimen“ wurde.<sup>82</sup> Vergleichbare Diskurse, wie etwa bei der Umbenennung von Preisen, deren Namensträger:innen aus verschieden Gründen als nicht mehr vorbildhaft betrachtet werden, überschreiten in aller Regel fachinterne Grenzen.<sup>83</sup></p><p>Dies ist im Besonderen der Fall bei der Diskussion um die Umbenennung von öffentlich sichtbaren wissenschaftlichen Institutionen, die politische Transformationsprozesse auf einer mikrohistorischen Ebene reflektieren und „hegemoniale Inskription[en] und Formen der Appropriation in der Geschichtspolitik im öffentlichen Raum“<sup>84</sup> verdeutlichen: Hier stehen zumeist politische Verantwortungsträger:innen und gesellschaftliche Interessengruppen im Vordergrund. In der Regel medial verstärkt erhöhen diese Protagonist:innen die öffentliche Aufmerksamkeit und prägen den Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozess weit über einen wissenschaftshistorischen Diskurs hinaus.<sup>85</sup></p><p>Abschließend lässt sich festhalten: Die akademische Wissenschaftsgeschichte wirkt in der Konfiguration und Transformation der fachkulturellen und öffentlichen Erinnerung auf drei, selten trennscharf voneinander abgegrenzten Ebenen:</p><p>Auf Reiz und Risiko der Verbindung von Auftragsforschung und Selbsthistorisierung wies Ralph Jessen hin.<sup>86</sup> Einer Reflexion ihrer unterschiedlichen Rollen in den erinnerungskulturellen Aushandlungsprozessen sollten sich Wissenschaftshistoriker:innen somit nicht entziehen, wie Rieger-Ladich et al. für die Erziehungswissenschaften feststellten:</p><p>Eine nach den Maßstäben historischer Epistemologie verfahrende Wissens- und Disziplingeschichte beteiligt sich daher in dem Maße selbst an emergenten Praktiken des <i>Erinnerns</i>, <i>Umschreibens</i> und <i>Vergessens</i>, wie sie diese Praktiken zum historiographischen Gegenstand ihrer (selbstreflexiven) Untersuchung macht.<sup>87</sup></p><p>Anknüpfend an die hier skizzierten vielfältigen Forschungsfelder der <i>Memory Studies</i> und den damit aufgeworfenen Fragestellungen im Kontext der Wissenschaftsgeschichte fokussiert dieses Themenheft empirisch und erinnerungstheoretisch auf die Indienstnahme der Erinnerung an Forscher:innen sowohl im fachkulturellen als auch im öffentlichen Diskurs vor dem Hintergrund politischer und gesellschaftlicher Transformationsprozesse. Ausgehend von den spezifischen Identifikationspotentialen historischer Persönlichkeiten in den Wissenschaften einerseits und der Wahrnehmung von Wissenschaftler:innen in der Öffentlichkeit andererseits wird die gegenseitige Einflussnahme von gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Gedächtniskulturen untersucht. Die Forschungsbeiträge aus der Medizin- und Pädagogikgeschichte verdeutlichen beispielhaft die genannten Konjunkturen und Transformationsprozesse.<sup>89</sup> Die hier publizierten Problemaufrisse sollen zugleich vergleichende Arbeiten zu den unterschiedlichen Erinnerungskulturen innerhalb der (Natur-)Wissenschaften auch im Kontext internationaler Debatten anregen.</p><p>In den Einzelstudien werden Aspekte der Biographie-, Tradierungs-, Disziplinen- und Geschlechterforschung aufgegriffen, um Transformationsprozesse von Erinnerungskulturen und ihre zeithistorischen Kontexte zu beleuchten, die sich in „Benennungskonjunkturen“ und „Denkmalstürzen“ in Wissenschaft und Öffentlichkeit abbilden.</p><p>Zu den prägnantesten Beispielen für den Erinnerungstransfer zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit zählen Schulbenennungen: Schulnamen können als prestigeträchtiges stadt- oder landespolitisches Aushängeschild gelten. Sie transportieren niederschwellig und in verschiedener Gewichtung miteinander kombiniert pädagogische und zeithistorische Erinnerungskulturen einer Gesellschaft sowie Bildungs- und auch Erinnerungsprofile einer Einrichtung. Der Beitrag von <b>Sebastian Engelmann und Katharina Weiand</b> untersucht anhand einer exemplarischen Auswertung aller Schulnamen des Bundeslandes Thüringen Schulbenennungspraktiken und -mechanismen im Spiegel der Geschichte der Pädagogik. Ausgangspunkt der Untersuchung stellt damit die These einer bestehenden Beziehung zwischen der Geschichte der Pädagogik und den Schulbenennungspraktiken dar. Die Autor:innen können hierbei aufzeigen, dass in der Vergangenheit vor allem praktisch tätige Reformpädagog:innen als Namensstifter:innen für Schulen gewählt wurden. Diese Tatsache weise – so das Resümee der Autor:innen – auf disziplinäre „Sichtbarkeitsregime“ hin und trage zu einer „Stabilisierung und Homogenisierung der Wahrnehmung der Geschichte der Pädagogik“ bei.<sup>90</sup> Für das Fallbeispiel Thüringen ließen sich zudem Schulbenennungen identifizieren, die an die regionale Bildungsgeschichte rückgebunden werden können.</p><p>Die Erinnerung an den Reformpädagogen Janusz Korczak – selbst Namensgeber von etwa 80 Bildungseinrichtungen allein in Deutschland – erlebte eine Konjunktur in den 1970er und 1980er Jahren in beiden Teilen Deutschlands und wird bis heute wachgehalten. Am Anfang dieses Erinnerungsbooms stand die posthume Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahr 1972, die eine öffentliche Debatte hervorrief, in der wesentliche Erinnerungsnarrative formuliert wurden, die auch die in den folgenden Jahren verstärkt einsetzende wissenschaftliche Korczak-Rezeption in Deutschland prägen sollten. Der Beitrag von <b>Anne Oommen-Halbach und Thorsten Halling</b> analysiert die im Spiegel der Kontroverse um „das Erbe“ Korczaks konkurrierenden vielfältigen Indienstnahmen des Arztes, Schriftstellers und Pädagogen, die sich zu einer internationalen diplomatischen Krise ausweiteten. Hierbei lässt sich am Beispiel Korczaks, der im öffentlichen Gedenken stärker mit dem Holocaustgedenken als mit der Vision einer friedlichen und freiheitlichen Pädagogik assoziiert wird, das Auseinanderdriften von wissenschaftlicher und öffentlicher Erinnerungskultur besonders prägnant nachvollziehen.