{"title":"Die Besten für die Schulen!","authors":"Prof. Dr. Stefanie Dehnen","doi":"10.1002/ckon.202400011","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"<p>Es entspricht der menschlichen Natur, dass Wissen und Fertigkeiten in jungen Jahren unterbewusst, selbstverständlich und mühelos erworben und erlernt werden. Das gilt für die Motorik ebenso wie für den Spracherwerb oder künstlerische Fähigkeiten. Allerdings nicht nur: Auch das Verständnis für Mathematik oder naturwissenschaftliche Zusammenhänge lässt sich besser schulen, wenn die Grundsteine dafür früh gelegt werden.</p><p>Für die meisten Fächer, die ein Kind im Laufe der Schulzeit im Curriculum vorfindet, wird auch nach genau dem Prinzip „je früher desto besser“ verfahren. Seit einigen Jahrzehnten versucht man sich hierbei auch am Fremdsprachenerwerb. Der diesbezügliche Erfolg hängt sehr von der Motivation und der individuellen Kompetenz der jeweiligen Lehrkraft ab, kann aber tatsächlich zu einem guten ersten Eindruck einer Fremdsprache führen. Anders verhält es sich allerdings bei den Naturwissenschaften. Hier ist man in Bezug auf jene Disziplinen noch immer sehr zurückhaltend: Die Angebote in den zumeist als Sachunterricht bezeichneten Schulstunden sind vielfältig, aber sie streifen bezüglich des „INT“-Teils der MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik) selten mehr als erste Einblicke in biologische Themen zu Menschen, Tier- und Pflanzenwelt sowie einige grundlegende Aspekte zur Physik – etwa das Zusammenstecken eines einfachen Stromkreises zum Betreiben einer Glühbirne oder die Bekanntschaft mit dem Sonnensystem.</p><p>Es ist kaum zu erwarten, dass ein Kind nach dieser Vorbereitung in den ersten vier Schuljahren Inhalte der Naturwissenschaften als selbstverständliches Wissen auffasst. Das gilt weniger für die Biologie, weil hier der Faden in den weiterführenden Schulen schnell aufgenommen und weitergesponnen wird. Zur Physik kommt man immerhin nach kurzer Pause mit einigen Wochenstunden zurück. Besonders dramatisch ist die Situation hingegen im Fach Chemie: Diese so wichtige, grundlegende und vernetzende Naturwissenschaft wird in aller Regel in der Grundschule vollkommen ausgespart und in weiterführenden Schulen nicht vor der 8. oder 9. Klasse eingeführt. Zu diesem Zeitpunkt stecken die Schüler:innen zumeist mitten in der Pubertät und sind an neuen Fächern, die sie mit vollkommen Unbekanntem konfrontieren, nicht nur häufig wenig interessiert, sondern zu diesem Zeitpunkt schlicht mental und emotional überfordert.</p><p>Die Folgen sind eine geringe Beliebtheit unseres Fachs und ein geringes Interesse an der Fortsetzung des Wissenserwerbs in Form einer einschlägigen Ausbildung oder eines Studiums. Kinder, die diese allgemein anerkannte Abneigung nicht teilen, gelten schnell als Sonderlinge. Absolvent:innen, die nach diesem nicht ungewöhnlichen Schulverlauf in den Grundschuldienst eintreten, sind also oft weder in der Lage noch haben sie den Mut, über chemische Themen zu reden – was den Teufelskreis in Gang setzt.</p><p>Nach meiner Ansicht muss man diesen <i>Circulus vitiosus</i> endlich durchbrechen, indem man frühzeitig und kontinuierlich Chemieunterricht in den Stundenplan aufnimmt – in der Grundschule im Rahmen des Sachunterrichts und in weiterführenden Schulen von Anfang an. Dazu gehört insbesondere auch das frühe eigene Experimentieren, damit einerseits die Angst vor allem, was auch nur entfernt mit Chemie zu tun hat, verschwindet, und zugleich Respekt, Sorgfalt und Routine im Umgang mit chemischen Stoffen erlernt werden kann. Ein rein theoretischer oder nur von den Lehrkräften mit Experimenten untermalter Chemieunterricht, wie er durch immer strengere Auflagen und finanzielle Kürzungen nach und nach zur Norm zu werden droht, ist nicht nur unanschaulich – er ist zudem fachlich unrealistisch und büßt die unserem Fach ureigene Faszination „hands-on“ erlebbarer Stoffänderungen ein. Natürlich funktioniert dies nur begleitet von gut ausgebildeten Lehrkräften und zeitgemäßen, didaktisch hochwertigen Lehrbüchern. Lobenswerte Spezialangebote (etwa das Hector-Seminar in Baden-Württemberg) und Kooperationen von (Pädagogischen) Hochschulen mit Schulen sind großartig, können aber eine solide Basisausbildung für die breite Schülerschaft nicht ersetzen.