Transformation von Gedächtnis zwischen wissenschaftlicher Rezeption und Popularisierung: Die posthume Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Janusz Korczak
{"title":"Transformation von Gedächtnis zwischen wissenschaftlicher Rezeption und Popularisierung: Die posthume Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Janusz Korczak","authors":"Anne Oommen-Halbach, Thorsten Halling","doi":"10.1002/bewi.202300022","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"<p>Im Jahr 1972 gerieten Leben und Werk von Janusz Korczak (1878/79–1942) für einige Monate in den Fokus der bundesrepublikanischen Feuilletons und damit einer interessierten Öffentlichkeit in Gesellschaft, Politik und Wissenschaft. Der Hintergrund für dieses plötzliche Interesse an dem aus Warschau stammenden Arzt<sup>1</sup>, Pädagogen und Schriftsteller war die posthume Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Mit dieser vielfältig symbolisch aufgeladenen<sup>2</sup> und öffentlichkeitswirksam inszenierten<sup>3</sup> Auszeichnung wird bereits seit 1950 jährlich eine Persönlichkeit geehrt,<sup>4</sup> die zur Verwirklichung des Gedankens des „Friedens, der Menschlichkeit und der Verständigung unter den Völkern“<sup>5</sup> beigetragen hat. Wie umstritten der hier formulierte Anspruch, die Auswahl der jeweiligen Preisträger:innen und auch ihrer Laudator:innen in der Vergangenheit gewesen sind, belegt die 2009 erschienene Chronik des Friedenspreises mit dem bezeichnenden Titel <i>Widerreden</i>.<sup>6</sup> Gerade wegen dieser permanenten kritischen Auseinandersetzung räumte Aleida Assmann (geb. 1947) im gleichen Band dem Friedenspreis einen festen Platz „im kulturellen Gedächtnis der Deutschen“ ein.<sup>7</sup> Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin prägte zusammen mit ihrem Ehemann Jan Assmann (1938–2024) im deutschsprachigen Diskurs seit den 1990er Jahren den Begriff des „kulturellen Gedächtnisses“, beide wurden im Jahr 2018 selbst mit dem Friedenspreis ausgezeichnet.<sup>8</sup> In der Preisbegründung wurde betont: „Angesichts einer wachsenden politischen Instrumentalisierung der jüngeren deutschen Geschichte leistet sie [Aleida Assmann] in hohem Maße Aufklärung zu Fragen eines kulturellen Gedächtnisses einer Nation.“<sup>9</sup> Ein wesentlicher Aspekt ihres Forschungsansatzes ist die Analyse jenes Transformationsprozesses von unmittelbar oder zumindest mittelbar selbst Erlebtem und Erinnertem (kommunikatives Gedächtnis) zu einem von zeitgenössischen Berichten losgelösten Erinnern (kulturelles Gedächtnis).<sup>10</sup></p><p>Für die Konjunktur von Erinnerung an Gelehrte, wie Korczak, sind Jubiläen, Jahrestage und selten auch die Verleihung von Preisen von großer Bedeutung. In den mit ihnen verbundenen öffentlichen und fachinternen Diskursen lassen sich nicht nur spezifische (erinnerungspolitische) Interessen der jeweiligen Akteure erkennen, sondern sie vermitteln auch wirkmächtige Narrative und spiegeln Aushandlungsprozesse.<sup>11</sup> Letztere werden insbesondere im Kontext von Erinnerungen an den Holocaust oftmals als Konflikte wahrgenommen,<sup>12</sup> die es zu reflektieren gilt. Ein zentraler Aspekt in der Analyse erinnerungskultureller Phänomene ist der virulente Gegenwartsbezug: „Erinnerungen drehen sich nicht um Vergangenheit, sondern um die Gegenwart. Die Dissonanzen der Erinnerung erklären sich weniger aus der Konfliktträchtigkeit von Vergangenheit, sondern aus Konfliktlagen und Bedürfnissen der Gegenwart.“<sup>13</sup></p><p>In wissenschaftshistorischer Perspektive bietet sich eine Verknüpfung dieser Beobachtungen mit den Anerkennungskulturen in den Wissenschaften an: Die Bedeutung von Wissenschaftler:innen wird jenseits szientometrischer Verfahren<sup>14</sup> nach wie vor nicht unwesentlich von Reputationsnetzwerken und Zuschreibungen von Exzellenz bestimmt.<sup>15</sup> Eingang in die fachkulturelle Erinnerung ihres Fachgebiets<sup>16</sup> finden Wissenschaftler:innen besonders dann, wenn ihr Wirken den spezifischen Anerkennungslogiken ihrer Disziplin entsprochen hat, sie beispielsweise schon zu Lebzeiten als exponierte Vertreter:innen ihres Faches galten, eine als grundlegend erachtete Forschungsleistung vorzuweisen hatten, erfolgreiche akademische Schüler:innen hervorbrachten oder mit renommierten Preisen ausgezeichnet wurden. Erinnerungspolitisch interessant werden sie durch das damit verbundene Identifikationspotential und die Inanspruchnahme für aktuelle Debatten.</p><p>Janusz Korczak entzieht sich diesen Bewertungsmaßstäben weitgehend. Sein Werk widersetzt sich aufgrund der methodischen und inhaltlichen Vielfältigkeit<sup>17</sup> einer einfachen disziplinären Kategorisierung, so dass Korczak treffender als gelehrter Praktiker denn als Wissenschaftler bezeichnet werden kann. Hinzu kommen die ihm gewidmeten populären Zuschreibungen<sup>18</sup> und Inanspruchnahmen, die insbesondere auf die Umstände seiner Ermordung im Vernichtungslager Treblinka rekurrieren und den Blick auf sein pädagogisches Werk verstell(t)en.</p><p>Die Pädagogin Gisela Miller-Kipp (geb. 1942) unternahm 2008 den „Versuch, Janusz Korczak als ‚Klassiker‘ der Pädagogik“<sup>19</sup> zu lesen und verglich Korczak hierbei mit Maria Montessori (1870–1952), Paulo Freire (1921–1997), Anton S. Makarenko (1888–1939) und Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827), wobei sie insbesondere Gemeinsamkeiten mit Pestalozzi aufzeigen konnte. Damit nahm sie Bezug auf den in den Erziehungswissenschaften kontrovers geführten Diskurs um einen offensichtlich in Wandlung begriffenen Kanon von Autor:innen,<sup>20</sup> deren pädagogischen Texten „etwas Herausragendes, besonders Gelungenes“, mithin „eine Aura des Zeitlosen“ für die Disziplin der Pädagogik zugesprochen wurde.<sup>21</sup></p><p>Im Fokus dieses Beitrags steht der Einfluss der zeitgenössisch kontrovers diskutierten Friedenspreisverleihung an Janusz Korczak auf die Entwicklung der deutschsprachigen Korczak-Forschung. Durch die methodische Verknüpfung des skizzierten erinnerungstheoretischen Ansatzes mit einer wissenschaftshistorischen Untersuchung zur Etablierung eines Forschungsthemas und dazugehöriger Narrative – hier in erster Linie in der Pädagogik – können übergreifende Wirkmechanismen im wechselseitigen Transfer von Aufmerksamkeit zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit herausgearbeitet werden.<sup>22</sup> Auf Grundlage einer Dokumentenanalyse bislang kaum erschlossener Korrespondenzen, Manuskripte und Presseberichte zu dieser Preisverleihung aus dem Archiv des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in Berlin, dem Erich Dauzenroth-Nachlass im Dedecius Archiv des Collegium Polonicium Słubice (Europa-Universität Viadrina Frankfurt [Oder] und Adam-Mickiewicz-Universität Poznań), dem Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland in Heidelberg sowie Forschungsunterlagen aus der Sammlung „Janusz Korczak“ (Privatsammlung Engemann-Reinhardt) in der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf und dem Forschungsarchiv zur Person und Pädagogik von Janusz Korczak an der Hochschule Düsseldorf untersuchen wir die unterschiedlichen Interessen und Ziele erinnerungspolitischer Akteure in Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Medien, vor allem aber auch die sehr starke Verknüpfung von Korczaks Werk mit dem Holocaustgedenken. Gerade durch diese Verknüpfung wurde insinuiert – so unsere These –, dass das pädagogische Werk Korczaks nicht losgelöst von der Biographie des Autors zu betrachten sei, wodurch auch eine klare wissenschaftshistorische Einordnung bislang ausblieb. Dabei ist sein facettenreiches und vielfältig anschlussfähiges Werk zugleich der Schlüssel zu seiner enormen Popularität.</p><p>Bereits vor der Friedenspreisverleihung wurde Korczaks wissenschaftliches Werk in der posthumen Betrachtung kontinuierlich über die Darstellung seines Lebens vermittelt. Die Anfänge dieser Verknüpfung von pädagogischem Werk und biographischer Darstellung lassen sich zurückverfolgen bis zur 1949 publizierten ersten Korczak-Biographie der Schriftstellerin Hanna Mortkowicz-Olczakowa (1902–1968)<sup>23</sup>, deren erste Übersetzungen aus dem Polnischen 1961 in Tel Aviv und Weimar, 1963 in Buenos Aires und 1965 in London erschienen.<sup>24</sup> Als Tochter des Korczak-Verlegers Jakub Mortkowicz (1876–1931)<sup>25</sup> und der Autorin, Übersetzerin und späteren Verlegerin Żaneta Mortkowicz (1875–1960), in deren Händen die Redaktion der von Korczak gegründeten Zweiwochenschrift lag, kannte die Biographin Korczak seit ihrer Kindheit<sup>26</sup> und zählte damit zu den Zeitzeug:innen<sup>27</sup>, die sich durch ihre persönlichen Erinnerungen an Korczak zu umfangreichen Biographien inspirieren ließen: Auf 269 Seiten schilderte Mortkowicz-Olczakowa Korczaks Werdegang als Kinderarzt, als späterer Leiter eines Waisenhauses, als Zeitzeuge des Ersten Weltkriegs, als Schriftsteller vielfältiger pädagogischer und sozialer Schriften, als Redakteur einer Zeitschrift für Kinder, als Reisender nach Palästina in den 1930er Jahren und als Sprecher einer Rundfunksendung für Kinder unter dem Pseudonym „alter Doktor“ („Stary Doktor“). Schließlich beschrieb sie die Bedrohung infolge der deutschen Besatzung in Warschau, die Umsiedlung des Waisenhauses für jüdische Kinder ins Warschauer Ghetto und den Fußweg Korczaks mit den Kindern zum „Umschlagplatz“, der die Deportation ins Vernichtungslager Treblinka folgte. In Kenntnis von Korczaks autobiographischem Ghetto-Tagebuch, das der Autorin als noch unveröffentlichtes Manuskript vorlag,<sup>28</sup> beschrieb sie das Leben des in Warschau aufgewachsenen jüdischen Jungen Henryk Goldszmit<sup>29</sup> bis hin zum „letzte[n] Gang“<sup>30</sup> des „Janusz Korczak“ – so das Pseudonym, unter dem der „Arzt und Pädagoge“<sup>31</sup> in Polen zu Lebzeiten bekannt wurde.</p><p>In ihrer Einleitung der Biographie weist Mortkowicz-Olczakowa auf jene Lesart von Korczaks Biographie hin, die Korczaks individuelles Leben und Wirken unmittelbar in den Schatten seines „jähen Märtyrertodes“<sup>32</sup> stellte und die ganz wesentlich die Narrative nachfolgender deutschsprachiger Autor:innen<sup>33</sup> prägte:</p><p>In Polen sind im letzten Weltkrieg Millionen Juden umgebracht worden; allein aus dem Warschauer Ghetto hat man Hunderttausende in die Gaskammern geschickt. Darunter befanden sich Insassen von Waisenhäusern und Spitälern, Kinder und ihre Erzieher. In der unübersehbaren Menge der Toten gingen ganze Städte, ganze Bevölkerungsgruppen, Millionen von Namen – ohne jede Spur – unter. Der Name Janusz Korczak wurde für uns zum Sinnbild jener Namenlosen, zum Symbol eines heldischen Opfergangs.<sup>34</sup></p><p>Korczak ist bereits Ende der 1940er Jahre zum Gedächtnisträger der Ermordeten in der Shoah geworden.<sup>35</sup> Die Formulierung „für uns“ deutet daraufhin, dass sich die Autorin selbst als Teil dieser spezifischen Erinnerungsgemeinschaft definierte. Die Gedenkstätte Treblinka materialisierte dieses stellvertretende Gedenken 1978, in dem sie den Namen Korczaks als seither einzige individuelle Person auf einen ihrer 17.000 Granitblöcke eingravieren ließ.<sup>36</sup> Ein Foto der Gedenkstätte wiederum bebilderte die 1981 veröffentlichte Korczak–Bioergographie<sup>37</sup> des Gießener Korczak-Forschers Erich Dauzenroth (1931–2004)<sup>38</sup>.</p><p>Mortkowicz-Olczakowa selbst hatte in der gleichen Einleitung auf die Verengung in der Darstellung der Biographie Korczaks auf seinen gewaltvollen Tod im Vernichtungslager hingewiesen und angemahnt: „Es geht nicht an, daß dieses lange, reiche Leben nur im Schatten seines tragischen und heroischen Todes gesehen wird.