</p><p>Erinnerungskonflikte innerhalb wissenschaftlicher Fachgesellschaften wurden seit den 1990er Jahren wesentlich durch späte – nicht selten erst durch öffentliche Diskurse angestoßene – Auseinandersetzungen mit dem NS-Erbe geprägt. Die Phänomene einer fachkulturellen Neuorientierung, z. B. durch die Aberkennung gesellschaftseigener Wissenschaftspreise und -auszeichnungen oder aber von Ehrendoktoraten und -mitgliedschaften, diskutiert der Beitrag von <b>Matthis Krischel, Julia Nebe und Timo Baumann</b> vor dem Hintergrund vielfältiger Detailstudien der Autor:innen zu unterschiedlichen medizinischen Fachdisziplinen. Hierbei verfolgen die Autor:innen die Frage, welche Bedingungen gegeben sein müssen, damit eine oder ein Gelehrte(r) als Identifikationsfigur innerhalb eines spezifischen medizinischen Kontextes fungieren kann bzw. welche Umstände dazu führen können, dass eine solche Rolle nicht mehr ausgefüllt werden kann. Untersucht werden Fallbeispiele aus der Humangenetik (Hans Nachtsheim), der Kreislaufforschung (Rudolf Thauer), der Urologie (Dora Teleky) sowie der Zahnmedizin (Elsbeth von Schnizer). Dabei wird zum einen der bislang kaum beachtete Aspekt eines dissonanten Erinnerns von Frauen und Männern in den Fachgesellschaften integriert und zum anderen die enge Verzahnung von wissenschaftshistorischen Akteur:innen mit den von ihnen selbst untersuchten Fachdisziplinen aufgezeigt und reflektiert.</p><p>Beispielhaft für vielfältige Diskussionen zu (Um)benennungen von öffentlichen Plätzen, Straßen und Institutionen untersucht der Beitrag von <b>Thomas Beddies</b> an der Schnittstelle von öffentlicher Erinnerungspolitik und Wissenschaftsgeschichte den in Berlin entbrannten Diskurs um das zweifelhafte NS-Erbe des Pathologen Robert Rössle. Dabei stehen bei Rössle insbesondere Vorwürfe zu seiner opportunistischen Haltung während des Nationalsozialismus sowie zu seiner mit NS-rassehygienischen Paradigmen konformen Forschung im Raum. Der Beitrag beschreibt Rössles Stellung in der damaligen DDR und diskutiert die aktuell divergierenden Narrative der beteiligten Akteur:innen zur Bewertung des Pathologen im Spannungsfeld zwischen der Anerkennung seiner Forschungsleistung einerseits und der Verwerfung seiner Verstrickungen in den NS-Staat andererseits unter dem Aspekt eines dissonanten Erinnerns. Dabei lassen sich anhand des konkreten Beispiels zahlreiche grundsätzliche Fragen aufwerfen, wie das Handeln eines Einzelnen im komplexen persönlichen, professionellen und gesellschaftlichen Bedingungsgefüge zu beurteilen ist. Der Beitrag plädiert dafür, solche öffentlichen Auseinandersetzungen produktiv zu nutzen für ein reflexives Geschichtsbewusstsein im Sinne einer anhaltenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung.</p><p>Schließlich untersucht <b>Felicitas Söhner</b> das Phänomen der hegemonialen Narrative in den Erinnerungskulturen als Voraussetzung der Identitätsbildung und Sinnstiftung einer Erinnerungsgemeinschaft. In der Zeitgeschichte sind es immer wieder zentrale Akteur:innen eines Fachgebiets, die aktiv an der Gestaltung von solchen Erzählungen mitwirken und sie mit dem Argument des exklusiven Wissens um bestimmte Vorgänge, Hintergründe und Motivlagen zu bestimmen versuchen. Eine kritische, wissenschaftshistorische Analyse fachkultureller Erinnerung ist daher zur Dekonstruktion solcher Narrative gezwungen. Der Beitrag reflektiert die methodischen Herausforderungen von Oral History-Projekten in der Medizingeschichte am Beispiel von Expert:inneninterviews zur Psychiatriereform in der BRD vor dem Hintergrund der eugenischen Ideen, die bis in die 1960er Jahre in der deutschen Psychiatrie fortwirkten. Analysiert wird insbesondere der Deutungsanspruch, der von den Expert:innen gegenüber den als peripher wahrgenommenen Ko-Akteur:innen formuliert wird.</p><p>In seinem abschließenden Kommentar greift <b>Alexander Pinwinkler</b> zahlreiche Aspekte der in den Einzelbeiträgen untersuchten Erinnerungsphänomene – wie Identifikationsfiguren, konkurrierende Erinnerung, Erinnerungskonflikte und hegemoniale Narrative – an einigen konkreten Beispielen zu sogenannten Ehrregimen im akademischen Kontext auf. Er diskutiert das Erkenntnispotential von Erinnerungskulturen für das Wechselverhältnis zwischen den deutschsprachigen Wissenschaften und dem öffentlichen Verständnis von Forschung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und des beginnenden 21. Jahrhunderts.</p><p>Auch die Gedächtniskulturen in den (deutschen) Wissenschaften werden auf vielfältige Weise durch die „langen Schatten des Holocaust“<sup>91</sup> als zentraler Bezugspunkt der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts geprägt.<sup>92</sup> Die meisten Beiträge betrachten den Umgang mit der NS-Erinnerung vor dem Hintergrund sich wandelnder zeithistorischer Bezugsrahmen als einen permanenten Aushandlungsprozess. Von wissenschaftshistorischem Interesse sind besonders die strukturellen Veränderungen, die sich hinter offensichtlichen Erinnerungsbrüchen verbergen. Dazu gehören beispielsweise Generationenwechsel in Erinnerungsgemeinschaften und damit ebenfalls verknüpfte neue Forschungsparadigmen, die neue Identifikationsfiguren hervorbringen. An diese Debatten anschließend, beleuchten die folgenden Beiträge unterschiedliche Diskursebenen und geographische Räume. Alle verbindet, dass sie den feinen Schwingungen nachspüren, die sich in der Erinnerungskultur – als einer Art gesellschaftspolitischer und zeithistorischer Seismographin – in- und außerhalb der Wissenschaften permanent verändern. Mit der Analyse von Gedenkkulturen eröffnen sich zugleich nicht nur für die Medizin- und Pädagogikgeschichte, sondern für die Wissenschafts- und Disziplinengeschichte insgesamt neue Perspektiven auf die aktuell diskutierte Ausrichtung von Wissenschaftskommunikation über ein <i>Public Understanding of Science</i> hinaus hin zu <i>Public Engagement with Science</i>.<sup>93</sup></p>","PeriodicalId":55388,"journal":{"name":"Berichte zur Wissenschaftsgeschichte","volume":"47 1-2","pages":"7-26"},"PeriodicalIF":0.6000,"publicationDate":"2024-04-12","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"https://onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.1002/bewi.202300024","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Berichte zur Wissenschaftsgeschichte","FirstCategoryId":"98","ListUrlMain":"https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/bewi.202300024","RegionNum":2,"RegionCategory":"哲学","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"Q2","JCRName":"HISTORY & PHILOSOPHY OF SCIENCE","Score":null,"Total":0}
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Abstract
Forscher:innen sind im öffentlichen Gedächtnis als Namensgeber:innen von Straßen, Plätzen und Institutionen weit über den Kontext von Universitäten und Forschungseinrichtungen hinaus allgegenwärtig. Insbesondere vor dem Hintergrund der deutschen Kolonialpolitik, des Nationalsozialismus und der SED-Herrschaft sind jedoch viele dieser Benennungen zunehmend umstritten.1 Gerade erinnerungspolitische Debatten führ(t)en oft zu wissenschaftshistorischen (Auftrags-)Studien und einer veränderten öffentlichen Wahrnehmung historischer Persönlichkeiten. Dieses Wechselverhältnis ist in der Wissenschaftsgeschichte vor allem für den deutschen Sprachraum bislang nur punktuell beleuchtet worden.
