{"title":"Zur Aushandlung von Wahrheit – Transitional Justice und Bildungspolitik in Guatemala","authors":"J. Kirchheimer","doi":"10.5771/9783845298597-161","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"1996 wurde nach Jahren der Verhandlungen zwischen dem guatemaltekischen Staat und der Guerillaorganisation Unidad Revolucionaria Nacional Guatemalteca (URNG), einer der längsten und blutigsten bewaffneten Konflikte des Kalten Krieges beendet. Seither stellen der guatemaltekische Friedensprozess und die Wahrheitskommission (Comisión de Esclarecimiento Histórico, CEH) eine wichtige Referenz für eine Reihe akademischer Debatten dar. Das liegt einerseits an der Rolle Zentralamerikas als Laboratorium für internationale Politiken der Konflikttransformation (Brett 2013; Kurtenbach 2007). Andererseits repräsentierte die CEH einen bis dato neuen Typus institutionalisierter Aufklärung. Statt einer Reihe von Vergehen isoliert zu betrachten, versuchte die Kommission, Massenverbrechen in ihrem historischen und institutionellem Zusammenhang zu erklären (Grandin 2012). Viel seltener wird allerdings über einen dritten Aspekt des Friedensprozesses berichtet, der gerade im Hinblick auf Debatten über die gesellschaftliche und politische Wirkung von Wahrheitskommissionen nicht weniger interessant ist: die Bildungsreform und insbesondere die Revision des Curriculums, die sowohl in den Friedensverträgen von 1996 als auch in den Empfehlungen der CEH von 1999 verankert wurden. Diese Auslassung ist durchaus überraschend: Schließlich werden Wahrheitskommissionen häufig damit legitimiert, dass die offizielle Anerkennung von Verbrechen, Tätern und Opfern, einen gewissermaßen pädagogischen Effekt habe (Mendeloff 2011: 358). So argumentierte Hayner (1994: 607), dass Wahrheitskommissionen einen gesellschaftlichen Lernprozess anstoßen könnten, der die Wiederholung von Verbrechen unwahrscheinlicher mache und Geschichtsrevisionismus unterbinde. Ignatieff (1995: 113), beschreibt Wahrheitskommissionen als ein Mittel, Vergangenheitsdiskurse einzuhegen, indem die Anzahl lässlicher Lügen (permissible lies) reduziert werde. Gerade im lateinamerikanischen Kontext sind solche Argumente plausibel, da Geheimhaltung oftmals selbst zu einem strategischen Element staatlicher Gewaltausübung wurde (Oettler 2008: 86). 1.","PeriodicalId":301681,"journal":{"name":"Gewalt und Konfliktbearbeitung in Lateinamerika","volume":"43 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"1900-01-01","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Gewalt und Konfliktbearbeitung in Lateinamerika","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.5771/9783845298597-161","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"","JCRName":"","Score":null,"Total":0}
引用次数: 0
Abstract
1996 wurde nach Jahren der Verhandlungen zwischen dem guatemaltekischen Staat und der Guerillaorganisation Unidad Revolucionaria Nacional Guatemalteca (URNG), einer der längsten und blutigsten bewaffneten Konflikte des Kalten Krieges beendet. Seither stellen der guatemaltekische Friedensprozess und die Wahrheitskommission (Comisión de Esclarecimiento Histórico, CEH) eine wichtige Referenz für eine Reihe akademischer Debatten dar. Das liegt einerseits an der Rolle Zentralamerikas als Laboratorium für internationale Politiken der Konflikttransformation (Brett 2013; Kurtenbach 2007). Andererseits repräsentierte die CEH einen bis dato neuen Typus institutionalisierter Aufklärung. Statt einer Reihe von Vergehen isoliert zu betrachten, versuchte die Kommission, Massenverbrechen in ihrem historischen und institutionellem Zusammenhang zu erklären (Grandin 2012). Viel seltener wird allerdings über einen dritten Aspekt des Friedensprozesses berichtet, der gerade im Hinblick auf Debatten über die gesellschaftliche und politische Wirkung von Wahrheitskommissionen nicht weniger interessant ist: die Bildungsreform und insbesondere die Revision des Curriculums, die sowohl in den Friedensverträgen von 1996 als auch in den Empfehlungen der CEH von 1999 verankert wurden. Diese Auslassung ist durchaus überraschend: Schließlich werden Wahrheitskommissionen häufig damit legitimiert, dass die offizielle Anerkennung von Verbrechen, Tätern und Opfern, einen gewissermaßen pädagogischen Effekt habe (Mendeloff 2011: 358). So argumentierte Hayner (1994: 607), dass Wahrheitskommissionen einen gesellschaftlichen Lernprozess anstoßen könnten, der die Wiederholung von Verbrechen unwahrscheinlicher mache und Geschichtsrevisionismus unterbinde. Ignatieff (1995: 113), beschreibt Wahrheitskommissionen als ein Mittel, Vergangenheitsdiskurse einzuhegen, indem die Anzahl lässlicher Lügen (permissible lies) reduziert werde. Gerade im lateinamerikanischen Kontext sind solche Argumente plausibel, da Geheimhaltung oftmals selbst zu einem strategischen Element staatlicher Gewaltausübung wurde (Oettler 2008: 86). 1.