“<sup>39</sup> Dem Anliegen, Zeugnis über das Leben und Werk Korczaks jenseits seines Todes abzulegen, fühlten sich insbesondere die Zeitzeug:innen Korczaks verpflichtet, deren Erinnerungen<sup>40</sup> sowohl die Korczak-Forschung als auch das Gedenken im Kontext der nationalen Korczak-Gesellschaften wesentlich prägten.<sup>41</sup> Wie sich das Ende dieser Zeitzeugenschaft<sup>42</sup> konkret auf die zukünftige Korczak-Forschung auswirken wird, muss abgewartet werden.</p><p>Welche Probleme Zeitzeugenberichte aufwerfen können, verdeutlicht die Analyse von Mortkowicz-Olczakowa. Für die Beschreibung des Wegs vom Waisenhaus zum „Umschlagplatz“ spricht sie von einer „Legende“, die „geschwätzig und allwissend“ den „letzten Gang der Kinder und Erzieher unter Korczaks Führung […] in bunten Farben und in zahlreichen Versionen“ schildert.<sup>43</sup> Obwohl die Widersprüchlichkeiten dieser zahlreichen Versionen weder von Zeitzeug:innen<sup>44</sup> noch von der jüngsten Korczak-Forschung aufgelöst werden konnten,<sup>45</sup> ließ gerade der Bericht dieses „letzten Ganges“ Korczak zu einer der „zentralen Projektionsfiguren“ im Holocaustgedenken der Nachkriegszeit werden, so analysierte Gabriele von Glasenapp (geb. 1956), die Korczak in dieser erinnerungskulturellen Funktion mit Anne Frank (1929–1945) verglich:<sup>46</sup> Insbesondere der „Erzählung über den Arzt, der ‚seine‘ Kinder freiwillig in den Tod begleitet“,<sup>47</sup> seien die Züge eines „Masternarrativs“ eingeschrieben.<sup>48</sup> Im Folgenden kann gezeigt werden, wie sich Reflexe dieses Narrativs sowohl in der Kontroverse um die Friedenspreisverleihung als auch in der etwa zeitgleich in Deutschland einsetzenden Korczak-Forschung finden lassen.<sup>49</sup></p><p>Wie aber konnte der in den frühen 1970er Jahren in Deutschland weitgehend unbekannte<sup>50</sup> Korczak schließlich Kandidat für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels werden und welchen Einfluss hatte die pädagogische Forschung zu Korczak auf diesen Auswahlprozess?</p><p>Das Kinder- und Jugendbuch <i>König Hänschen I</i>. war 1957 das erste Buch Korczaks, das nach dem Zweiten Weltkrieg in einem Warschauer Verlag in deutscher Übersetzung erschien<sup>51</sup> und seit 1970<sup>52</sup> auch in Deutschland verlegt wurde. Es erzählt die Geschichte eines Königs, dessen Reich durch ein von Kindern geleitetes Parlament mit der Selbstbestimmung der Kinder Ernst macht. Dieser zweiteilige Kinderroman löste im Deutschland der 1970er Jahre als „Bibel der antiautoritären Erziehung“<sup>53</sup> ein kontroverses Echo aus, das sich in vielfältigen – zum Teil auch kritischen<sup>54</sup> – Besprechungen niederschlug.<sup>55</sup></p><p>Als besonders einflussreich gilt die vielbeachtete Rezension des Bielefelder Erziehungswissenschaftlers Hartmut von Hentig (geb. 1925),<sup>56</sup> der durch seinen engen Kontakt zu der Pädagogin und frühen Korczak-Forscherin Elisabeth Heimpel (1902–1972)<sup>57</sup> auf das Kinderbuch aufmerksam gemacht worden war. Sowohl von Hentig als auch Heimpel zählten zum Herausgeberkreis (Heimpel in der Redaktion) der bei Vandenhoeck & Ruprecht verlegten Reihe <i>Neue Sammlung: Göttinger Zeitschrift für Erziehung und Gesellschaft</i>.<sup>58</sup> Elisabeth Heimpel war u. a. als Herausgeberin mehrerer Korczak-Monographien in deutscher Übersetzung hervorgetreten.<sup>59</sup> Unter dem Titel „Die Kinder an die Macht“ erschien von Hentigs Rezension im Nachrichtenmagazin <i>Der Spiegel</i>, in der er Korczaks Buch all jenen Erwachsenen empfahl, „die es mit einer nichtautoritären Erziehung ernst meinen“.<sup>60</sup> Dass dieses Buch in Deutschland zu diesem Zeitpunkt erschien, wertete von Hentig auch als eine „Geste gegenüber dem neuen Vertragspartner“ Polen:<sup>61</sup> Nur eine Woche vor Erscheinen der Rezension war der Warschauer Vertrag unterzeichnet worden.<sup>62</sup></p><p>Im Folgejahr gelangte <i>König Hänschen</i> auf die Auswahlliste des Deutschen Jugendbuchpreises.<sup>63</sup> Neben diesem Kinderbuch lag seit 1967 auch das „pädagogische Hauptwerk“<sup>64</sup> Korczaks, die Tetralogie <i>Wie man ein Kind lieben soll</i><sup>65</sup> sowie seit 1970 <i>Das Recht des Kindes auf Achtung</i><sup>66</sup> in deutscher Übersetzung vor – beide Bände herausgegeben durch Elisabeth Heimpel. Diese erlebte selbst aufgrund ihres unerwartet plötzlichen Todes die Friedenspreisverleihung an Korczak nicht mehr mit; ein Verdienst am Bekanntwerden des Friedenspreiskandidaten wurde ihr erst viele Jahre später zugesprochen.<sup>67</sup> Dass Korczak für den Börsenverein als Kandidat für die Friedenspreisverleihung in Frage kam, ist daher weniger überraschend als es die Rezeptionsgeschichte bis zu diesem Zeitpunkt vermuten ließ.</p><p>Die Auswahl einer Persönlichkeit, „die vornehmlich durch ihre Tätigkeit auf den Gebieten der Literatur, Wissenschaft und Kunst zur Verwirklichung des Friedensgedankens beigetragen“ hat,<sup>68</sup> trifft bis heute der ehrenamtlich tätige Stiftungsrat. Im Fall von Korczak lässt sich die Auswahl dieses Kandidaten auf einen Vorschlag von Ernst Klett (1911–1998) zurückführen, der als Vorsteher im Börsenverein 1971 automatisch auch Vorsitzender des Stiftungsrates war.<sup>69</sup> In dieser Funktion sah er sich konfrontiert mit einer seit Ende der 1960er verstärkt auftretenden öffentlichen Kritik am Konzept des Friedenspreises. Diese richtete sich sowohl gegen die Tradition der Verleihungsfeier, die vielfach als anachronistisch wahrgenommen wurde, als auch gegen die Auswahl einzelner Preisträger. Schließlich wurde grundsätzlich die Legitimation und Fachkompetenz des Börsenvereins angezweifelt, einen solchen Preis verleihen zu können.<sup>70</sup> Auch der Stiftungsrat selbst griff die Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Preises auf.<sup>71</sup></p><p>Vor diesem Hintergrund schlug Ernst Klett bei seiner ersten Stiftungsratssitzung am 1. Dezember 1971 eine Änderung des Statuts vor, die unter anderem ermöglichte, den Friedenspreis auch posthum verleihen zu können.<sup>72</sup> Noch in der gleichen Sitzung schlug er persönlich Janusz Korczak als Kandidaten vor.<sup>73</sup> Offenbar hatte er erwartet, mit diesem Vorschlag einen in der Öffentlichkeit unumstrittenen Kandidaten für den Friedenspreis gefunden zu haben.<sup>74</sup> Datiert auf den 2. März 1972, verfasste der Verleger Hermann Herder-Dorneich (1926–2011)<sup>75</sup> ein Votum für den neuen Friedenspreiskandidaten: Korczak, so betonte er, verkörpere den Aspekt der Erziehung zum Frieden insbesondere deshalb, weil er „für diesen Gedanken mit dem Leben eingetreten sei“; das gäbe „Persönlichkeit und Werk eine andere Dimension“.<sup>76</sup> Herder-Dorneich sah Korczaks Werk demnach nicht „im Schatten seines tragischen und heroischen Todes“,<sup>77</sup> wie es Mortkowicz formulierte, sondern deutete diese Todesumstände gerade als zentralen Aspekt für die Identitätskraft und die Glaubwürdigkeit seiner pädagogischen Ideen. Als Laudatoren schlug er u. a. Hartmut von Hentig vor, der schon 1967 einen Festvortrag in der Paulskirche gehalten hatte, damals unter dem Titel „Erziehung zum Frieden“.<sup>78</sup> Nach der Zusage von Hentigs, die Laudatio für die Friedenspreisverleihung zu übernehmen, dankte ihm Klett ausdrücklich, da von Hentig, mit dem er persönlich befreundet war und von dem er bereits mehrere Bücher verlegt hatte,<sup>79</sup> ihn erst auf die „Idee mit Korczak“ gebracht habe.<sup>80</sup> Das Preisgeld – so der Vorschlag von Herder-Dorneich – sollte an ein Warschauer Waisenhaus gegeben werden, das die Tradition Korczaks aufrechterhalte.<sup>81</sup></p><p>In einer am 19. Mai 1972 im <i>Börsenblatt</i> erschienenen Verlautbarung wurde betont, dass Korczak für die Erziehung zum Frieden ausgezeichnet werde, für die er mit seinem Leben eingetreten sei; damit wurde erneut das Werk Korczaks durch seinen Tod mit Bedeutung aufgeladen:</p><p>Er war nicht nur ein bedeutender Theoretiker der Friedenspädagogik, sondern er hat selbst, was er lehrte, in seinen Kinderbüchern beispielhaft verwirklicht. Er hat gelebt und ist gestorben mit den ihm anvertrauten Kindern, im Ghetto von Warschau, auf dem Todesgang in Treblinka.<sup>82</sup></p><p>Der kurz darauf verfasste Spendenaufruf für den Friedenspreis an Korczak stieß bei den Mitgliedern des Börsenvereins allerdings auf ein geteiltes Echo. Die positiven Rückmeldungen betonten nicht nur das pädagogische Werk Korczaks, sondern auch den Aspekt der „Wiedergutmachung“<sup>83</sup> im Hinblick auf die Ermordung Korczaks in der Shoah sowie die Bedeutung dieses Kandidaten für die deutsch-polnische Verständigung. Bei den vielfach kritischen Stimmen zur Wahl Korczaks reichte das Spektrum der Kritik von Holocaustleugnung<sup>84</sup> bis hin zu jenen, die in der posthumen Verleihung ein Indiz für eine Rückwärtsgewandtheit des Börsenvereins sahen: „Man könnte sogar geneigt sein zu glauben, man wolle sich durch die Flucht in die Vergangenheit der Verantwortung für die Zukunft entziehen.“<sup>85</sup> In der deutschen und internationalen Presse wurde vor allem in kleinen Mitteilungen über die Entscheidung des Stiftungsrates berichtet. Ein längerer Bericht in polnischer Sprache skizzierte das jedes Jahr wachsende Interesse am Leben und Werk Korczaks.<sup>86</sup></p><p>Die eigentliche Kontroverse sollte sich jedoch nicht so sehr um die Auswahl des Kandidaten, sondern vielmehr um den Empfänger des Preisgeldes drehen, so dass der Sekretär der Stiftung, Werner Dodeshöner (1908–1989) im Rückblick 1973 resümierte, „dass es bei keinem Friedenspreis solchen Ärger im Nachhinein gegeben habe wie dieses Mal“.<sup>87</sup> Der Streit sollte zu einer von vielen Projektionsflächen für die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus werden.<sup>88</sup></p><p>Öffentlich sichtbare Akteure waren neben dem Börsenverein vor allem der Zentralrat der Juden in Deutschland, die Korczak-Komitees in Polen und Israel sowie die Kommentatoren der großen deutschen Tages- und Wochenpresse. Aus der überlieferten Korrespondenz wird deutlich, dass von den öffentlich sichtbaren Hauptakteuren zudem eine ganze Reihe weiterer Personen als Unterstützer oder Vermittler herangezogen wurden. Eine systematische Analyse erfordert daher ein Quellenkorpus, das dieses Kommunikationsnetzwerk adäquat abbildet. Da es sich bei den genannten Akteuren um nicht-staatliche Institutionen handelt, ist die Forschung vor allem auf private Archive angewiesen, die in ihrer Genese und Überlieferungsstruktur die Analyse von Erinnerungskulturen jedoch präformieren.</p><p>Im Friedenspreis-Archiv des Deutschen Buchhandels in Berlin befindet sich eine umfangreiche Korrespondenz sowie eine noch viel umfangreichere Presseausschnittsammlung, die 634 Artikel allein zur Preisverleihung 1972 umfasst.<sup>89</sup> Die Protokolle des Stiftungsrates konnten wir aus Datenschutzgründen nicht seriell, sondern nur in Auszügen (z. B. zu den Beschlussfassungen zu Korczak) einsehen. Kritische Auseinandersetzungen und grundsätzliche Bedenken zur Auswahl Korczaks sind bei einem abschließenden Votum von acht Ja-Stimmen und einer Enthaltung unwahrscheinlich.<sup>90</sup></p><p>Hatte der bereits prominente Pädagoge von Hentig den Impuls für die Wahl Korczaks gegeben, so wirkte der damals noch unbekannte, später in der Korczak-Forschung umso einflussreichere Gießener Erziehungswissenschaftler Erich Dauzenroth in dieser Kontroverse für die Öffentlichkeit zunächst weitgehend unsichtbar. Überliefert sind sein persönlicher Nachlass<sup>91</sup> sowie eine von ihm selbst angelegte und kommentierte Dokumentation zur Korczak-Forschung („Journal“<sup>92</sup>), die das enge Wechselverhältnis von pädagogischer Korczak-Forschung und vielfältiger Erinnerungsarbeit verdeutlicht. So geht daraus u. a. hervor, dass Dauzenroth im Rahmen einer Polenreise im Hause des Vorsitzenden des polnischen Korczak-Komitees (<i>Komitet Korczakowski</i>) Stanisław Rogalski (1912–1996)<sup>93</sup> zugegen war, als das Telegramm des Börsenvereins eintraf, in dem der Stiftungsratsbeschluss zur Friedenspreisverleihung an Korczak übermittelt wurde.