Gedächtnis und Erinnerung als individuelle und soziale Phänomene verbinden Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften wie wenige andere, so konstatiert die Literaturwissenschaftlerin Astrid Erll in ihrer Einführung Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen.2 Inzwischen wird dieser als kulturwissenschaftliches Paradigma bezeichnete Forschungsansatz einer andauernden (Selbst-)Historisierung unterzogen.3 Im deutschen Sprachraum sind es vor allem die Arbeiten von Aleida und Jan Assmann, die sich seit den 1990er Jahren in vielen Studien als anschlussfähig erwiesen haben, gleichwohl sie konzeptuell kritisch hinterfragt wurden.4 Aleida Assmann selbst wies darauf hin, dass die Einzeldisziplinen ihre jeweils spezifischen Perspektiven auf das Gedächtnis entwickelt haben.5
Anhand zentraler Themenfelder der Memory Studies möchten wir in dieser Einleitung entsprechende Ansätze in der Wissenschaftsgeschichte skizzieren. Der im anglo-amerikanischen Sprachraum geprägte Begriff wird hier bewusst genutzt, da er den Forschungsansatz betont, den die seit 2008 erscheinende gleichnamige Zeitschrift prägnant definiert hat:
Memory Studies examine[s] the social, cultural, cognitive, political and technological shifts affecting how, what and why individuals, groups and societies remember, and forget. The journal responds to and seeks to shape public and academic discourses on the nature, manipulation, and contestation of memory in the contemporary era.6
Der deutsche Begriff der Erinnerungskultur umfasst verschiedene Bedeutungsebenen: Analysekategorie, Forschungsgegenstand sowie einen intentionalen Aspekt, der auch als Erinnerungspolitik bezeichnet wird.7
Ausführlich diskutiert wurden die Schnittmengen von Erinnerungskultur zur Public History, verstanden als angewandte Geschichtswissenschaft, zu der Oral History, Museen, Gedenkstätten, Medien und Archive zählen.8 Traditionelle wissenschafts- und medizinhistorische Sammlungen an den Universitäten, interaktive Wissenschafts- und Technikmuseen sowie Industriedenkmale sind Bestandteil dieser Geschichtsvermittlung, die immer auch einzelne Forscher:innen ins öffentliche Gedächtnis rückt: Jüngst präsentierte die Max-Planck-Gesellschaft z. B. eine Ausstellung über „ihre“ Nobelpreisträger in der Bibliothek des Deutschen Museums in München mit dem Titel Pioniere des Wissens.9 Partizipative Formate der Public History wie Geschichtsvereine10 und Geschichtswerkstätten11 sind im wissenschaftshistorischen Kontext in Form von Historischen Arbeitskreisen der Fachgesellschaften zu finden. Im Rahmen der Rekonstruktion der jeweiligen Fachgeschichte arbeiten hier charakteristischer Weise Vertreter:innen der Fachdisziplinen gemeinsam mit (Wissenschafts-)Historiker:innen an dem jeweiligen fachkulturellen Gedächtnis. In vielen Fällen sind es Auftragsforschungen, z. B. zur Geschichte der jeweiligen Fachgesellschaft während des Nationalsozialismus, die diese Zusammenarbeit initiieren oder aber befördern.12 In der Medizingeschichte hat bereits ein entsprechender Reflexionsprozess eingesetzt: „[…] die fachgesellschaftliche Erinnerungskultur [ist] immer wieder zeithistorisch kritisch zu analysieren, um über eine stetige Reflexion der Medizin die ‚Last und Lehre‘ zu erhalten.“13 Auch und gerade Wissenschafts- und Medizinhistoriker:innen befinden sich daher nicht selten in unterschiedlichen Kontexten im Spannungsfeld von Geschichtsvermittlung – und damit auch der aktiven Mitgestaltung von Erinnerungskulturen – und der kritischen Analyse von Effekten einer Public History.