</p><p>Um das alles zu gewährleisten, muss ein noch größeres Augenmerk auf ein solides und qualitätvolles Lehramtsstudium gelegt werden, dem eine ausreichende Zahl qualifizierter Lehrkräfte entspringt. Obgleich selbst Quereinsteiger gute und engagierte Tätigkeiten an den Schulen ausüben, müssen fachlich, fachdidaktisch und pädagogisch sehr gut akademisch ausgebildete und reflektiert agierende Lehrkräfte das unbedingte Ziel der Lehramtsausbildung an den Hochschulen sein.</p><p>Wenn es gelingt, Schülerinnen und Schüler frühzeitig und nachhaltig für Chemie als Schulfach und als Wissenschaft zu begeistern, und wenn die Hochschulen die Attraktivität der Studiengänge für das Lehramt steigern, sollte es gelingen, die besten Abiturient:innen für diese Studiengänge zu gewinnen, womit sich der (gute) Kreis schließen würde!</p><p>Hier ist besonders die Landepolitik gefragt, entsprechende Änderungen in den Stundentafeln vorzunehmen, neue Möglichkeiten für den Experimentalunterricht zu schaffen und mehr Geld und Phantasie in die Lehramtsstudiengänge zu investieren. Konzepte zur erfolgreichen Vermittlung chemischen Wissens an Grundschulkinder gibt es bereits – siehe die zahlreichen Beispiele in Science-Centern in unserem Land und weltweit, deren Aufgabe es aber nicht sein kann, über außerschulische Lernorte die Defizite an den Schulen auszugleichen.</p><p>Mein Appell wendet sich daher an die Kultusministerien der Länder, diese wichtigen Aspekte aufzugreifen und mit Hochschullehrer:innen, Studierenden, Lehrer:innen, Eltern und auch den Schüler:innen nach Lösungen zu suchen!</p><p>Da – wie eingangs geschrieben – der Begriff „Chemie“ bei vielen allenfalls schlechte Erinnerungen an die Schulzeit weckt oder eine unbestimmte Angst vor Umweltkatastrophen schürt, ist den meisten Menschen nicht bewusst, wie sehr wir von chemischem Fachwissen sondern abhängig sind: Nicht nur die Aufrechterhaltung unseres Lebensstandards, inklusive einer lebenswerten Umwelt und der medizinischen Versorgung, sondern auch eine erfolgreiche Reaktion auf die Auswirkungen des Klimawandels ist unmittelbar auf die Kompetenz und das Fachwissen von Chemiker:innen angewiesen. Nur diese Personen wissen oder finden heraus, wie man umweltverträglichere Kraftstoffe erzeugen, ressourcenschonende Syntheseprozesse realisieren oder schädliche Substanzen durch innovative Alternativen ersetzen kann. Gut ausgebildete Chemiker:innen und gut ausgebildete Fachkräfte in ausreichender Zahl sind für die Zukunft in unserem Land und in aller Welt daher unerlässlich!</p><p>Stefanie Dehnen ist seit 2022 geschäftsführende Direktorin des Instituts für Nanotechnologie und Professorin für Anorganische Chemie am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Ihre aktuellen Forschungsinteressen adressieren die Synthese und experimentelle sowie quantenchemische Untersuchung von Verbindungen mit multinären, speziell multimetallischen, molekularen Nanoarchitekturen und deren Potenzial als innovative Katalysatoren, Weißlicht-Emitter oder Batteriematerialien. Seit Januar 2024 ist Stefanie Dehnen Präsidentin der GDCh.</p>","PeriodicalId":43673,"journal":{"name":"ChemKon","volume":"31 3","pages":"81"},"PeriodicalIF":0.4000,"publicationDate":"2024-04-05","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"https://onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.1002/ckon.202400011","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"ChemKon","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/ckon.202400011","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"Q4","JCRName":"EDUCATION, SCIENTIFIC DISCIPLINES","Score":null,"Total":0}
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Abstract
Es entspricht der menschlichen Natur, dass Wissen und Fertigkeiten in jungen Jahren unterbewusst, selbstverständlich und mühelos erworben und erlernt werden. Das gilt für die Motorik ebenso wie für den Spracherwerb oder künstlerische Fähigkeiten. Allerdings nicht nur: Auch das Verständnis für Mathematik oder naturwissenschaftliche Zusammenhänge lässt sich besser schulen, wenn die Grundsteine dafür früh gelegt werden.