<sup>94</sup> Auf diese Weise frühzeitig involviert, trat er seinerseits mit dem Börsenverein in Kontakt. Durch seine vielfältigen Publikationen im Jahr 1972 sowohl im <i>Börsenblatt</i><sup>95</sup> als auch in pädagogischen Fachzeitschriften und den öffentlichen Medien<sup>96</sup> trug er wesentlich zum Bekanntwerden des Friedenspreiskandidaten bei. Als Korczak-Experte stand er zunächst auch auf der geplanten Rednerliste für die Verleihungsfeier.<sup>97</sup> Dauzenroth unterstützte den Börsenverein auch durch seinen freundschaftlichen Kontakt zu Rogalski,<sup>98</sup> den er für den geeigneten Empfänger des Preisgeldes hielt.<sup>99</sup></p><p>Das polnische Korczak-Komitee nahm die ihm angebotene Rolle binnen kurzer Zeit an und betonte zugleich den eigenen Anspruch, „das Erbe von Janusz Korczak“ zu verwalten<sup>100</sup> – ein Anspruch, der allerdings selbst auf polnischer Seite nicht unwidersprochen blieb, denn der dem Korczak-Komitee übergeordnete Warschauer „Verein der Kinderfreunde“ (<i>Towarzystwo Przyjaciół Dzieci</i>) benannte eine offizielle Repräsentantin, die anstelle von Rogalski den Preis entgegennehmen sollte.<sup>101</sup></p><p>Die Absicht, das Preisgeld nach Warschau zu vergeben, stieß gleichzeitig auf scharfen Widerspruch des Zentralrats der Juden in Deutschland,<sup>102</sup> namentlich seines damaligen Generalsekretärs Hendrik George van Dam (1906–1973), den der amerikanische Journalist Leo Katcher (1911–1991) in seiner Analyse des Judentums im Nachkriegsdeutschland 1968 als „inoffizielle[n] Botschafter der Juden in Deutschland, sowohl gegenüber der Bundesregierung wie auch gegenüber den Juden in der Welt“ bezeichnete.<sup>103</sup> Bereits in seinem ersten Schreiben vom 26. Mai 1972 verdeutlichte van Dam die zentralen Argumentationslinien des Zentralrats und die hiermit verbundene Erwartungshaltung an die Preisvergabe:</p><p>Janusz Korczak ist als der Leiter des jüdischen Waisenhauses im Warschauer Ghetto mit den von ihm betreuten Kindern in den Tod gegangen und ist damit zu einem Märtyrer des Judentums geworden. Wir dürfen erwarten und haben auch keinen Zweifel daran, dass in der Laudatio die Faktoren, die den Heroismus und die Menschlichkeit von Janusz Korczak in der letzten Periode seines Lebens bestimmt haben, zum Ausdruck kommen werden.<sup>104</sup></p><p>Gegen die Preisvergabe nach Polen spräche, so van Dam, der erstarkte Antisemitismus, in dessen Folge nach 1967 über 10.000 polnische Juden ausgewandert seien, ein Großteil von ihnen nach Israel. Nach heutigem Forschungsstand waren es sogar die Hälfte der 30.000 noch in Polen lebenden Juden,<sup>105</sup> unter ihnen auch ehemalige Mitglieder jenes Korczak-Komitees in Warschau, das das Preisgeld erhalten sollte.<sup>106</sup> Van Dam sah seine Position im Einklang mit den Zielen Korczaks: „Unter diesen Umständen kann es unmöglich dem Willen Janusz Korczaks entsprechen, in der gegenwärtigen Situation einen ihm zuerkannten Preis an eine Institution in Polen zu geben.“<sup>107</sup> Die zumindest vom Stiftungsrat als vertraulich empfundenen Schreiben zwischen van Dam und dem Stiftungsrat fanden ihren Niederschlag zunächst in einer kurzen Pressenotiz in der <i>Frankfurter Neuen Presse</i>, später auch im <i>Jüdischen Presse-Dienst</i>,<sup>108</sup> womit auch die öffentliche Kontroverse um das Preisgeld eröffnet war,<sup>109</sup> im Zuge derer weitere jüdische Institutionen die Position des Zentralrats unterstützten.<sup>110</sup></p><p>Das israelische Korczak-Komitee schloss sich mit einer scharfen Protestnote der Argumentationslinie an: Da aktive Mitglieder wie der frühere Vorsitzende des polnischen Korczak-Komitees Michał Wróblewski (1911–1993)<sup>111</sup> und die frühere Schriftführerin Ela Frydman<sup>112</sup> aufgrund des dortigen Antisemitismus Polen hätten verlassen müssen, könne das polnische Korczak-Komitee nicht das geistige Erbe Korczaks vertreten. Außerdem weiche Korczaks Pädagogik stark von den kommunistischen Erziehungszielen ab. Hervorgehoben wurde vor allem Korczaks jüdische Identität: Er habe „als Jude in letzter Konsequenz mit seinen Schülern den Tod eines Helden“ gefunden.<sup>113</sup> Zugleich reklamierten die Vertreter des israelischen Korczak-Komitees für sich die Deutungshoheit über Korczaks Erbe. Dabei wurde auf zwei erinnerungskulturell und -politisch relevanten Ebenen argumentiert, mit der Zeitzeug:innenschaft der meisten Mitglieder einerseits und dem in Israel initiierten öffentlichen Gedenken an Korczak andererseits.<sup>114</sup> Für die Verwendung des Preisgeldes schlug man eine Korczak-Statue anlässlich des 30. Todestags vor<sup>115</sup> – ein Ansinnen, das vom Börsenverein zunächst ebenso freundlich wie bestimmt abgelehnt wurde.<sup>116</sup> Nachdem allerdings auch der israelische Verlegerverband über den Umweg des Direktors der Frankfurter Buchmesse den Stiftungsrat auf die starken, über das israelische Korczak-Komitee weit hinausgehenden Proteste in Israel hinwies, kam es zu einem Meinungsumschwung, der möglicherweise darauf hindeutet, dass auch wirtschaftliche Interessen auf dem Spiel standen.<sup>117</sup> Erst zu diesem Zeitpunkt wurde eine weitere Spende für das israelische Korczak-Komitee in Erwägung gezogen, aber bis zur Verleihung nicht mehr realisiert.<sup>118</sup></p><p>Der Generalsekretär des Stiftungsrates versuchte zunächst, der breiten medialen Rezeption des Konflikts in Deutschland mit Hilfe von informellen Netzwerken zu begegnen: Er wandte sich an den österreichisch-jüdischen Schriftsteller Jean Améry (1912–1978)<sup>119</sup> und bat ihn, im Sinne des Stiftungsrats bei van Dam zu intervenieren.<sup>120</sup> Im Stiftungsrat diskutierte man indessen die öffentlich geäußerte Kritik van Dams,<sup>121</sup> die Verwendung des Preisgeldes sei nicht im „Sinne Korczaks“: „Gegen diese Behauptung spricht, daß die Jüdin Mers'an<sup>122</sup> [sic] Mitglied des Vorstandes des Korczak Komitees ist“.<sup>123</sup>Dodeshöner vermerkte aber auch, dass diese als sogenannte „Altkommunistin“ eine besondere Stellung einnehme.<sup>124</sup> Für diese These spräche – so eine erhaltene Telefonnotiz von Dodeshöner, die der biographischen Korczak-Forschung allerdings widerspricht –, dass im ersten von Korczak geleiteten Waisenhaus (<i>Nasz Dom</i>) keine jüdischen Kinder leben würden und das zweite (<i>Dom Sierot</i>) nicht mehr existiere.<sup>125</sup></p><p>Aber auch unterstützende Reaktionen wurden im Archiv des Friedenspreises überliefert: Verschiedene deutsch-polnische Freundesgesellschaften sahen in der Ehrung des „Polen Janusz Korczak“ und der Entscheidung für das polnische Korczak-Komitee ein Indiz für die Völkerverständigung zwischen der Bundesrepublik und der Volksrepublik vor dem Hintergrund der neuen Ostpolitik.<sup>126</sup> Erst in späteren Jahren sollte die Metapher des „Brückenbauers zwischen den Nationen“ explizit für Korczak stark gemacht,<sup>127</sup> vielfältig in der Korczak-Forschung zitiert<sup>128</sup> und erinnerungskulturell aufgeladen werden.<sup>129</sup> Schlussendlich delegierte die polnische Regierung sowohl Alicja Szlązakowa (1911–2005) als Funktionärin des Warschauer „Vereins der Kinderfreunde“ als auch Stanisław Rogalski, worüber der Börsenverein erst drei Wochen vor der Preisverleihung informiert wurde.<sup>130</sup></p><p>Anlässlich der Friedenspreisverleihung am 2. Oktober 1972 in der Paulskirche trafen zumindest einige der beschriebenen Akteure zusammen.<sup>131</sup> In seiner Rede nahm Ernst Klett die Kontroversen der vorangegangenen Monate offensiv auf:</p><p>Janusz Korczak […] war Pole jüdischer Herkunft, Jude polnischer Nationalität. Als Deutsche dürfen wir, wenn wir dieses Mannes gedenken, solche Fakten nicht einen Augenblick vergessen. Gleichwohl haben wir nicht einen Polen, nicht einen Juden mit diesem Preis ausgezeichnet, sondern einen Menschen, eine außerordentliche, eine reine Gestalt, wie sie einem Jahrhundert nur selten geschenkt wird.<sup>132</sup></p><p>Mit dieser Überhöhung Korczaks versuchte Klett dem Friedenspreis eine von den skizzierten (erinnerungs−)politischen Kontexten losgelöste Bedeutungsebene zuzuschreiben. Hartmut von Hentig hingegen führte in seiner Laudatio die Diskussion um die Preisvergabe an Korczak wieder ganz nah an dessen Werk heran, das Korczak schon zu Lebzeiten in Konflikte gebracht hätte:</p><p>Man hat dieser Preisverleihung vorgeworfen, sie sei zu bequem, zu opportun. Korczak: ein Pole, mit dessen Land wir in diesem Jahr ein neues Verhältnis suchen; ein Jude, an dem wir 30 Jahre danach immer noch wiedergutmachen wollen, was nicht gutzumachen ist; ein Sozialist, aber ein skeptischer und „individueller“; ein fortschrittlicher Erzieher, aber – gottlob – kein radikaler; und vor allem ein Toter, ein Märtyrer obendrein, vor dessen Todestat sich alle beugen und dem man nicht übelnehmen kann, daß er vor 30 Jahren nicht unsere Probleme im Sinne hatte. Nun, genau dies ist nicht bequem! Wie in seinem Leben, so gerät Korczak auch mit diesem Preis zwischen alle Fronten.<sup>133</sup></p><p>Die eigentliche Preisübergabe gestaltete sich entsprechend als diplomatische Herausforderung: Ernst Klett überreichte die Urkunde an Stanisław Rogalski – der als Vorsitzender des Korczak-Komitees von Beginn an als Empfänger vorgesehen war – der sie wiederum an Alicja Szlązakowa weiterreichte, die als Vizepräsidentin des dem Komitee übergeordneten „Vereins der Kinderfreunde“ von polnischer Seite offiziell delegiert worden war.<sup>134</sup></p><p>In einem anonym<sup>135</sup> verfassten Artikel in der Wochenzeitschrift <i>Die Zeit</i> vom 6. Oktober 1972 wurde unter der Überschrift „Korczak und seine Sünder“ berichtet, Kletts Ansprache habe „die politische Ahnungslosigkeit einer Organisation erkennen“ lassen, „die sich anmaßt, einen internationalen Friedenspreis zu verleihen“.<sup>136</sup> Tatsächlich konnte auch die Inszenierung der Preisverleihung nicht die Gegensätze zwischen dem Stiftungsrat des Börsenvereins und dem Zentralrat überwinden. Noch im November veröffentlichte van Dam unter dem Titel „Die unbequeme Wahrheit. Janusz Korczak und der Opportunismus“ eine weitere Kritik,<sup>137</sup> die er mit dem Skandal um ein auf der Buchmesse ausgestelltes, die Waffen-SS verherrlichendes Buch verband, in dessen Folge der Sprecher des Messerates zurückgetreten war. Damit diente die Kontroverse um Korczak dem übergeordneten Bestreben, das Gedenken an die Shoah und den Nationalsozialismus politisch zu verankern und gegen den anhaltenden Antisemitismus innerhalb und außerhalb Deutschlands öffentlich Stellung zu beziehen.<sup>138</sup> Sie kann somit in die von Tobias Freimüller (geb. 1973) für die 1970er Jahre konstatierte Phase der Politisierung der NS-Vergangenheit im öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik eingeordnet werden, die mit der Ausstrahlung des amerikanischen TV-Mehrteilers <i>Holocaust</i> in eine Zäsur mündete.<sup>139</sup></p><p>Mit den zunehmenden internationalen Spannungen geriet der Stiftungsrat in die Defensive und nahm nun offizielle diplomatische Kommunikationskanäle in Anspruch, so den damaligen Kulturreferenten in der Deutschen Botschaft in Israel, Jürgen Sudhoff (geb. 1935).<sup>140</sup> Letztendlich scheiterte der Versuch eines Interessenausgleichs: Eine in Erwägung gezogene zusätzliche Preisvergabe an das israelische Korczak-Komitee lehnte der Börsenverein ab.