Insbesondere im Hinblick auf Konjunkturen und Transformationsprozesse der Erinnerung an Persönlichkeiten in den Wissenschaften im Kontext ihrer jeweiligen Disziplin sollen mit dieser Einleitung, aber auch mit diesem Themenheft insgesamt offene Fragen aufgeworfen werden. Erkenntnisleitend ist dabei die These, dass Forscher:innen, die sich mit Erinnerungskulturen in den Wissenschaften – insbesondere dann, wenn es sich womöglich um ihre eigene Disziplin handelt – vor der Herausforderung stehen, sich zumindest temporär von ihrer Identität als Teil der analysierten Erinnerungsgemeinschaft lösen zu müssen, um nicht den Logiken der fachkulturellen Erinnerung (dieser Begriff wird noch zu erläutern sein) zu unterliegen. Zahlreiche Beispiele aus den mit den Memory Studies befassten Disziplinen verdeutlichen das Problem der Selbstreflexion, sobald die Analyse von historischen Sachverhalten die persönlichen Erinnerungs- und Identitätskonstruktionen bedroht. Insbesondere die Verstrickung von akademischen Vorbildern in den Nationalsozialismus erweist sich hier immer wieder als Stolperstein.14 Auch der Umgang von Medizinhistoriker:innen mit familienbiographischen Gesichtspunkten war bereits Gegenstand einer fachinternen erinnerungskulturellen Debatte,15 die auf das komplexe Bedingungsgefüge von individuellem und kollektivem Erinnern verweist.
In den meisten kulturwissenschaftlichen Darstellungen werden die neuroanatomischen und neurofunktionalen Grundlagen16 und die Psychologie17 des individuellen Erinnerns bestenfalls gestreift. Besondere Aufmerksamkeit hingegen erhält die Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses,18 auch im Hinblick auf die Frage des wissenschaftshistorischen Erkenntniswertes von Autobiographien von Wissenschaftler:innen für die Entwicklungsgeschichte von Fachkulturen.19
Lebensläufe werden durch soziale Gedächtnisse gerahmt und sind zugleich ein Teil von sozialen Gedächtnissen. In der neueren sozialwissenschaftlichen Biographieforschung wurde daher vorgeschlagen, (Auto-)Biographien als Gedächtniskategorie zu verstehen.20 Inwieweit autobiographische Erinnerungen die Erinnerungskultur eines ganzen, zumindest kleineren Fachs prägen können, gilt es noch vergleichend zu untersuchen.
Ein wichtiges erinnerungskulturelles, hieran anknüpfendes Forschungsfeld ist die Oral History, die weniger als eine Ansammlung von subjektiven Erinnerungen und Anekdoten zu verstehen ist als vielmehr als Methodik, mit der Erinnerungen von Zeitzeug:innen analysiert, kontextualisiert und für die nachfolgende historische Forschung im Idealfall dauerhaft zugänglich gemacht werden können.21
Mit dem Begriff des kollektiven Gedächtnisses ist eine Vielzahl von nicht trennscharfen Konzepten und weiteren Termini (z. B. Erinnerungsorte, Erinnerungskulturen, Erinnerungsgemeinschaften) verbunden. Im Mittelpunkt stehen in der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung verschiedene sogenannte Erinnerungsmodi (u. a. soziales, kommunikatives oder auch kulturelles Gedächtnis), die versuchen, Erinnerungsphänomene in zeitliche, räumliche und funktionale Beziehung zueinander zu setzen. Die wirkmächtigen Überlegungen zur Differenzierung von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis einerseits und dem Funktions- und Speichergedächtnis (Jan und Aleida Assmann) andererseits machen zugleich die Transformationsprozesse von Erinnerungskulturen erklärbar.22 Gedächtniskulturen unterliegen einer diachronen Pluralität und sind dabei sowohl innerhalb als auch außerhalb der Wissenschaften als „diskursives Konstrukt“23 zu verstehen.
In Anlehnung an die Idee von Fachkulturen in den Wissenschaften,24 insbesondere infolge von Professionalisierung und Fachdifferenzierung,25 wird an dieser Stelle dafür plädiert, die heterogene Erinnerungskultur in den Wissenschaften differenziert als fachkulturelle Erinnerung zu verstehen. Fachkulturen können sich in jeweils eigenen Ausprägungen, beispielsweise von „Ordnungen der Geschlechter“26, Fachsprache27, Evidenzarrangements28, epistemischen Praktiken29, Denkstilen30, Methoden, Publikationsstrategien, Anerkennung31 und Habitus32 ausdrücken. Einige dieser Ausprägungen beeinflussen auch die Ausdifferenzierungen der fachkulturellen Erinnerung der jeweiligen Wissenschaften und ihrer Subdisziplinen.
Fachkulturelle Erinnerung dient Teildisziplinen intern zur Identitätsstiftung und zur Selbstvergewisserung auch gegenüber dem wissenschaftlichen Nachwuchs sowie zur Pflege von Reputationsgenealogien.33 Extern dienen Tradition und Erfahrung in Abgrenzung zu konkurrierenden Nachbardisziplinen als Qualitäts- und Alleinstellungsmerkmale. Gedächtnisakteur:innen sind hier sowohl Fachgesellschaften als auch akademische Institutionen aus den jeweiligen Disziplinen.34 Die in jüngster Zeit häufiger zu beobachtende „Wiederentdeckung“ von weiblichen Identifikationsfiguren in der Geschichte einzelner Fachdisziplinen ist hierbei als eine – sowohl nach innen als auch nach außen gerichtete – fachkulturelle Erinnerungspolitik im Kontext neuer gesellschaftlicher Geschlechterordnungen zu verstehen, die gezielt von Entscheidungsträgern, z. B. von Vorständen der Fachgesellschaften, gesteuert wird.35
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Angelehnt an das Konzept der lieux de mémoire von Pierre Nora, haben sich Erinnerungsorte als vielfältig anschlussfähige36 Analysekategorie in den Memory Studies etabliert. Sie können dabei Orte im engeren als auch im konzeptuellen Sinne umfassen (materielle Dimension) und zugleich eine gesellschaftliche Funktion (funktionale Dimension) wie auch eine symbolische Bedeutung (symbolische Dimension) aufweisen.37
Diese mehrdimensionale Bedeutung wird ganz besonders Gedenkstätten zugesprochen, die an authentischen Orten z. B. an die Verbrechen des Nationalsozialismus erinnern.38 Nicht selten verbinden diese Orte mit der Erinnerungsarbeit auch eine spezifische Forschung, wie im medizinhistorischen Kontext etwa für die Gedenkstätte und das Museum Sachsenhausen (Krankenrevier des KZ Sachsenhausen)39 oder die Gedenkstätte Hadamar (Tötungsanstalt Hadamar)40 bekannt. In Berlin mündete ein mehrjähriges wissenschaftshistorisches Forschungsprojekt in den GeDenkOrt Charité.41 Peter Voswinckel beschrieb das Entstehen und das (physische) Verschwinden eines Erinnerungsorts auf dem Gelände der Charité anhand der so genannten Krebsbaracke.42 Wissenschaftshistorisch erkenntnisgewinnend kann das Konzept der Erinnerungsorte, so zeigen es exemplarische Studien (zumeist aus der Medizingeschichte43), auch für Personen und ihr Werk,44 für Fachgesellschaften45 oder auch deren Kongresse46 angewendet werden. Auch für erinnerungspolitische Initiativen zur Etablierung von Erinnerungsorten aus der Geschichte der Chemie47 und der Physik48 liegen erste Reflexionen vor.