Für die meisten Fächer, die ein Kind im Laufe der Schulzeit im Curriculum vorfindet, wird auch nach genau dem Prinzip „je früher desto besser“ verfahren. Seit einigen Jahrzehnten versucht man sich hierbei auch am Fremdsprachenerwerb. Der diesbezügliche Erfolg hängt sehr von der Motivation und der individuellen Kompetenz der jeweiligen Lehrkraft ab, kann aber tatsächlich zu einem guten ersten Eindruck einer Fremdsprache führen. Anders verhält es sich allerdings bei den Naturwissenschaften. Hier ist man in Bezug auf jene Disziplinen noch immer sehr zurückhaltend: Die Angebote in den zumeist als Sachunterricht bezeichneten Schulstunden sind vielfältig, aber sie streifen bezüglich des „INT“-Teils der MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik) selten mehr als erste Einblicke in biologische Themen zu Menschen, Tier- und Pflanzenwelt sowie einige grundlegende Aspekte zur Physik – etwa das Zusammenstecken eines einfachen Stromkreises zum Betreiben einer Glühbirne oder die Bekanntschaft mit dem Sonnensystem.
Es ist kaum zu erwarten, dass ein Kind nach dieser Vorbereitung in den ersten vier Schuljahren Inhalte der Naturwissenschaften als selbstverständliches Wissen auffasst. Das gilt weniger für die Biologie, weil hier der Faden in den weiterführenden Schulen schnell aufgenommen und weitergesponnen wird. Zur Physik kommt man immerhin nach kurzer Pause mit einigen Wochenstunden zurück. Besonders dramatisch ist die Situation hingegen im Fach Chemie: Diese so wichtige, grundlegende und vernetzende Naturwissenschaft wird in aller Regel in der Grundschule vollkommen ausgespart und in weiterführenden Schulen nicht vor der 8. oder 9. Klasse eingeführt. Zu diesem Zeitpunkt stecken die Schüler:innen zumeist mitten in der Pubertät und sind an neuen Fächern, die sie mit vollkommen Unbekanntem konfrontieren, nicht nur häufig wenig interessiert, sondern zu diesem Zeitpunkt schlicht mental und emotional überfordert.
Die Folgen sind eine geringe Beliebtheit unseres Fachs und ein geringes Interesse an der Fortsetzung des Wissenserwerbs in Form einer einschlägigen Ausbildung oder eines Studiums. Kinder, die diese allgemein anerkannte Abneigung nicht teilen, gelten schnell als Sonderlinge. Absolvent:innen, die nach diesem nicht ungewöhnlichen Schulverlauf in den Grundschuldienst eintreten, sind also oft weder in der Lage noch haben sie den Mut, über chemische Themen zu reden – was den Teufelskreis in Gang setzt.