<sup>141</sup> Dieser Eklat fand erneut erheblichen Widerhall in der deutschen und internationalen Presse. Die <i>Frankfurter Rundschau</i> titelte: „Börsenverein immer noch in der Klemme wegen Spende an Korczak-Komitee“. Der für diesen Beitrag interviewte Generalsekretär des israelischen Korczak-Komitees bezeichnete die geplante Spende als „Trostpreis“.<sup>142</sup></p><p>Trotz oder vielleicht gerade wegen dieser massiven, medial verbreiteten Kritik am Friedenspreis, die es zehn Jahre später sogar als eigene Rubrik in eine Korczak-Bibliographie schaffte,<sup>143</sup> gab die Preisverleihung der pädagogischen Korczak-Forschung in Deutschland<sup>144</sup> Rückenwind: Ein Besuch Rogalskis bei Dauzenroth in Gießen, unmittelbar im Anschluss an die Preisverleihung, festigte die Kontakte zum Warschauer Korczak-Komitee und ebnete den Weg für die Durchführung eines ersten internationalen Korczak-Symposiums 1973 in Gießen,<sup>145</sup> bei dem sowohl Rogalski als auch Szlązakowa teilnahmen. Ein dort aufgeführtes „Feature“ nahm ganz explizit Bezug auf die Bedeutung der Friedenspreisverleihung für die Auseinandersetzung mit Janusz Korczak im deutschen Sprachraum. Es beginnt mit den Worten des ersten Sprechers: „1. Oktober 1972. Frankfurt/Main, Paulskirche. Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für das Jahr 1972 wird posthum an Janusz Korczak verliehen. Wer war Janusz Korczak?“<sup>146</sup> Dass die Korczak-Forschung auch in ganz praktischer Hinsicht von der Friedenspreisverleihung profitierte, verrät ein abschließender Hinweis im Sammelband des Korczak-Symposiums auf die von Ursula Assmus im <i>Börsenblatt</i> 1972 veröffentlichte Bibliographie Korczaks.<sup>147</sup></p><p>Interessanterweise erhielt auch die Korczak-Forschung in der DDR wesentliche Impulse im Umfeld der Friedenspreisverleihung. Die Germanistin Barbara Engemann-Reinhardt (1940–2019), die zu den Gründungsmitgliedern der seit 1980 bestehenden „Forschungsgemeinschaft Janusz Korczak bei der Kommission für Erziehungs- und Schulgeschichte der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR“ zählte, erinnerte sich an die Anfänge ihrer Beschäftigung mit Korczak: Als Mitarbeiterin des DDR-Schulbuchverlags Volk und Wissen hatte sie Zugang zum westdeutschen <i>Börsenblatt</i> und konnte auf diese Weise „die glänzende Laudatio von Hartmut von Hentig lesen, die er 1972 anlässlich der posthumen Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Janusz Korczak gehalten hatte“.<sup>148</sup></p><p>Im Gegensatz zu von Hentig, der in späteren Jahren nicht mehr zu Korczak arbeitete, obgleich er die Auseinandersetzung mit dessen Werk eindrucksvoll in seinen Erinnerungen schilderte,<sup>149</sup> trug Dauzenroth maßgeblich zur akademischen Institutionalisierung der Korczak-Forschung in den 1970er bis 1990er Jahren bei: Seit 1964 an der Justus-Liebig-Universität in Gießen zunächst als Studienrat im Hochschuldienst, später als Professor für Erziehungswissenschaft am Institut für Bildungsforschung und Pädagogik des Auslands<sup>150</sup> tätig, bot er von 1969 bis zu seiner Emeritierung 1996 Lehrveranstaltungen zu verschiedenen Aspekten der Korczak-Forschung an, darunter auch Exkursionsseminare nach Polen sowie Seminare, die er gemeinsam mit einem Zeitzeugen Korczaks abhielt.<sup>151</sup> Zu diesem ersten Stützpunkt bundesrepublikanischer Korczak-Forschung trat seit den frühen 1980er Jahren eine zweite „Korczak-Forschungsstelle“ an der Gesamthochschule Wuppertal, geleitet von dem Professor für Erziehungswissenschaft Friedhelm Beiner (geb. 1939). Dauzenroth und Beiner betreuten die ersten Korczak betreffenden Dissertationsprojekte;<sup>152</sup> in Wuppertal entstand 2004 eine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Habilitationsschrift.<sup>153</sup> Unter den Themen von Seminaren, Vorlesungen, Qualifikationsarbeiten und Publikationen der 1970er/1980er Jahre hatten insbesondere Vergleiche der Pädagogik Korczaks mit etablierten Pädagogen oder Philosophen Konjunktur, wie etwa Martin Buber (1878–1965)<sup>154</sup> oder Johann Heinrich Pestalozzi. Bereits ein 1963 veröffentlichter Aufsatz trug den Titel „Janusz Korczak – Polens Pestalozzi“,<sup>155</sup> ein Vergleich der, wie bereits in der Einleitung dieses Beitrags angedeutet, zahlreiche Nachahmer finden sollte.<sup>156</sup></p><p>Solche Versuche einer Kanonisierung waren bislang allerdings nicht erfolgreich. Korczak fand weder in die von Hans Scheuerl (1919–2004) noch in die von Heinz-Elmar Tenorth (geb. 1944) oder Bernd Dollinger (geb. 1973) getroffene Auswahl sogenannter „Klassiker“ Eingang.<sup>157</sup> Anhand der von den jeweiligen Autoren unternommenen Charakterisierungsversuche von „Klassikern der Pädagogik“ können Differenzen zu Korczak abgeleitet werden. So ließe sich z. B. die lange in deutscher Sprache fehlende geschlossene Werkausgabe<sup>158</sup> als Rezeptionshindernis anführen oder aber die Korczak häufig zugesprochene Rolle als „Praktiker“, deren Sichtbarkeit in der Wissenschaft grundsätzlich erschwert sei.<sup>159</sup></p><p>Seit 2010 liegen Janusz Korczaks <i>Sämtliche Werke</i> in 16 Bänden sowie zwei Ergänzungsbänden vor und Korczaks Werk wurde in der von Horn und Ritzi unternommenen, kontrovers diskutierten Studie zu den „pädagogisch wichtigsten Veröffentlichungen“ des 20. Jahrhunderts ein Platz eingeräumt.<sup>160</sup> In jüngster Vergangenheit wurde die Pädagogik Korczaks sogar als Unterrichtsgegenstand für die Gymnasiale Oberstufe entdeckt.<sup>161</sup></p><p>Schon viel früher und sehr erfolgreich strahlte die pädagogische Forschung auf die öffentliche Gedenkkultur zu Korczak aus. Sie wurde ganz wesentlich gefördert durch die seit 1977 existierende Deutsche Korczak-Gesellschaft, die nach dem Mauerfall mit der Forschungsgemeinschaft Janusz Korczak in der DDR fusionierte. Die erwähnten Pädagogen und Korczak-Forscher Dauzenroth und Beiner prägten die Gesellschaft maßgeblich, obwohl die Mitgliederstruktur keineswegs auf das akademische Milieu der Pädagogik beschränkt blieb.<sup>162</sup> Vertreter:innen aus Ost und West zählten zu den Gründungsmitgliedern der Internationalen Korczak-Gesellschaft, deren Arbeit seit 1978 wesentliche Impulse durch Zeitzeug:innen Korczaks (ehemalige Heimkinder, Mitarbeiter:innen aus den Kinderheimen <i>Dom Sierot</i> und <i>Nasz Dom</i> oder andere Weggefährt:innen Korczaks) erhielt und mithilfe des <i>Bulletin of the Janusz Korczak International Association</i> international verbreitete.<sup>163</sup> Wie die im Kontext der Friedenspreisverleihung zu Tage getretenen Spannungen in Bezug auf die Deutungshoheit über Korczak innerhalb der internationalen Netzwerke überwunden wurden, bleibt bislang ein Forschungsdesiderat.</p><p>Deutschlandweit sind seit Mitte der 1970er Jahre über 80 Institutionen nach Janusz Korczak benannt worden, die sich vor allem der Pädagogik Korczaks, aber auch der jüdischen Kulturbildung und dem interreligiösen Dialog verpflichtet fühlen.<sup>164</sup> Ob sich die Tatsache, dass sich auffallend viele dieser „Korczak-Institutionen“ in Nordrhein-Westfalen und Hessen befinden, als lokaler Reflex der prominenten Korczak-Forschungsstellen in Wuppertal und Gießen deuten lässt, muss zukünftig noch überprüft werden.<sup>165</sup> Des Weiteren finden sich nach Korczak benannte Straßen und Plätze,<sup>166</sup> Denkmäler und Preise.<sup>167</sup> Wichtige Multiplikatoren der öffentlichen Wahrnehmung Korczaks in Deutschland waren vielfältige szenische Darstellungen, angefangen von der Premiere von Erwin Sylvanus’ Theaterstück <i>Korczak und die Kinder</i> im Jahr 1957<sup>168</sup> bis hin zu den populären drei Korczak-Filmen aus den Jahren 1974–1990.<sup>169</sup> Jenseits der pädagogischen Forschung hat Korczak also – anders als Aleida Assmann in ihren Ausführungen zu den Wirkungen des Friedenspreises als „Erinnerungsimpuls“ annahm – sehr wohl eine dauerhafte „lokale Verankerung in der regionalen und nationalen Gedächtnislandschaft“<sup>170</sup> erfahren. Assmann hatte ausgerechnet Korczak als ein Beispiel für eine wenig nachhaltige öffentliche Resonanz angeführt.</p><p>Innerhalb der skizzierten Debatte lassen sich vor allem drei miteinander konkurrierende Zuschreibungen und Vereinnahmungen Korczaks nachvollziehen: Sie betreffen Korczaks polnische und jüdische Identität und das damit verbundene Erinnern als <i>Märtyrer</i> sowie seine Bedeutung als (Friedens−)Pädagoge. Der Börsenverein hatte Korczak – nicht unwesentlich beeinflusst von persönlichen Netzwerken – auf der Suche nach einem vermeintlich unstrittigen Kandidaten für sich entdeckt. Er sollte vor dem Hintergrund anhaltender Proteste die Legitimation des Börsenvereins – einer kommerziellen Interessen entsprungenen Vereinigung – stabilisieren, einen Friedenspreis zu verleihen. Korczak bot aufgrund seiner Biographie <i>und</i> seines pädagogischen Werks leicht vermittelbare Bezugspunkte zum erinnerungspolitischen Programm einer Friedensstiftung. Bemerkenswert ist, dass es dem Stiftungsrat des Börsenvereins gelang, in seinem weitverzweigten Netzwerk unter deutschsprachigen Schriftstellern unterstützende Stimmen zu finden, die, trotz eigener Verfolgungs- und Exilerfahrung, für einen Ausgleich zwischen der – wohl nicht nur aus heutiger Sicht<sup>171</sup> – politisch naiven Vorgehensweise des Stiftungsrates im Umgang mit der Frage des Preisgeldes und dem Protest des Zentralrats eintraten. Der Zentralrat der Juden in Deutschland hatte sich nach seiner Gründung 1951 zunehmend auf die Bühne der Öffentlichkeit gewagt. Er sah sich nicht nur den Interessen der jüdischen Nachkriegsgemeinden in Deutschland verpflichtet, sondern beanspruchte auch die Deutungshoheit über das Gedenken an die Shoah. Vor dem Hintergrund antisemitischer Kampagnen in Polen zu dieser Zeit war der Protest gegen die Vergabe des Preisgeldes an das Warschauer Korczak-Komitee vor allem eine politische Auseinandersetzung über den Umgang mit Antisemitismus in der Bundesrepublik.<sup>172</sup></p><p>Beiden Institutionen diente das Gedenken an Korczak vor allem als Folie, vor der ein dissonanter Umgang mit dem Holocaustgedenken und dem zeitgenössischen Antisemitismus aus polnischer, israelischer und deutscher Sicht virulent wurde. In dieser Auseinandersetzung gerieten die eigentliche Begründung für den Preis, Korczaks Eintreten „für das Kind und seine Rechte“, sowie seine Werke, die einer „ungerechten, unglücklichen, friedlosen und doch zu mehr Gerechtigkeit, Glück und Frieden fähigen Welt“ antworten,<sup>173</sup> in den Hintergrund zugunsten einer stärkeren Betonung seines <i>Märtyrertods</i>.</p><p>Nur für die Korczak-Komitees in Polen und Israel besaß Korczak tatsächlich identitätsstiftenden Charakter, nicht zuletzt wegen der Zeitzeugenschaft vieler ihrer Mitglieder. Ihre Konkurrenz leiteten sie vor allem aus der Verfolgungserfahrung der vertriebenen polnischen Mitglieder ab. Schließlich lassen sich auch die Vertreter:innen einer frühen pädagogischen Korczak-Forschung als Erinnerungsakteure mit spezifischen Interessen im Sinne einer akademischen Profilbildung und zunehmenden Institutionalisierung ihrer Forschung identifizieren.</p><p>Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels den Beginn eines zunehmend öffentlichen Erinnerungsprozesses an Janusz Korczak in Deutschland darstellt, der bis heute mit vielfältigen Indienstnahmen Korczaks einhergeht. Die posthume Verleihung des Friedenspreises an Korczak markiert zugleich den Beginn des Übergangs vom kommunikativen in das kulturelle Gedächtnis, ein Prozess, der erst kürzlich mit dem Tod des sogenannten „Last Korczak Boy“<sup>174</sup> zum Abschluss kam. Die nach 1972 verstärkt einsetzende Korczak-Rezeption allein der posthumen Friedenspreisverleihung zuzuschreiben, wäre sicherlich vermessen. Der hier analysierte öffentliche Diskurs und die aufgezeigten Impulse für die wissenschaftliche Auseinandersetzung verdeutlichen jedoch die katalytische Wirkung dieses Ereignisses. Eine solche erinnerungskulturelle Fokussierung erschließt somit zugleich neue Perspektiven auch für die Wissens- und Disziplinengeschichte, die, wie Rieger-Ladich explizit für die Erziehungswissenschaften einfordert, „Netzwerke und Kollektive“ einbezieht, „die an der Konstituierung des Feldes beteiligt sind“ und die „die Entstehungsbedingungen erziehungswissenschaftlichen Wissens nicht nur in der eigenen Disziplin“ sucht.<sup>175</sup></p>","PeriodicalId":55388,"journal":{"name":"Berichte zur Wissenschaftsgeschichte","volume":null,"pages":null},"PeriodicalIF":0.6000,"publicationDate":"2024-04-05","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"https://onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.1002/bewi.202300022","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Berichte zur Wissenschaftsgeschichte","FirstCategoryId":"98","ListUrlMain":"https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/bewi.202300022","RegionNum":2,"RegionCategory":"哲学","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"Q2","JCRName":"HISTORY & PHILOSOPHY OF SCIENCE","Score":null,"Total":0}