Dass sich das Konzept der Erinnerungsorte auch transnational auf die Überschneidungen, Verflechtungen und Asymmetrien der Erinnerungskulturen zweier Nachbarländer anwenden lässt, zeigen die von Hahn et al. herausgegebenen Deutsch-Polnische[n] Erinnerungsorte49, die sich auch auf wissenschaftshistorisch relevante Kontexte erstrecken. Als diesbezügliches Beispiel kann die dort nachzulesende Interpretation von Janusz Korczak als immaterieller „deutsch-polnischer Erinnerungsort“ dienen.50 Schließlich wurden der Holocaust selbst als europäischer lieu de mémoire und die europäischen Länder als diesbezügliche Erinnerungsgemeinschaft mit einem „gemeinsamen europäischen Bezugspunkt in der Vergangenheit“ verstanden.51 Ein Konzept, dessen Grenzen wiederum verwischt wurden durch die von Levy und Sznaider entworfene kosmopolitische Perspektive auf die Erinnerung an den Holocaust im Sinne „nationenübergreifender Gedächtniskulturen“.52
Mit einem digitalen Erinnerungsort und der Initiative „Gegen das Vergessen“ gedenkt die Deutsche Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) der Ausgrenzung, Vertreibung und Ermordung ihrer jüdischen Mitglieder: „Die DGVS versteht die Erinnerung an ihre jüdischen Mitglieder 1932/1933 als fortwährenden Auftrag. Die Zusammenstellung der Biografien ist gleichsam ein offener Gedenkort, der durch einen kontinuierlichen Arbeitsprozess gestaltet wird.“53 Offen ist die Frage, inwiefern eine aktive Erinnerungsarbeit im Anschluss an die Vielzahl von sogenannten Aufarbeitungsprojekten in den letzten 30 Jahren zur Geschichte der verschiedenen medizinischen Fachgesellschaften in der Zeit des Nationalsozialismus zur Regel, somit zum Teil ihrer jeweiligen fachkulturellen Erinnerung wurde.
Die Wirkungsweise kollektiver Gedächtnisse kann mithilfe der (sozialen) Netzwerkanalyse54 im Sinne eines vernetzten Gedenkens analysiert werden und anknüpfen an methodisch etablierte Untersuchungen von Beziehungsverflechtungen zwischen Wissenschaftler:innen anhand von Korrespondenz-55 oder auch (Ko-)Zitationsnetzwerken56. Solche Untersuchungen eröffnen die Möglichkeit, die zeitgenössische Wahrnehmung der Forschungsleistung und die hiermit verknüpfte Anerkennung einzelner Mitglieder der scientific community zu beleuchten. Sie verdeutlichen zugleich die außerordentliche Wirkung, die institutionelle57 und personelle Strukturen im akademischen Metier58 auf die fachkulturelle Erinnerung entfalten können. So kann beispielsweise die individuelle Bezugnahme einzelner Wissenschaftler:innen auf akademisch renommierte Institutionen zur „Konstruktion einer disziplinarischen Linearität, einer Abfolge gelehrter Menschen“ beitragen und damit die „zukünftige Gestalt des akademischen Metiers im eigenen Sinne“ beeinflusst und für kommende Generationen festgeschrieben werden.59 Dabei profitieren Mitglieder von Institutionen, beispielsweise von Wissenschaftsakademien,60 aufgrund des positiven Sich-in-Beziehung-Setzens zu anderen profilierten Gelehrten hinsichtlich ihrer akademischen Reputation von Erinnerungsnetzwerken. In wissenschaftlichen Fachgesellschaften sorgen Ehrenmitgliedschaften und renommierte Wissenschaftspreise für ähnliche Effekte, wobei „die ehrende Institution und die Geehrten wechselseitig voneinander profitieren“.61 Sie konstruieren ein symbolisch aufgeladenes sample von besonders erinnerungswürdigen Fachvertreter:innen. Ebenso identitätsstiftend wirken Eponyme und Benennungen von Preisen, deren Impulsgeber in den meisten Fällen berufliche Weggefährt:innen oder auch akademische Schüler:innen sind.
Eine besonders starke, unter Umständen lebenslang aufrechterhaltene Bezugnahme erfahren Lehrer:innen von ihren Schüler:innen,62 bei denen die Dankbarkeit für erlernte Fähigkeiten, für die Aufnahme in fachspezifische Netzwerke im Sinne einer karrierefördernden Patronage unter Umständen das Tradieren von Lehrmeinungen oder Methoden befördert, die mit dem Namen des akademischen Lehrers oder der Lehrerin verbunden sind. Des Weiteren entfalten akademische Schüler-Lehrer-Verhältnisse nicht selten eine charakteristische Erinnerungsdynamik in ritualisierten akademischen Jubiläumsfeierlichkeiten und -beiträgen sowie in Nekrologen, die die fachkulturelle Erinnerung über die individuellen Forscherpersönlichkeiten hinaus präformieren.63 Insbesondere das Genre der Nachrufe wurde als Ort identifiziert, „an dem sich ein Forschungsfeld über sich selbst verständigt“.64 Dazu können die Zugehörigkeit zu einem spezifischen Forschungsfeld, soziale Netzwerke und Informationen zum fachspezifischen Habitus gehören.65 Im Sinne einer intellektuellen Genealogie kann von einer Art akademischen Familiengedächtnis gesprochen werden, teilweise mit dem Effekt der „kumulativen Heroisierung“, wie sie die vergleichende Tradierungsforschung bei der Wiedererzählung des großelterlichen Narrativs zu den eigenen Erfahrungen im Nationalsozialismus beobachtet hat.66
Warum aber funktioniert dieses akademische Familiengedächtnis nicht immer? Warum werden Akademiker:innen vergessen, obwohl sie in entsprechenden Strukturen eingebunden und anerkannt waren, wie Tobias Winnerling für vier Gelehrte aus dem späten 17. Jahrhundert67 nachgezeichnet hat? Aleida Assmann beschreibt das Nicht-Erinnern als selektives Vergessen, als „Ausblendung all dessen, was nicht in den jeweiligen Erinnerungsrahmen passt“.68 Für das Vergessen und Verschweigen innerhalb der ärztlichen Biographik nach 1945 der im Nationalsozialismus verfolgten, vertriebenen oder ermordeten Ärzt:innen hat Peter Voswinckel ganz bewusst den Begriff der „Damnatio memoriae“69 gewählt und damit diesen Prozess als intentionale Handlung im Sinne einer fachkulturellen Erinnerungspolitik gekennzeichnet. Der physischen Vertreibung jüdischer Kolleg:innen folgte dabei nicht selten auch die Auslöschung aus dem Gedächtnis der Erinnerungsgemeinschaft. Begünstigt wird das Verschwinden von Akteur:innen aus der fachkulturellen Erinnerung auch durch strukturelle Arbeitsbedingungen in den Wissenschaften, beispielsweise temporäre Mitarbeit an Forschungsentwicklungen.70
Es lohnt sich für Wissenschaftshistoriker:innen – so meinen wir – diese jeweiligen Erinnerungsrahmen zu entschlüsseln, insbesondere dann, wenn nicht nur Akteur:innen, sondern auch die mit ihnen verbundenen Konzepte ohne erkennbare fachliche Begründung aus dem Wissenskanon der jeweiligen Disziplin oder der Fachrichtung verschwunden sind.