Nach meiner Ansicht muss man diesen Circulus vitiosus endlich durchbrechen, indem man frühzeitig und kontinuierlich Chemieunterricht in den Stundenplan aufnimmt – in der Grundschule im Rahmen des Sachunterrichts und in weiterführenden Schulen von Anfang an. Dazu gehört insbesondere auch das frühe eigene Experimentieren, damit einerseits die Angst vor allem, was auch nur entfernt mit Chemie zu tun hat, verschwindet, und zugleich Respekt, Sorgfalt und Routine im Umgang mit chemischen Stoffen erlernt werden kann. Ein rein theoretischer oder nur von den Lehrkräften mit Experimenten untermalter Chemieunterricht, wie er durch immer strengere Auflagen und finanzielle Kürzungen nach und nach zur Norm zu werden droht, ist nicht nur unanschaulich – er ist zudem fachlich unrealistisch und büßt die unserem Fach ureigene Faszination „hands-on“ erlebbarer Stoffänderungen ein. Natürlich funktioniert dies nur begleitet von gut ausgebildeten Lehrkräften und zeitgemäßen, didaktisch hochwertigen Lehrbüchern. Lobenswerte Spezialangebote (etwa das Hector-Seminar in Baden-Württemberg) und Kooperationen von (Pädagogischen) Hochschulen mit Schulen sind großartig, können aber eine solide Basisausbildung für die breite Schülerschaft nicht ersetzen.
Um das alles zu gewährleisten, muss ein noch größeres Augenmerk auf ein solides und qualitätvolles Lehramtsstudium gelegt werden, dem eine ausreichende Zahl qualifizierter Lehrkräfte entspringt. Obgleich selbst Quereinsteiger gute und engagierte Tätigkeiten an den Schulen ausüben, müssen fachlich, fachdidaktisch und pädagogisch sehr gut akademisch ausgebildete und reflektiert agierende Lehrkräfte das unbedingte Ziel der Lehramtsausbildung an den Hochschulen sein.
Wenn es gelingt, Schülerinnen und Schüler frühzeitig und nachhaltig für Chemie als Schulfach und als Wissenschaft zu begeistern, und wenn die Hochschulen die Attraktivität der Studiengänge für das Lehramt steigern, sollte es gelingen, die besten Abiturient:innen für diese Studiengänge zu gewinnen, womit sich der (gute) Kreis schließen würde!
Hier ist besonders die Landepolitik gefragt, entsprechende Änderungen in den Stundentafeln vorzunehmen, neue Möglichkeiten für den Experimentalunterricht zu schaffen und mehr Geld und Phantasie in die Lehramtsstudiengänge zu investieren. Konzepte zur erfolgreichen Vermittlung chemischen Wissens an Grundschulkinder gibt es bereits – siehe die zahlreichen Beispiele in Science-Centern in unserem Land und weltweit, deren Aufgabe es aber nicht sein kann, über außerschulische Lernorte die Defizite an den Schulen auszugleichen.
Mein Appell wendet sich daher an die Kultusministerien der Länder, diese wichtigen Aspekte aufzugreifen und mit Hochschullehrer:innen, Studierenden, Lehrer:innen, Eltern und auch den Schüler:innen nach Lösungen zu suchen!
Da – wie eingangs geschrieben – der Begriff „Chemie“ bei vielen allenfalls schlechte Erinnerungen an die Schulzeit weckt oder eine unbestimmte Angst vor Umweltkatastrophen schürt, ist den meisten Menschen nicht bewusst, wie sehr wir von chemischem Fachwissen sondern abhängig sind: Nicht nur die Aufrechterhaltung unseres Lebensstandards, inklusive einer lebenswerten Umwelt und der medizinischen Versorgung, sondern auch eine erfolgreiche Reaktion auf die Auswirkungen des Klimawandels ist unmittelbar auf die Kompetenz und das Fachwissen von Chemiker:innen angewiesen. Nur diese Personen wissen oder finden heraus, wie man umweltverträglichere Kraftstoffe erzeugen, ressourcenschonende Syntheseprozesse realisieren oder schädliche Substanzen durch innovative Alternativen ersetzen kann. Gut ausgebildete Chemiker:innen und gut ausgebildete Fachkräfte in ausreichender Zahl sind für die Zukunft in unserem Land und in aller Welt daher unerlässlich!
Stefanie Dehnen ist seit 2022 geschäftsführende Direktorin des Instituts für Nanotechnologie und Professorin für Anorganische Chemie am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Ihre aktuellen Forschungsinteressen adressieren die Synthese und experimentelle sowie quantenchemische Untersuchung von Verbindungen mit multinären, speziell multimetallischen, molekularen Nanoarchitekturen und deren Potenzial als innovative Katalysatoren, Weißlicht-Emitter oder Batteriematerialien. Seit Januar 2024 ist Stefanie Dehnen Präsidentin der GDCh.