引用次数: 0
Abstract
Im Jahr 1972 gerieten Leben und Werk von Janusz Korczak (1878/79–1942) für einige Monate in den Fokus der bundesrepublikanischen Feuilletons und damit einer interessierten Öffentlichkeit in Gesellschaft, Politik und Wissenschaft. Der Hintergrund für dieses plötzliche Interesse an dem aus Warschau stammenden Arzt1, Pädagogen und Schriftsteller war die posthume Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Mit dieser vielfältig symbolisch aufgeladenen2 und öffentlichkeitswirksam inszenierten3 Auszeichnung wird bereits seit 1950 jährlich eine Persönlichkeit geehrt,4 die zur Verwirklichung des Gedankens des „Friedens, der Menschlichkeit und der Verständigung unter den Völkern“5 beigetragen hat. Wie umstritten der hier formulierte Anspruch, die Auswahl der jeweiligen Preisträger:innen und auch ihrer Laudator:innen in der Vergangenheit gewesen sind, belegt die 2009 erschienene Chronik des Friedenspreises mit dem bezeichnenden Titel Widerreden.6 Gerade wegen dieser permanenten kritischen Auseinandersetzung räumte Aleida Assmann (geb. 1947) im gleichen Band dem Friedenspreis einen festen Platz „im kulturellen Gedächtnis der Deutschen“ ein.7 Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin prägte zusammen mit ihrem Ehemann Jan Assmann (1938–2024) im deutschsprachigen Diskurs seit den 1990er Jahren den Begriff des „kulturellen Gedächtnisses“, beide wurden im Jahr 2018 selbst mit dem Friedenspreis ausgezeichnet.8 In der Preisbegründung wurde betont: „Angesichts einer wachsenden politischen Instrumentalisierung der jüngeren deutschen Geschichte leistet sie [Aleida Assmann] in hohem Maße Aufklärung zu Fragen eines kulturellen Gedächtnisses einer Nation.“9 Ein wesentlicher Aspekt ihres Forschungsansatzes ist die Analyse jenes Transformationsprozesses von unmittelbar oder zumindest mittelbar selbst Erlebtem und Erinnertem (kommunikatives Gedächtnis) zu einem von zeitgenössischen Berichten losgelösten Erinnern (kulturelles Gedächtnis).10
Für die Konjunktur von Erinnerung an Gelehrte, wie Korczak, sind Jubiläen, Jahrestage und selten auch die Verleihung von Preisen von großer Bedeutung. In den mit ihnen verbundenen öffentlichen und fachinternen Diskursen lassen sich nicht nur spezifische (erinnerungspolitische) Interessen der jeweiligen Akteure erkennen, sondern sie vermitteln auch wirkmächtige Narrative und spiegeln Aushandlungsprozesse.11 Letztere werden insbesondere im Kontext von Erinnerungen an den Holocaust oftmals als Konflikte wahrgenommen,12 die es zu reflektieren gilt. Ein zentraler Aspekt in der Analyse erinnerungskultureller Phänomene ist der virulente Gegenwartsbezug: „Erinnerungen drehen sich nicht um Vergangenheit, sondern um die Gegenwart. Die Dissonanzen der Erinnerung erklären sich weniger aus der Konfliktträchtigkeit von Vergangenheit, sondern aus Konfliktlagen und Bedürfnissen der Gegenwart.“13
In wissenschaftshistorischer Perspektive bietet sich eine Verknüpfung dieser Beobachtungen mit den Anerkennungskulturen in den Wissenschaften an: Die Bedeutung von Wissenschaftler:innen wird jenseits szientometrischer Verfahren14 nach wie vor nicht unwesentlich von Reputationsnetzwerken und Zuschreibungen von Exzellenz bestimmt.15 Eingang in die fachkulturelle Erinnerung ihres Fachgebiets16 finden Wissenschaftler:innen besonders dann, wenn ihr Wirken den spezifischen Anerkennungslogiken ihrer Disziplin entsprochen hat, sie beispielsweise schon zu Lebzeiten als exponierte Vertreter:innen ihres Faches galten, eine als grundlegend erachtete Forschungsleistung vorzuweisen hatten, erfolgreiche akademische Schüler:innen hervorbrachten oder mit renommierten Preisen ausgezeichnet wurden. Erinnerungspolitisch interessant werden sie durch das damit verbundene Identifikationspotential und die Inanspruchnahme für aktuelle Debatten.
Janusz Korczak entzieht sich diesen Bewertungsmaßstäben weitgehend. Sein Werk widersetzt sich aufgrund der methodischen und inhaltlichen Vielfältigkeit17 einer einfachen disziplinären Kategorisierung, so dass Korczak treffender als gelehrter Praktiker denn als Wissenschaftler bezeichnet werden kann. Hinzu kommen die ihm gewidmeten populären Zuschreibungen18 und Inanspruchnahmen, die insbesondere auf die Umstände seiner Ermordung im Vernichtungslager Treblinka rekurrieren und den Blick auf sein pädagogisches Werk verstell(t)en.
Die Pädagogin Gisela Miller-Kipp (geb. 1942) unternahm 2008 den „Versuch, Janusz Korczak als ‚Klassiker‘ der Pädagogik“19 zu lesen und verglich Korczak hierbei mit Maria Montessori (1870–1952), Paulo Freire (1921–1997), Anton S. Makarenko (1888–1939) und Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827), wobei sie insbesondere Gemeinsamkeiten mit Pestalozzi aufzeigen konnte. Damit nahm sie Bezug auf den in den Erziehungswissenschaften kontrovers geführten Diskurs um einen offensichtlich in Wandlung begriffenen Kanon von Autor:innen,20 deren pädagogischen Texten „etwas Herausragendes, besonders Gelungenes“, mithin „eine Aura des Zeitlosen“ für die Disziplin der Pädagogik zugesprochen wurde.21
Im Fokus dieses Beitrags steht der Einfluss der zeitgenössisch kontrovers diskutierten Friedenspreisverleihung an Janusz Korczak auf die Entwicklung der deutschsprachigen Korczak-Forschung. Durch die methodische Verknüpfung des skizzierten erinnerungstheoretischen Ansatzes mit einer wissenschaftshistorischen Untersuchung zur Etablierung eines Forschungsthemas und dazugehöriger Narrative – hier in erster Linie in der Pädagogik – können übergreifende Wirkmechanismen im wechselseitigen Transfer von Aufmerksamkeit zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit herausgearbeitet werden.22 Auf Grundlage einer Dokumentenanalyse bislang kaum erschlossener Korrespondenzen, Manuskripte und Presseberichte zu dieser Preisverleihung aus dem Archiv des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in Berlin, dem Erich Dauzenroth-Nachlass im Dedecius Archiv des Collegium Polonicium Słubice (Europa-Universität Viadrina Frankfurt [Oder] und Adam-Mickiewicz-Universität Poznań), dem Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland in Heidelberg sowie Forschungsunterlagen aus der Sammlung „Janusz Korczak“ (Privatsammlung Engemann-Reinhardt) in der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf und dem Forschungsarchiv zur Person und Pädagogik von Janusz Korczak an der Hochschule Düsseldorf untersuchen wir die unterschiedlichen Interessen und Ziele erinnerungspolitischer Akteure in Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Medien, vor allem aber auch die sehr starke Verknüpfung von Korczaks Werk mit dem Holocaustgedenken. Gerade durch diese Verknüpfung wurde insinuiert – so unsere These –, dass das pädagogische Werk Korczaks nicht losgelöst von der Biographie des Autors zu betrachten sei, wodurch auch eine klare wissenschaftshistorische Einordnung bislang ausblieb. Dabei ist sein facettenreiches und vielfältig anschlussfähiges Werk zugleich der Schlüssel zu seiner enormen Popularität.
Bereits vor der Friedenspreisverleihung wurde Korczaks wissenschaftliches Werk in der posthumen Betrachtung kontinuierlich über die Darstellung seines Lebens vermittelt. Die Anfänge dieser Verknüpfung von pädagogischem Werk und biographischer Darstellung lassen sich zurückverfolgen bis zur 1949 publizierten ersten Korczak-Biographie der Schriftstellerin Hanna Mortkowicz-Olczakowa (1902–1968)23, deren erste Übersetzungen aus dem Polnischen 1961 in Tel Aviv und Weimar, 1963 in Buenos Aires und 1965 in London erschienen.24 Als Tochter des Korczak-Verlegers Jakub Mortkowicz (1876–1931)25 und der Autorin, Übersetzerin und späteren Verlegerin Żaneta Mortkowicz (1875–1960), in deren Händen die Redaktion der von Korczak gegründeten Zweiwochenschrift lag, kannte die Biographin Korczak seit ihrer Kindheit26 und zählte damit zu den Zeitzeug:innen27, die sich durch ihre persönlichen Erinnerungen an Korczak zu umfangreichen Biographien inspirieren ließen: Auf 269 Seiten schilderte Mortkowicz-Olczakowa Korczaks Werdegang als Kinderarzt, als späterer Leiter eines Waisenhauses, als Zeitzeuge des Ersten Weltkriegs, als Schriftsteller vielfältiger pädagogischer und sozialer Schriften, als Redakteur einer Zeitschrift für Kinder, als Reisender nach Palästina in den 1930er Jahren und als Sprecher einer Rundfunksendung für Kinder unter dem Pseudonym „alter Doktor“ („Stary Doktor“). Schließlich beschrieb sie die Bedrohung infolge der deutschen Besatzung in Warschau, die Umsiedlung des Waisenhauses für jüdische Kinder ins Warschauer Ghetto und den Fußweg Korczaks mit den Kindern zum „Umschlagplatz“, der die Deportation ins Vernichtungslager Treblinka folgte. In Kenntnis von Korczaks autobiographischem Ghetto-Tagebuch, das der Autorin als noch unveröffentlichtes Manuskript vorlag,28 beschrieb sie das Leben des in Warschau aufgewachsenen jüdischen Jungen Henryk Goldszmit29 bis hin zum „letzte[n] Gang“30 des „Janusz Korczak“ – so das Pseudonym, unter dem der „Arzt und Pädagoge“31 in Polen zu Lebzeiten bekannt wurde.
In ihrer Einleitung der Biographie weist Mortkowicz-Olczakowa auf jene Lesart von Korczaks Biographie hin, die Korczaks individuelles Leben und Wirken unmittelbar in den Schatten seines „jähen Märtyrertodes“32 stellte und die ganz wesentlich die Narrative nachfolgender deutschsprachiger Autor:innen33 prägte:
In Polen sind im letzten Weltkrieg Millionen Juden umgebracht worden; allein aus dem Warschauer Ghetto hat man Hunderttausende in die Gaskammern geschickt. Darunter befanden sich Insassen von Waisenhäusern und Spitälern, Kinder und ihre Erzieher. In der unübersehbaren Menge der Toten gingen ganze Städte, ganze Bevölkerungsgruppen, Millionen von Namen – ohne jede Spur – unter. Der Name Janusz Korczak wurde für uns zum Sinnbild jener Namenlosen, zum Symbol eines heldischen Opfergangs.34
Korczak ist bereits Ende der 1940er Jahre zum Gedächtnisträger der Ermordeten in der Shoah geworden.35 Die Formulierung „für uns“ deutet daraufhin, dass sich die Autorin selbst als Teil dieser spezifischen Erinnerungsgemeinschaft definierte. Die Gedenkstätte Treblinka materialisierte dieses stellvertretende Gedenken 1978, in dem sie den Namen Korczaks als seither einzige individuelle Person auf einen ihrer 17.000 Granitblöcke eingravieren ließ.36 Ein Foto der Gedenkstätte wiederum bebilderte die 1981 veröffentlichte Korczak–Bioergographie37 des Gießener Korczak-Forschers Erich Dauzenroth (1931–2004)38.