Als Gründe für die zu beobachtende außerordentliche Konjunktur von Erinnerungsphänomenen sowohl innerhalb als auch außerhalb des akademischen Diskurses werden vor allem historische Transformationsprozesse wie das Ende der durch Zeitzeug:innen vermittelten Erinnerung an die Shoah oder die Rekonfiguration nationaler und ethnischer Gedächtnisse nach dem Ende des Kalten Krieges in Europa angeführt.71 Eine Erinnerungskonjunktur kann allerdings auch durch unvorhergesehene Ereignisse ausgelöst werden, wie das jüngst gesteigerte Interesse an der historischen Seuchengeschichte im Kontext der Covid-19-Pandemie gezeigt hat.72 Am Beispiel der Spanischen Grippe von 1918/19 diskutiert der Band Pandemic Re-Awakenings dezidiert die Mechanismen des Erinnerns und Vergessens mit Blick auf dieses Jahrhundertereignis im internationalen Vergleich.73 Im Kontext der Pandemieereignisse entbrannte in Deutschland eine erinnerungspolitische Debatte um den Namensgeber des Robert-Koch-Instituts, der zu dieser Zeit in der Öffentlichkeit wohl sichtbarsten wissenschaftlichen Institution. In die mediale Auseinandersetzung zur Frage einer Umbenennung schalteten sich auch Vertreter:innen der Wissenschaftsgeschichte ein.74
Als ein weiterer wirkmächtiger Auslöser für erinnerungskulturelle, aber auch geschichtswissenschaftliche Konjunkturen können Jubiläen fungieren, wie Gundermann et al. in ihrer Einleitung zum Sammelband Historische Jubiläen. Zwischen historischer Identitätsstiftung und geschichtskultureller Reflexion zeigen können:
Tatsächlich verraten Verlagsprospekte historischer Fachbücher und Angebotstische in Buchhandlungen viel über eine ausgeprägte Orientierung der Vergangenheitsvergegenwärtigung an historischen Daten und einer Heraushebung ihrer Wiederkehr. Dies verläuft quer zum wissenschaftlichen Primat einer Dekonstruktion von Ereignisfixierung und Kausalitätschronologien.75
In der Wissenschaftsgeschichte sind es insbesondere Jubiläumsfeiern und die mit ihnen verbundenen Festschriften für wissenschaftliche Institutionen, die sehr häufig in dem oben beschriebenen Konflikt stehen. Habbo Knoch spricht beispielweise von Universitätsjubiläen als „Kristallisationspunkten universitärer Sinnstiftungen“.76 Auch für die Erinnerung an einzelne Forscher:innen spielen Jubiläen und Jahrestage eine zentrale Rolle. (Fach-)öffentlich begangene Jahrestage spiegeln dabei nicht nur die erinnerungspolitische Agenda der jeweiligen Gedächtnisakteur:innen wider, sondern verdeutlichen auch reflexionsbedürftige Hierarchien und Narrative.77
Diese hegemonialen Narrative dominieren sehr häufig das fachkulturelle Gedächtnis. Im Hinblick auf die Reflexion der jeweils eigenen Rolle während des Nationalsozialismus konnte bereits an vielen Beispielen verdeutlicht werden, wie wirkmächtig sie vor allem in kleineren Erinnerungsgemeinschaften sind.78
Entsprechende Transformationsprozesse werden vor allem als Konflikt wahrgenommen79 und lassen sich gleichermaßen auf der Ebene des nationalen Gedächtnisses an den Holocaust nachvollziehen.80 Malte Thießen fasste dieses vielfach beschriebene Phänomen jüngst prägnant zusammen:
Erinnerungen drehen sich nicht um Vergangenheit, sondern um die Gegenwart. Die Dissonanzen der Erinnerung erklären sich weniger aus der Konfliktträchtigkeit von Vergangenheit, sondern aus Konfliktlagen und Bedürfnissen der Gegenwart. Erinnerung ist umstritten, weil es in dem Streit um uns selbst und um unsere Sicht auf die Welt geht. Dissonanzen sind damit der beste Beweis, dass Erinnerungen uns alle angehen.81
Im fachkulturellen Erinnerungsdiskurs sind solche Dissonanzen besonders laut hörbar, wenn die „Entehrung“ von Wissenschaftler:innen im öffentlichen Raum verhandelt wird und hierbei gegenwärtige Identitätskonstruktionen berührt werden. Ein prägnantes Beispiel stellt der von der Universität Salzburg vorgenommene Widerruf der Verleihung der Ehrendoktorwürde an Konrad Lorenz dar, der wiederum zum Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit weiteren „Ehrregimen“ wurde.82 Vergleichbare Diskurse, wie etwa bei der Umbenennung von Preisen, deren Namensträger:innen aus verschieden Gründen als nicht mehr vorbildhaft betrachtet werden, überschreiten in aller Regel fachinterne Grenzen.83
Dies ist im Besonderen der Fall bei der Diskussion um die Umbenennung von öffentlich sichtbaren wissenschaftlichen Institutionen, die politische Transformationsprozesse auf einer mikrohistorischen Ebene reflektieren und „hegemoniale Inskription[en] und Formen der Appropriation in der Geschichtspolitik im öffentlichen Raum“84 verdeutlichen: Hier stehen zumeist politische Verantwortungsträger:innen und gesellschaftliche Interessengruppen im Vordergrund. In der Regel medial verstärkt erhöhen diese Protagonist:innen die öffentliche Aufmerksamkeit und prägen den Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozess weit über einen wissenschaftshistorischen Diskurs hinaus.85
Abschließend lässt sich festhalten: Die akademische Wissenschaftsgeschichte wirkt in der Konfiguration und Transformation der fachkulturellen und öffentlichen Erinnerung auf drei, selten trennscharf voneinander abgegrenzten Ebenen:
Auf Reiz und Risiko der Verbindung von Auftragsforschung und Selbsthistorisierung wies Ralph Jessen hin.86 Einer Reflexion ihrer unterschiedlichen Rollen in den erinnerungskulturellen Aushandlungsprozessen sollten sich Wissenschaftshistoriker:innen somit nicht entziehen, wie Rieger-Ladich et al. für die Erziehungswissenschaften feststellten:
Eine nach den Maßstäben historischer Epistemologie verfahrende Wissens- und Disziplingeschichte beteiligt sich daher in dem Maße selbst an emergenten Praktiken des Erinnerns, Umschreibens und Vergessens, wie sie diese Praktiken zum historiographischen Gegenstand ihrer (selbstreflexiven) Untersuchung macht.87
Anknüpfend an die hier skizzierten vielfältigen Forschungsfelder der Memory Studies und den damit aufgeworfenen Fragestellungen im Kontext der Wissenschaftsgeschichte fokussiert dieses Themenheft empirisch und erinnerungstheoretisch auf die Indienstnahme der Erinnerung an Forscher:innen sowohl im fachkulturellen als auch im öffentlichen Diskurs vor dem Hintergrund politischer und gesellschaftlicher Transformationsprozesse. Ausgehend von den spezifischen Identifikationspotentialen historischer Persönlichkeiten in den Wissenschaften einerseits und der Wahrnehmung von Wissenschaftler:innen in der Öffentlichkeit andererseits wird die gegenseitige Einflussnahme von gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Gedächtniskulturen untersucht. Die Forschungsbeiträge aus der Medizin- und Pädagogikgeschichte verdeutlichen beispielhaft die genannten Konjunkturen und Transformationsprozesse.89 Die hier publizierten Problemaufrisse sollen zugleich vergleichende Arbeiten zu den unterschiedlichen Erinnerungskulturen innerhalb der (Natur-)Wissenschaften auch im Kontext internationaler Debatten anregen.
In den Einzelstudien werden Aspekte der Biographie-, Tradierungs-, Disziplinen- und Geschlechterforschung aufgegriffen, um Transformationsprozesse von Erinnerungskulturen und ihre zeithistorischen Kontexte zu beleuchten, die sich in „Benennungskonjunkturen“ und „Denkmalstürzen“ in Wissenschaft und Öffentlichkeit abbilden.
Zu den prägnantesten Beispielen für den Erinnerungstransfer zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit zählen Schulbenennungen: Schulnamen können als prestigeträchtiges stadt- oder landespolitisches Aushängeschild gelten. Sie transportieren niederschwellig und in verschiedener Gewichtung miteinander kombiniert pädagogische und zeithistorische Erinnerungskulturen einer Gesellschaft sowie Bildungs- und auch Erinnerungsprofile einer Einrichtung. Der Beitrag von Sebastian Engelmann und Katharina Weiand untersucht anhand einer exemplarischen Auswertung aller Schulnamen des Bundeslandes Thüringen Schulbenennungspraktiken und -mechanismen im Spiegel der Geschichte der Pädagogik. Ausgangspunkt der Untersuchung stellt damit die These einer bestehenden Beziehung zwischen der Geschichte der Pädagogik und den Schulbenennungspraktiken dar. Die Autor:innen können hierbei aufzeigen, dass in der Vergangenheit vor allem praktisch tätige Reformpädagog:innen als Namensstifter:innen für Schulen gewählt wurden. Diese Tatsache weise – so das Resümee der Autor:innen – auf disziplinäre „Sichtbarkeitsregime“ hin und trage zu einer „Stabilisierung und Homogenisierung der Wahrnehmung der Geschichte der Pädagogik“ bei.90 Für das Fallbeispiel Thüringen ließen sich zudem Schulbenennungen identifizieren, die an die regionale Bildungsgeschichte rückgebunden werden können.
Die Erinnerung an den Reformpädagogen Janusz Korczak – selbst Namensgeber von etwa 80 Bildungseinrichtungen allein in Deutschland – erlebte eine Konjunktur in den 1970er und 1980er Jahren in beiden Teilen Deutschlands und wird bis heute wachgehalten. Am Anfang dieses Erinnerungsbooms stand die posthume Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahr 1972, die eine öffentliche Debatte hervorrief, in der wesentliche Erinnerungsnarrative formuliert wurden, die auch die in den folgenden Jahren verstärkt einsetzende wissenschaftliche Korczak-Rezeption in Deutschland prägen sollten. Der Beitrag von Anne Oommen-Halbach und Thorsten Halling analysiert die im Spiegel der Kontroverse um „das Erbe“ Korczaks konkurrierenden vielfältigen Indienstnahmen des Arztes, Schriftstellers und Pädagogen, die sich zu einer internationalen diplomatischen Krise ausweiteten. Hierbei lässt sich am Beispiel Korczaks, der im öffentlichen Gedenken stärker mit dem Holocaustgedenken als mit der Vision einer friedlichen und freiheitlichen Pädagogik assoziiert wird, das Auseinanderdriften von wissenschaftlicher und öffentlicher Erinnerungskultur besonders prägnant nachvollziehen.