Mortkowicz-Olczakowa selbst hatte in der gleichen Einleitung auf die Verengung in der Darstellung der Biographie Korczaks auf seinen gewaltvollen Tod im Vernichtungslager hingewiesen und angemahnt: „Es geht nicht an, daß dieses lange, reiche Leben nur im Schatten seines tragischen und heroischen Todes gesehen wird.“39 Dem Anliegen, Zeugnis über das Leben und Werk Korczaks jenseits seines Todes abzulegen, fühlten sich insbesondere die Zeitzeug:innen Korczaks verpflichtet, deren Erinnerungen40 sowohl die Korczak-Forschung als auch das Gedenken im Kontext der nationalen Korczak-Gesellschaften wesentlich prägten.41 Wie sich das Ende dieser Zeitzeugenschaft42 konkret auf die zukünftige Korczak-Forschung auswirken wird, muss abgewartet werden.
Welche Probleme Zeitzeugenberichte aufwerfen können, verdeutlicht die Analyse von Mortkowicz-Olczakowa. Für die Beschreibung des Wegs vom Waisenhaus zum „Umschlagplatz“ spricht sie von einer „Legende“, die „geschwätzig und allwissend“ den „letzten Gang der Kinder und Erzieher unter Korczaks Führung […] in bunten Farben und in zahlreichen Versionen“ schildert.43 Obwohl die Widersprüchlichkeiten dieser zahlreichen Versionen weder von Zeitzeug:innen44 noch von der jüngsten Korczak-Forschung aufgelöst werden konnten,45 ließ gerade der Bericht dieses „letzten Ganges“ Korczak zu einer der „zentralen Projektionsfiguren“ im Holocaustgedenken der Nachkriegszeit werden, so analysierte Gabriele von Glasenapp (geb. 1956), die Korczak in dieser erinnerungskulturellen Funktion mit Anne Frank (1929–1945) verglich:46 Insbesondere der „Erzählung über den Arzt, der ‚seine‘ Kinder freiwillig in den Tod begleitet“,47 seien die Züge eines „Masternarrativs“ eingeschrieben.48 Im Folgenden kann gezeigt werden, wie sich Reflexe dieses Narrativs sowohl in der Kontroverse um die Friedenspreisverleihung als auch in der etwa zeitgleich in Deutschland einsetzenden Korczak-Forschung finden lassen.49
Wie aber konnte der in den frühen 1970er Jahren in Deutschland weitgehend unbekannte50 Korczak schließlich Kandidat für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels werden und welchen Einfluss hatte die pädagogische Forschung zu Korczak auf diesen Auswahlprozess?
Das Kinder- und Jugendbuch König Hänschen I. war 1957 das erste Buch Korczaks, das nach dem Zweiten Weltkrieg in einem Warschauer Verlag in deutscher Übersetzung erschien51 und seit 197052 auch in Deutschland verlegt wurde. Es erzählt die Geschichte eines Königs, dessen Reich durch ein von Kindern geleitetes Parlament mit der Selbstbestimmung der Kinder Ernst macht. Dieser zweiteilige Kinderroman löste im Deutschland der 1970er Jahre als „Bibel der antiautoritären Erziehung“53 ein kontroverses Echo aus, das sich in vielfältigen – zum Teil auch kritischen54 – Besprechungen niederschlug.55
Als besonders einflussreich gilt die vielbeachtete Rezension des Bielefelder Erziehungswissenschaftlers Hartmut von Hentig (geb. 1925),56 der durch seinen engen Kontakt zu der Pädagogin und frühen Korczak-Forscherin Elisabeth Heimpel (1902–1972)57 auf das Kinderbuch aufmerksam gemacht worden war. Sowohl von Hentig als auch Heimpel zählten zum Herausgeberkreis (Heimpel in der Redaktion) der bei Vandenhoeck & Ruprecht verlegten Reihe Neue Sammlung: Göttinger Zeitschrift für Erziehung und Gesellschaft.58 Elisabeth Heimpel war u. a. als Herausgeberin mehrerer Korczak-Monographien in deutscher Übersetzung hervorgetreten.59 Unter dem Titel „Die Kinder an die Macht“ erschien von Hentigs Rezension im Nachrichtenmagazin Der Spiegel, in der er Korczaks Buch all jenen Erwachsenen empfahl, „die es mit einer nichtautoritären Erziehung ernst meinen“.60 Dass dieses Buch in Deutschland zu diesem Zeitpunkt erschien, wertete von Hentig auch als eine „Geste gegenüber dem neuen Vertragspartner“ Polen:61 Nur eine Woche vor Erscheinen der Rezension war der Warschauer Vertrag unterzeichnet worden.62
Im Folgejahr gelangte König Hänschen auf die Auswahlliste des Deutschen Jugendbuchpreises.63 Neben diesem Kinderbuch lag seit 1967 auch das „pädagogische Hauptwerk“64 Korczaks, die Tetralogie Wie man ein Kind lieben soll65 sowie seit 1970 Das Recht des Kindes auf Achtung66 in deutscher Übersetzung vor – beide Bände herausgegeben durch Elisabeth Heimpel. Diese erlebte selbst aufgrund ihres unerwartet plötzlichen Todes die Friedenspreisverleihung an Korczak nicht mehr mit; ein Verdienst am Bekanntwerden des Friedenspreiskandidaten wurde ihr erst viele Jahre später zugesprochen.67 Dass Korczak für den Börsenverein als Kandidat für die Friedenspreisverleihung in Frage kam, ist daher weniger überraschend als es die Rezeptionsgeschichte bis zu diesem Zeitpunkt vermuten ließ.
Die Auswahl einer Persönlichkeit, „die vornehmlich durch ihre Tätigkeit auf den Gebieten der Literatur, Wissenschaft und Kunst zur Verwirklichung des Friedensgedankens beigetragen“ hat,68 trifft bis heute der ehrenamtlich tätige Stiftungsrat. Im Fall von Korczak lässt sich die Auswahl dieses Kandidaten auf einen Vorschlag von Ernst Klett (1911–1998) zurückführen, der als Vorsteher im Börsenverein 1971 automatisch auch Vorsitzender des Stiftungsrates war.69 In dieser Funktion sah er sich konfrontiert mit einer seit Ende der 1960er verstärkt auftretenden öffentlichen Kritik am Konzept des Friedenspreises. Diese richtete sich sowohl gegen die Tradition der Verleihungsfeier, die vielfach als anachronistisch wahrgenommen wurde, als auch gegen die Auswahl einzelner Preisträger. Schließlich wurde grundsätzlich die Legitimation und Fachkompetenz des Börsenvereins angezweifelt, einen solchen Preis verleihen zu können.70 Auch der Stiftungsrat selbst griff die Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Preises auf.71
Vor diesem Hintergrund schlug Ernst Klett bei seiner ersten Stiftungsratssitzung am 1. Dezember 1971 eine Änderung des Statuts vor, die unter anderem ermöglichte, den Friedenspreis auch posthum verleihen zu können.72 Noch in der gleichen Sitzung schlug er persönlich Janusz Korczak als Kandidaten vor.73 Offenbar hatte er erwartet, mit diesem Vorschlag einen in der Öffentlichkeit unumstrittenen Kandidaten für den Friedenspreis gefunden zu haben.74 Datiert auf den 2. März 1972, verfasste der Verleger Hermann Herder-Dorneich (1926–2011)75 ein Votum für den neuen Friedenspreiskandidaten: Korczak, so betonte er, verkörpere den Aspekt der Erziehung zum Frieden insbesondere deshalb, weil er „für diesen Gedanken mit dem Leben eingetreten sei“; das gäbe „Persönlichkeit und Werk eine andere Dimension“.76 Herder-Dorneich sah Korczaks Werk demnach nicht „im Schatten seines tragischen und heroischen Todes“,77 wie es Mortkowicz formulierte, sondern deutete diese Todesumstände gerade als zentralen Aspekt für die Identitätskraft und die Glaubwürdigkeit seiner pädagogischen Ideen. Als Laudatoren schlug er u. a. Hartmut von Hentig vor, der schon 1967 einen Festvortrag in der Paulskirche gehalten hatte, damals unter dem Titel „Erziehung zum Frieden“.78 Nach der Zusage von Hentigs, die Laudatio für die Friedenspreisverleihung zu übernehmen, dankte ihm Klett ausdrücklich, da von Hentig, mit dem er persönlich befreundet war und von dem er bereits mehrere Bücher verlegt hatte,79 ihn erst auf die „Idee mit Korczak“ gebracht habe.80 Das Preisgeld – so der Vorschlag von Herder-Dorneich – sollte an ein Warschauer Waisenhaus gegeben werden, das die Tradition Korczaks aufrechterhalte.81
In einer am 19. Mai 1972 im Börsenblatt erschienenen Verlautbarung wurde betont, dass Korczak für die Erziehung zum Frieden ausgezeichnet werde, für die er mit seinem Leben eingetreten sei; damit wurde erneut das Werk Korczaks durch seinen Tod mit Bedeutung aufgeladen:
Er war nicht nur ein bedeutender Theoretiker der Friedenspädagogik, sondern er hat selbst, was er lehrte, in seinen Kinderbüchern beispielhaft verwirklicht. Er hat gelebt und ist gestorben mit den ihm anvertrauten Kindern, im Ghetto von Warschau, auf dem Todesgang in Treblinka.82
Der kurz darauf verfasste Spendenaufruf für den Friedenspreis an Korczak stieß bei den Mitgliedern des Börsenvereins allerdings auf ein geteiltes Echo. Die positiven Rückmeldungen betonten nicht nur das pädagogische Werk Korczaks, sondern auch den Aspekt der „Wiedergutmachung“83 im Hinblick auf die Ermordung Korczaks in der Shoah sowie die Bedeutung dieses Kandidaten für die deutsch-polnische Verständigung. Bei den vielfach kritischen Stimmen zur Wahl Korczaks reichte das Spektrum der Kritik von Holocaustleugnung84 bis hin zu jenen, die in der posthumen Verleihung ein Indiz für eine Rückwärtsgewandtheit des Börsenvereins sahen: „Man könnte sogar geneigt sein zu glauben, man wolle sich durch die Flucht in die Vergangenheit der Verantwortung für die Zukunft entziehen.“85 In der deutschen und internationalen Presse wurde vor allem in kleinen Mitteilungen über die Entscheidung des Stiftungsrates berichtet. Ein längerer Bericht in polnischer Sprache skizzierte das jedes Jahr wachsende Interesse am Leben und Werk Korczaks.86
Die eigentliche Kontroverse sollte sich jedoch nicht so sehr um die Auswahl des Kandidaten, sondern vielmehr um den Empfänger des Preisgeldes drehen, so dass der Sekretär der Stiftung, Werner Dodeshöner (1908–1989) im Rückblick 1973 resümierte, „dass es bei keinem Friedenspreis solchen Ärger im Nachhinein gegeben habe wie dieses Mal“.87 Der Streit sollte zu einer von vielen Projektionsflächen für die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus werden.88
Öffentlich sichtbare Akteure waren neben dem Börsenverein vor allem der Zentralrat der Juden in Deutschland, die Korczak-Komitees in Polen und Israel sowie die Kommentatoren der großen deutschen Tages- und Wochenpresse. Aus der überlieferten Korrespondenz wird deutlich, dass von den öffentlich sichtbaren Hauptakteuren zudem eine ganze Reihe weiterer Personen als Unterstützer oder Vermittler herangezogen wurden. Eine systematische Analyse erfordert daher ein Quellenkorpus, das dieses Kommunikationsnetzwerk adäquat abbildet. Da es sich bei den genannten Akteuren um nicht-staatliche Institutionen handelt, ist die Forschung vor allem auf private Archive angewiesen, die in ihrer Genese und Überlieferungsstruktur die Analyse von Erinnerungskulturen jedoch präformieren.