Erinnerungskonflikte innerhalb wissenschaftlicher Fachgesellschaften wurden seit den 1990er Jahren wesentlich durch späte – nicht selten erst durch öffentliche Diskurse angestoßene – Auseinandersetzungen mit dem NS-Erbe geprägt. Die Phänomene einer fachkulturellen Neuorientierung, z. B. durch die Aberkennung gesellschaftseigener Wissenschaftspreise und -auszeichnungen oder aber von Ehrendoktoraten und -mitgliedschaften, diskutiert der Beitrag von Matthis Krischel, Julia Nebe und Timo Baumann vor dem Hintergrund vielfältiger Detailstudien der Autor:innen zu unterschiedlichen medizinischen Fachdisziplinen. Hierbei verfolgen die Autor:innen die Frage, welche Bedingungen gegeben sein müssen, damit eine oder ein Gelehrte(r) als Identifikationsfigur innerhalb eines spezifischen medizinischen Kontextes fungieren kann bzw. welche Umstände dazu führen können, dass eine solche Rolle nicht mehr ausgefüllt werden kann. Untersucht werden Fallbeispiele aus der Humangenetik (Hans Nachtsheim), der Kreislaufforschung (Rudolf Thauer), der Urologie (Dora Teleky) sowie der Zahnmedizin (Elsbeth von Schnizer). Dabei wird zum einen der bislang kaum beachtete Aspekt eines dissonanten Erinnerns von Frauen und Männern in den Fachgesellschaften integriert und zum anderen die enge Verzahnung von wissenschaftshistorischen Akteur:innen mit den von ihnen selbst untersuchten Fachdisziplinen aufgezeigt und reflektiert.
Beispielhaft für vielfältige Diskussionen zu (Um)benennungen von öffentlichen Plätzen, Straßen und Institutionen untersucht der Beitrag von Thomas Beddies an der Schnittstelle von öffentlicher Erinnerungspolitik und Wissenschaftsgeschichte den in Berlin entbrannten Diskurs um das zweifelhafte NS-Erbe des Pathologen Robert Rössle. Dabei stehen bei Rössle insbesondere Vorwürfe zu seiner opportunistischen Haltung während des Nationalsozialismus sowie zu seiner mit NS-rassehygienischen Paradigmen konformen Forschung im Raum. Der Beitrag beschreibt Rössles Stellung in der damaligen DDR und diskutiert die aktuell divergierenden Narrative der beteiligten Akteur:innen zur Bewertung des Pathologen im Spannungsfeld zwischen der Anerkennung seiner Forschungsleistung einerseits und der Verwerfung seiner Verstrickungen in den NS-Staat andererseits unter dem Aspekt eines dissonanten Erinnerns. Dabei lassen sich anhand des konkreten Beispiels zahlreiche grundsätzliche Fragen aufwerfen, wie das Handeln eines Einzelnen im komplexen persönlichen, professionellen und gesellschaftlichen Bedingungsgefüge zu beurteilen ist. Der Beitrag plädiert dafür, solche öffentlichen Auseinandersetzungen produktiv zu nutzen für ein reflexives Geschichtsbewusstsein im Sinne einer anhaltenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung.
Schließlich untersucht Felicitas Söhner das Phänomen der hegemonialen Narrative in den Erinnerungskulturen als Voraussetzung der Identitätsbildung und Sinnstiftung einer Erinnerungsgemeinschaft. In der Zeitgeschichte sind es immer wieder zentrale Akteur:innen eines Fachgebiets, die aktiv an der Gestaltung von solchen Erzählungen mitwirken und sie mit dem Argument des exklusiven Wissens um bestimmte Vorgänge, Hintergründe und Motivlagen zu bestimmen versuchen. Eine kritische, wissenschaftshistorische Analyse fachkultureller Erinnerung ist daher zur Dekonstruktion solcher Narrative gezwungen. Der Beitrag reflektiert die methodischen Herausforderungen von Oral History-Projekten in der Medizingeschichte am Beispiel von Expert:inneninterviews zur Psychiatriereform in der BRD vor dem Hintergrund der eugenischen Ideen, die bis in die 1960er Jahre in der deutschen Psychiatrie fortwirkten. Analysiert wird insbesondere der Deutungsanspruch, der von den Expert:innen gegenüber den als peripher wahrgenommenen Ko-Akteur:innen formuliert wird.
In seinem abschließenden Kommentar greift Alexander Pinwinkler zahlreiche Aspekte der in den Einzelbeiträgen untersuchten Erinnerungsphänomene – wie Identifikationsfiguren, konkurrierende Erinnerung, Erinnerungskonflikte und hegemoniale Narrative – an einigen konkreten Beispielen zu sogenannten Ehrregimen im akademischen Kontext auf. Er diskutiert das Erkenntnispotential von Erinnerungskulturen für das Wechselverhältnis zwischen den deutschsprachigen Wissenschaften und dem öffentlichen Verständnis von Forschung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und des beginnenden 21. Jahrhunderts.
Auch die Gedächtniskulturen in den (deutschen) Wissenschaften werden auf vielfältige Weise durch die „langen Schatten des Holocaust“91 als zentraler Bezugspunkt der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts geprägt.92 Die meisten Beiträge betrachten den Umgang mit der NS-Erinnerung vor dem Hintergrund sich wandelnder zeithistorischer Bezugsrahmen als einen permanenten Aushandlungsprozess. Von wissenschaftshistorischem Interesse sind besonders die strukturellen Veränderungen, die sich hinter offensichtlichen Erinnerungsbrüchen verbergen. Dazu gehören beispielsweise Generationenwechsel in Erinnerungsgemeinschaften und damit ebenfalls verknüpfte neue Forschungsparadigmen, die neue Identifikationsfiguren hervorbringen. An diese Debatten anschließend, beleuchten die folgenden Beiträge unterschiedliche Diskursebenen und geographische Räume. Alle verbindet, dass sie den feinen Schwingungen nachspüren, die sich in der Erinnerungskultur – als einer Art gesellschaftspolitischer und zeithistorischer Seismographin – in- und außerhalb der Wissenschaften permanent verändern. Mit der Analyse von Gedenkkulturen eröffnen sich zugleich nicht nur für die Medizin- und Pädagogikgeschichte, sondern für die Wissenschafts- und Disziplinengeschichte insgesamt neue Perspektiven auf die aktuell diskutierte Ausrichtung von Wissenschaftskommunikation über ein Public Understanding of Science hinaus hin zu Public Engagement with Science.93
期刊介绍:
Die Geschichte der Wissenschaften ist in erster Linie eine Geschichte der Ideen und Entdeckungen, oft genug aber auch der Moden, Irrtümer und Missverständnisse. Sie hängt eng mit der Entwicklung kultureller und zivilisatorischer Leistungen zusammen und bleibt von der politischen Geschichte keineswegs unberührt.