Im Friedenspreis-Archiv des Deutschen Buchhandels in Berlin befindet sich eine umfangreiche Korrespondenz sowie eine noch viel umfangreichere Presseausschnittsammlung, die 634 Artikel allein zur Preisverleihung 1972 umfasst.89 Die Protokolle des Stiftungsrates konnten wir aus Datenschutzgründen nicht seriell, sondern nur in Auszügen (z. B. zu den Beschlussfassungen zu Korczak) einsehen. Kritische Auseinandersetzungen und grundsätzliche Bedenken zur Auswahl Korczaks sind bei einem abschließenden Votum von acht Ja-Stimmen und einer Enthaltung unwahrscheinlich.90
Hatte der bereits prominente Pädagoge von Hentig den Impuls für die Wahl Korczaks gegeben, so wirkte der damals noch unbekannte, später in der Korczak-Forschung umso einflussreichere Gießener Erziehungswissenschaftler Erich Dauzenroth in dieser Kontroverse für die Öffentlichkeit zunächst weitgehend unsichtbar. Überliefert sind sein persönlicher Nachlass91 sowie eine von ihm selbst angelegte und kommentierte Dokumentation zur Korczak-Forschung („Journal“92), die das enge Wechselverhältnis von pädagogischer Korczak-Forschung und vielfältiger Erinnerungsarbeit verdeutlicht. So geht daraus u. a. hervor, dass Dauzenroth im Rahmen einer Polenreise im Hause des Vorsitzenden des polnischen Korczak-Komitees (Komitet Korczakowski) Stanisław Rogalski (1912–1996)93 zugegen war, als das Telegramm des Börsenvereins eintraf, in dem der Stiftungsratsbeschluss zur Friedenspreisverleihung an Korczak übermittelt wurde.94 Auf diese Weise frühzeitig involviert, trat er seinerseits mit dem Börsenverein in Kontakt. Durch seine vielfältigen Publikationen im Jahr 1972 sowohl im Börsenblatt95 als auch in pädagogischen Fachzeitschriften und den öffentlichen Medien96 trug er wesentlich zum Bekanntwerden des Friedenspreiskandidaten bei. Als Korczak-Experte stand er zunächst auch auf der geplanten Rednerliste für die Verleihungsfeier.97 Dauzenroth unterstützte den Börsenverein auch durch seinen freundschaftlichen Kontakt zu Rogalski,98 den er für den geeigneten Empfänger des Preisgeldes hielt.99
Das polnische Korczak-Komitee nahm die ihm angebotene Rolle binnen kurzer Zeit an und betonte zugleich den eigenen Anspruch, „das Erbe von Janusz Korczak“ zu verwalten100 – ein Anspruch, der allerdings selbst auf polnischer Seite nicht unwidersprochen blieb, denn der dem Korczak-Komitee übergeordnete Warschauer „Verein der Kinderfreunde“ (Towarzystwo Przyjaciół Dzieci) benannte eine offizielle Repräsentantin, die anstelle von Rogalski den Preis entgegennehmen sollte.101
Die Absicht, das Preisgeld nach Warschau zu vergeben, stieß gleichzeitig auf scharfen Widerspruch des Zentralrats der Juden in Deutschland,102 namentlich seines damaligen Generalsekretärs Hendrik George van Dam (1906–1973), den der amerikanische Journalist Leo Katcher (1911–1991) in seiner Analyse des Judentums im Nachkriegsdeutschland 1968 als „inoffizielle[n] Botschafter der Juden in Deutschland, sowohl gegenüber der Bundesregierung wie auch gegenüber den Juden in der Welt“ bezeichnete.103 Bereits in seinem ersten Schreiben vom 26. Mai 1972 verdeutlichte van Dam die zentralen Argumentationslinien des Zentralrats und die hiermit verbundene Erwartungshaltung an die Preisvergabe:
Janusz Korczak ist als der Leiter des jüdischen Waisenhauses im Warschauer Ghetto mit den von ihm betreuten Kindern in den Tod gegangen und ist damit zu einem Märtyrer des Judentums geworden. Wir dürfen erwarten und haben auch keinen Zweifel daran, dass in der Laudatio die Faktoren, die den Heroismus und die Menschlichkeit von Janusz Korczak in der letzten Periode seines Lebens bestimmt haben, zum Ausdruck kommen werden.104
Gegen die Preisvergabe nach Polen spräche, so van Dam, der erstarkte Antisemitismus, in dessen Folge nach 1967 über 10.000 polnische Juden ausgewandert seien, ein Großteil von ihnen nach Israel. Nach heutigem Forschungsstand waren es sogar die Hälfte der 30.000 noch in Polen lebenden Juden,105 unter ihnen auch ehemalige Mitglieder jenes Korczak-Komitees in Warschau, das das Preisgeld erhalten sollte.106 Van Dam sah seine Position im Einklang mit den Zielen Korczaks: „Unter diesen Umständen kann es unmöglich dem Willen Janusz Korczaks entsprechen, in der gegenwärtigen Situation einen ihm zuerkannten Preis an eine Institution in Polen zu geben.“107 Die zumindest vom Stiftungsrat als vertraulich empfundenen Schreiben zwischen van Dam und dem Stiftungsrat fanden ihren Niederschlag zunächst in einer kurzen Pressenotiz in der Frankfurter Neuen Presse, später auch im Jüdischen Presse-Dienst,108 womit auch die öffentliche Kontroverse um das Preisgeld eröffnet war,109 im Zuge derer weitere jüdische Institutionen die Position des Zentralrats unterstützten.110
Das israelische Korczak-Komitee schloss sich mit einer scharfen Protestnote der Argumentationslinie an: Da aktive Mitglieder wie der frühere Vorsitzende des polnischen Korczak-Komitees Michał Wróblewski (1911–1993)111 und die frühere Schriftführerin Ela Frydman112 aufgrund des dortigen Antisemitismus Polen hätten verlassen müssen, könne das polnische Korczak-Komitee nicht das geistige Erbe Korczaks vertreten. Außerdem weiche Korczaks Pädagogik stark von den kommunistischen Erziehungszielen ab. Hervorgehoben wurde vor allem Korczaks jüdische Identität: Er habe „als Jude in letzter Konsequenz mit seinen Schülern den Tod eines Helden“ gefunden.113 Zugleich reklamierten die Vertreter des israelischen Korczak-Komitees für sich die Deutungshoheit über Korczaks Erbe. Dabei wurde auf zwei erinnerungskulturell und -politisch relevanten Ebenen argumentiert, mit der Zeitzeug:innenschaft der meisten Mitglieder einerseits und dem in Israel initiierten öffentlichen Gedenken an Korczak andererseits.114 Für die Verwendung des Preisgeldes schlug man eine Korczak-Statue anlässlich des 30. Todestags vor115 – ein Ansinnen, das vom Börsenverein zunächst ebenso freundlich wie bestimmt abgelehnt wurde.116 Nachdem allerdings auch der israelische Verlegerverband über den Umweg des Direktors der Frankfurter Buchmesse den Stiftungsrat auf die starken, über das israelische Korczak-Komitee weit hinausgehenden Proteste in Israel hinwies, kam es zu einem Meinungsumschwung, der möglicherweise darauf hindeutet, dass auch wirtschaftliche Interessen auf dem Spiel standen.117 Erst zu diesem Zeitpunkt wurde eine weitere Spende für das israelische Korczak-Komitee in Erwägung gezogen, aber bis zur Verleihung nicht mehr realisiert.118
Der Generalsekretär des Stiftungsrates versuchte zunächst, der breiten medialen Rezeption des Konflikts in Deutschland mit Hilfe von informellen Netzwerken zu begegnen: Er wandte sich an den österreichisch-jüdischen Schriftsteller Jean Améry (1912–1978)119 und bat ihn, im Sinne des Stiftungsrats bei van Dam zu intervenieren.120 Im Stiftungsrat diskutierte man indessen die öffentlich geäußerte Kritik van Dams,121 die Verwendung des Preisgeldes sei nicht im „Sinne Korczaks“: „Gegen diese Behauptung spricht, daß die Jüdin Mers'an122 [sic] Mitglied des Vorstandes des Korczak Komitees ist“.123Dodeshöner vermerkte aber auch, dass diese als sogenannte „Altkommunistin“ eine besondere Stellung einnehme.124 Für diese These spräche – so eine erhaltene Telefonnotiz von Dodeshöner, die der biographischen Korczak-Forschung allerdings widerspricht –, dass im ersten von Korczak geleiteten Waisenhaus (Nasz Dom) keine jüdischen Kinder leben würden und das zweite (Dom Sierot) nicht mehr existiere.125
Aber auch unterstützende Reaktionen wurden im Archiv des Friedenspreises überliefert: Verschiedene deutsch-polnische Freundesgesellschaften sahen in der Ehrung des „Polen Janusz Korczak“ und der Entscheidung für das polnische Korczak-Komitee ein Indiz für die Völkerverständigung zwischen der Bundesrepublik und der Volksrepublik vor dem Hintergrund der neuen Ostpolitik.126 Erst in späteren Jahren sollte die Metapher des „Brückenbauers zwischen den Nationen“ explizit für Korczak stark gemacht,127 vielfältig in der Korczak-Forschung zitiert128 und erinnerungskulturell aufgeladen werden.129 Schlussendlich delegierte die polnische Regierung sowohl Alicja Szlązakowa (1911–2005) als Funktionärin des Warschauer „Vereins der Kinderfreunde“ als auch Stanisław Rogalski, worüber der Börsenverein erst drei Wochen vor der Preisverleihung informiert wurde.130
Anlässlich der Friedenspreisverleihung am 2. Oktober 1972 in der Paulskirche trafen zumindest einige der beschriebenen Akteure zusammen.131 In seiner Rede nahm Ernst Klett die Kontroversen der vorangegangenen Monate offensiv auf:
Janusz Korczak […] war Pole jüdischer Herkunft, Jude polnischer Nationalität. Als Deutsche dürfen wir, wenn wir dieses Mannes gedenken, solche Fakten nicht einen Augenblick vergessen. Gleichwohl haben wir nicht einen Polen, nicht einen Juden mit diesem Preis ausgezeichnet, sondern einen Menschen, eine außerordentliche, eine reine Gestalt, wie sie einem Jahrhundert nur selten geschenkt wird.132
Mit dieser Überhöhung Korczaks versuchte Klett dem Friedenspreis eine von den skizzierten (erinnerungs−)politischen Kontexten losgelöste Bedeutungsebene zuzuschreiben. Hartmut von Hentig hingegen führte in seiner Laudatio die Diskussion um die Preisvergabe an Korczak wieder ganz nah an dessen Werk heran, das Korczak schon zu Lebzeiten in Konflikte gebracht hätte:
Man hat dieser Preisverleihung vorgeworfen, sie sei zu bequem, zu opportun. Korczak: ein Pole, mit dessen Land wir in diesem Jahr ein neues Verhältnis suchen; ein Jude, an dem wir 30 Jahre danach immer noch wiedergutmachen wollen, was nicht gutzumachen ist; ein Sozialist, aber ein skeptischer und „individueller“; ein fortschrittlicher Erzieher, aber – gottlob – kein radikaler; und vor allem ein Toter, ein Märtyrer obendrein, vor dessen Todestat sich alle beugen und dem man nicht übelnehmen kann, daß er vor 30 Jahren nicht unsere Probleme im Sinne hatte. Nun, genau dies ist nicht bequem! Wie in seinem Leben, so gerät Korczak auch mit diesem Preis zwischen alle Fronten.133
Die eigentliche Preisübergabe gestaltete sich entsprechend als diplomatische Herausforderung: Ernst Klett überreichte die Urkunde an Stanisław Rogalski – der als Vorsitzender des Korczak-Komitees von Beginn an als Empfänger vorgesehen war – der sie wiederum an Alicja Szlązakowa weiterreichte, die als Vizepräsidentin des dem Komitee übergeordneten „Vereins der Kinderfreunde“ von polnischer Seite offiziell delegiert worden war.134
In einem anonym135 verfassten Artikel in der Wochenzeitschrift Die Zeit vom 6. Oktober 1972 wurde unter der Überschrift „Korczak und seine Sünder“ berichtet, Kletts Ansprache habe „die politische Ahnungslosigkeit einer Organisation erkennen“ lassen, „die sich anmaßt, einen internationalen Friedenspreis zu verleihen“.136 Tatsächlich konnte auch die Inszenierung der Preisverleihung nicht die Gegensätze zwischen dem Stiftungsrat des Börsenvereins und dem Zentralrat überwinden. Noch im November veröffentlichte van Dam unter dem Titel „Die unbequeme Wahrheit. Janusz Korczak und der Opportunismus“ eine weitere Kritik,137 die er mit dem Skandal um ein auf der Buchmesse ausgestelltes, die Waffen-SS verherrlichendes Buch verband, in dessen Folge der Sprecher des Messerates zurückgetreten war. Damit diente die Kontroverse um Korczak dem übergeordneten Bestreben, das Gedenken an die Shoah und den Nationalsozialismus politisch zu verankern und gegen den anhaltenden Antisemitismus innerhalb und außerhalb Deutschlands öffentlich Stellung zu beziehen.138 Sie kann somit in die von Tobias Freimüller (geb. 1973) für die 1970er Jahre konstatierte Phase der Politisierung der NS-Vergangenheit im öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik eingeordnet werden, die mit der Ausstrahlung des amerikanischen TV-Mehrteilers Holocaust in eine Zäsur mündete.139
Mit den zunehmenden internationalen Spannungen geriet der Stiftungsrat in die Defensive und nahm nun offizielle diplomatische Kommunikationskanäle in Anspruch, so den damaligen Kulturreferenten in der Deutschen Botschaft in Israel, Jürgen Sudhoff (geb. 1935).140 Letztendlich scheiterte der Versuch eines Interessenausgleichs: Eine in Erwägung gezogene zusätzliche Preisvergabe an das israelische Korczak-Komitee lehnte der Börsenverein ab.141 Dieser Eklat fand erneut erheblichen Widerhall in der deutschen und internationalen Presse. Die Frankfurter Rundschau titelte: „Börsenverein immer noch in der Klemme wegen Spende an Korczak-Komitee“. Der für diesen Beitrag interviewte Generalsekretär des israelischen Korczak-Komitees bezeichnete die geplante Spende als „Trostpreis“.142
Trotz oder vielleicht gerade wegen dieser massiven, medial verbreiteten Kritik am Friedenspreis, die es zehn Jahre später sogar als eigene Rubrik in eine Korczak-Bibliographie schaffte,143 gab die Preisverleihung der pädagogischen Korczak-Forschung in Deutschland144 Rückenwind: Ein Besuch Rogalskis bei Dauzenroth in Gießen, unmittelbar im Anschluss an die Preisverleihung, festigte die Kontakte zum Warschauer Korczak-Komitee und ebnete den Weg für die Durchführung eines ersten internationalen Korczak-Symposiums 1973 in Gießen,145 bei dem sowohl Rogalski als auch Szlązakowa teilnahmen. Ein dort aufgeführtes „Feature“ nahm ganz explizit Bezug auf die Bedeutung der Friedenspreisverleihung für die Auseinandersetzung mit Janusz Korczak im deutschen Sprachraum. Es beginnt mit den Worten des ersten Sprechers: „1. Oktober 1972. Frankfurt/Main, Paulskirche. Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für das Jahr 1972 wird posthum an Janusz Korczak verliehen. Wer war Janusz Korczak?“146 Dass die Korczak-Forschung auch in ganz praktischer Hinsicht von der Friedenspreisverleihung profitierte, verrät ein abschließender Hinweis im Sammelband des Korczak-Symposiums auf die von Ursula Assmus im Börsenblatt 1972 veröffentlichte Bibliographie Korczaks.147
Interessanterweise erhielt auch die Korczak-Forschung in der DDR wesentliche Impulse im Umfeld der Friedenspreisverleihung. Die Germanistin Barbara Engemann-Reinhardt (1940–2019), die zu den Gründungsmitgliedern der seit 1980 bestehenden „Forschungsgemeinschaft Janusz Korczak bei der Kommission für Erziehungs- und Schulgeschichte der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR“ zählte, erinnerte sich an die Anfänge ihrer Beschäftigung mit Korczak: Als Mitarbeiterin des DDR-Schulbuchverlags Volk und Wissen hatte sie Zugang zum westdeutschen Börsenblatt und konnte auf diese Weise „die glänzende Laudatio von Hartmut von Hentig lesen, die er 1972 anlässlich der posthumen Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Janusz Korczak gehalten hatte“.148
Im Gegensatz zu von Hentig, der in späteren Jahren nicht mehr zu Korczak arbeitete, obgleich er die Auseinandersetzung mit dessen Werk eindrucksvoll in seinen Erinnerungen schilderte,149 trug Dauzenroth maßgeblich zur akademischen Institutionalisierung der Korczak-Forschung in den 1970er bis 1990er Jahren bei: Seit 1964 an der Justus-Liebig-Universität in Gießen zunächst als Studienrat im Hochschuldienst, später als Professor für Erziehungswissenschaft am Institut für Bildungsforschung und Pädagogik des Auslands150 tätig, bot er von 1969 bis zu seiner Emeritierung 1996 Lehrveranstaltungen zu verschiedenen Aspekten der Korczak-Forschung an, darunter auch Exkursionsseminare nach Polen sowie Seminare, die er gemeinsam mit einem Zeitzeugen Korczaks abhielt.151 Zu diesem ersten Stützpunkt bundesrepublikanischer Korczak-Forschung trat seit den frühen 1980er Jahren eine zweite „Korczak-Forschungsstelle“ an der Gesamthochschule Wuppertal, geleitet von dem Professor für Erziehungswissenschaft Friedhelm Beiner (geb. 1939). Dauzenroth und Beiner betreuten die ersten Korczak betreffenden Dissertationsprojekte;152 in Wuppertal entstand 2004 eine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Habilitationsschrift.153 Unter den Themen von Seminaren, Vorlesungen, Qualifikationsarbeiten und Publikationen der 1970er/1980er Jahre hatten insbesondere Vergleiche der Pädagogik Korczaks mit etablierten Pädagogen oder Philosophen Konjunktur, wie etwa Martin Buber (1878–1965)154 oder Johann Heinrich Pestalozzi. Bereits ein 1963 veröffentlichter Aufsatz trug den Titel „Janusz Korczak – Polens Pestalozzi“,155 ein Vergleich der, wie bereits in der Einleitung dieses Beitrags angedeutet, zahlreiche Nachahmer finden sollte.156
Solche Versuche einer Kanonisierung waren bislang allerdings nicht erfolgreich. Korczak fand weder in die von Hans Scheuerl (1919–2004) noch in die von Heinz-Elmar Tenorth (geb. 1944) oder Bernd Dollinger (geb. 1973) getroffene Auswahl sogenannter „Klassiker“ Eingang.157 Anhand der von den jeweiligen Autoren unternommenen Charakterisierungsversuche von „Klassikern der Pädagogik“ können Differenzen zu Korczak abgeleitet werden. So ließe sich z. B. die lange in deutscher Sprache fehlende geschlossene Werkausgabe158 als Rezeptionshindernis anführen oder aber die Korczak häufig zugesprochene Rolle als „Praktiker“, deren Sichtbarkeit in der Wissenschaft grundsätzlich erschwert sei.159
Seit 2010 liegen Janusz Korczaks Sämtliche Werke in 16 Bänden sowie zwei Ergänzungsbänden vor und Korczaks Werk wurde in der von Horn und Ritzi unternommenen, kontrovers diskutierten Studie zu den „pädagogisch wichtigsten Veröffentlichungen“ des 20. Jahrhunderts ein Platz eingeräumt.160 In jüngster Vergangenheit wurde die Pädagogik Korczaks sogar als Unterrichtsgegenstand für die Gymnasiale Oberstufe entdeckt.161
Schon viel früher und sehr erfolgreich strahlte die pädagogische Forschung auf die öffentliche Gedenkkultur zu Korczak aus. Sie wurde ganz wesentlich gefördert durch die seit 1977 existierende Deutsche Korczak-Gesellschaft, die nach dem Mauerfall mit der Forschungsgemeinschaft Janusz Korczak in der DDR fusionierte. Die erwähnten Pädagogen und Korczak-Forscher Dauzenroth und Beiner prägten die Gesellschaft maßgeblich, obwohl die Mitgliederstruktur keineswegs auf das akademische Milieu der Pädagogik beschränkt blieb.162 Vertreter:innen aus Ost und West zählten zu den Gründungsmitgliedern der Internationalen Korczak-Gesellschaft, deren Arbeit seit 1978 wesentliche Impulse durch Zeitzeug:innen Korczaks (ehemalige Heimkinder, Mitarbeiter:innen aus den Kinderheimen Dom Sierot und Nasz Dom oder andere Weggefährt:innen Korczaks) erhielt und mithilfe des Bulletin of the Janusz Korczak International Association international verbreitete.163 Wie die im Kontext der Friedenspreisverleihung zu Tage getretenen Spannungen in Bezug auf die Deutungshoheit über Korczak innerhalb der internationalen Netzwerke überwunden wurden, bleibt bislang ein Forschungsdesiderat.
Deutschlandweit sind seit Mitte der 1970er Jahre über 80 Institutionen nach Janusz Korczak benannt worden, die sich vor allem der Pädagogik Korczaks, aber auch der jüdischen Kulturbildung und dem interreligiösen Dialog verpflichtet fühlen.164 Ob sich die Tatsache, dass sich auffallend viele dieser „Korczak-Institutionen“ in Nordrhein-Westfalen und Hessen befinden, als lokaler Reflex der prominenten Korczak-Forschungsstellen in Wuppertal und Gießen deuten lässt, muss zukünftig noch überprüft werden.165 Des Weiteren finden sich nach Korczak benannte Straßen und Plätze,166 Denkmäler und Preise.167 Wichtige Multiplikatoren der öffentlichen Wahrnehmung Korczaks in Deutschland waren vielfältige szenische Darstellungen, angefangen von der Premiere von Erwin Sylvanus’ Theaterstück Korczak und die Kinder im Jahr 1957168 bis hin zu den populären drei Korczak-Filmen aus den Jahren 1974–1990.169 Jenseits der pädagogischen Forschung hat Korczak also – anders als Aleida Assmann in ihren Ausführungen zu den Wirkungen des Friedenspreises als „Erinnerungsimpuls“ annahm – sehr wohl eine dauerhafte „lokale Verankerung in der regionalen und nationalen Gedächtnislandschaft“170 erfahren. Assmann hatte ausgerechnet Korczak als ein Beispiel für eine wenig nachhaltige öffentliche Resonanz angeführt.
Innerhalb der skizzierten Debatte lassen sich vor allem drei miteinander konkurrierende Zuschreibungen und Vereinnahmungen Korczaks nachvollziehen: Sie betreffen Korczaks polnische und jüdische Identität und das damit verbundene Erinnern als Märtyrer sowie seine Bedeutung als (Friedens−)Pädagoge. Der Börsenverein hatte Korczak – nicht unwesentlich beeinflusst von persönlichen Netzwerken – auf der Suche nach einem vermeintlich unstrittigen Kandidaten für sich entdeckt. Er sollte vor dem Hintergrund anhaltender Proteste die Legitimation des Börsenvereins – einer kommerziellen Interessen entsprungenen Vereinigung – stabilisieren, einen Friedenspreis zu verleihen. Korczak bot aufgrund seiner Biographie und seines pädagogischen Werks leicht vermittelbare Bezugspunkte zum erinnerungspolitischen Programm einer Friedensstiftung. Bemerkenswert ist, dass es dem Stiftungsrat des Börsenvereins gelang, in seinem weitverzweigten Netzwerk unter deutschsprachigen Schriftstellern unterstützende Stimmen zu finden, die, trotz eigener Verfolgungs- und Exilerfahrung, für einen Ausgleich zwischen der – wohl nicht nur aus heutiger Sicht171 – politisch naiven Vorgehensweise des Stiftungsrates im Umgang mit der Frage des Preisgeldes und dem Protest des Zentralrats eintraten. Der Zentralrat der Juden in Deutschland hatte sich nach seiner Gründung 1951 zunehmend auf die Bühne der Öffentlichkeit gewagt. Er sah sich nicht nur den Interessen der jüdischen Nachkriegsgemeinden in Deutschland verpflichtet, sondern beanspruchte auch die Deutungshoheit über das Gedenken an die Shoah. Vor dem Hintergrund antisemitischer Kampagnen in Polen zu dieser Zeit war der Protest gegen die Vergabe des Preisgeldes an das Warschauer Korczak-Komitee vor allem eine politische Auseinandersetzung über den Umgang mit Antisemitismus in der Bundesrepublik.172
Beiden Institutionen diente das Gedenken an Korczak vor allem als Folie, vor der ein dissonanter Umgang mit dem Holocaustgedenken und dem zeitgenössischen Antisemitismus aus polnischer, israelischer und deutscher Sicht virulent wurde. In dieser Auseinandersetzung gerieten die eigentliche Begründung für den Preis, Korczaks Eintreten „für das Kind und seine Rechte“, sowie seine Werke, die einer „ungerechten, unglücklichen, friedlosen und doch zu mehr Gerechtigkeit, Glück und Frieden fähigen Welt“ antworten,173 in den Hintergrund zugunsten einer stärkeren Betonung seines Märtyrertods.
Nur für die Korczak-Komitees in Polen und Israel besaß Korczak tatsächlich identitätsstiftenden Charakter, nicht zuletzt wegen der Zeitzeugenschaft vieler ihrer Mitglieder. Ihre Konkurrenz leiteten sie vor allem aus der Verfolgungserfahrung der vertriebenen polnischen Mitglieder ab. Schließlich lassen sich auch die Vertreter:innen einer frühen pädagogischen Korczak-Forschung als Erinnerungsakteure mit spezifischen Interessen im Sinne einer akademischen Profilbildung und zunehmenden Institutionalisierung ihrer Forschung identifizieren.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels den Beginn eines zunehmend öffentlichen Erinnerungsprozesses an Janusz Korczak in Deutschland darstellt, der bis heute mit vielfältigen Indienstnahmen Korczaks einhergeht. Die posthume Verleihung des Friedenspreises an Korczak markiert zugleich den Beginn des Übergangs vom kommunikativen in das kulturelle Gedächtnis, ein Prozess, der erst kürzlich mit dem Tod des sogenannten „Last Korczak Boy“174 zum Abschluss kam. Die nach 1972 verstärkt einsetzende Korczak-Rezeption allein der posthumen Friedenspreisverleihung zuzuschreiben, wäre sicherlich vermessen. Der hier analysierte öffentliche Diskurs und die aufgezeigten Impulse für die wissenschaftliche Auseinandersetzung verdeutlichen jedoch die katalytische Wirkung dieses Ereignisses. Eine solche erinnerungskulturelle Fokussierung erschließt somit zugleich neue Perspektiven auch für die Wissens- und Disziplinengeschichte, die, wie Rieger-Ladich explizit für die Erziehungswissenschaften einfordert, „Netzwerke und Kollektive“ einbezieht, „die an der Konstituierung des Feldes beteiligt sind“ und die „die Entstehungsbedingungen erziehungswissenschaftlichen Wissens nicht nur in der eigenen Disziplin“ sucht.175
期刊介绍:
Die Geschichte der Wissenschaften ist in erster Linie eine Geschichte der Ideen und Entdeckungen, oft genug aber auch der Moden, Irrtümer und Missverständnisse. Sie hängt eng mit der Entwicklung kultureller und zivilisatorischer Leistungen zusammen und bleibt von der politischen Geschichte keineswegs unberührt.