{"title":"Das Europa der Wohlfahrtsstaaten und die Schwierigkeiten eines sozialen Narrativs für die Europäische Union","authors":"T. Kingreen","doi":"10.5771/9783845292700-131","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Am 4. Februar 1957 wurde Ludwig Erhard 60 Jahre alt – so alt wie heute die Römischen Verträge, die sieben Wochen nach seinem Geburtstag unterzeichnet wurden. An diesem 60. Geburtstag erschien Erhards Buch »Wohlstand für alle«.1 Es traf den Nerv der Zeit. Sein Titel wurde zum Wahlkampfslogan der CDU für die Bundestagswahl im gleichen Jahr, die sie erstund bislang letztmalig mit absoluter Mehrheit gewinnen sollte. Und es war der Beginn einer großen Erzählung: von der sozialen Marktwirtschaft,2 dem German Dream, wenn man so will. Es erstaunt daher nicht, dass die CDU den Slogan 60 Jahre später, zur Bundestagswahl 2017, reaktiviert hat. Immerhin ging es ja, wie beim American Dream, irgendwie auch um den legendären Tellerwäscher, dem Erhard durch Aufbrechen der »alten konservativen sozialen Struktur«3 zu materieller Teilhabe verhelfen wollte. Ihm waren vor allem die Kartelle als »Feinde der Verbraucher«4 ein Dorn im Auge. Am 27. Juli 1957 wurde daher das »Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen« verabschiedet – exakt am gleichen Tag wie das deutsche Zustimmungsgesetz zu den Römischen Verträgen, aber davon offenbar noch vollkommen unbeeinflusst, obwohl doch die Dezentralisierung privater wirtschaftlicher Macht eines der Kernanliegen des Binnenmarktprojekts war (vgl. heute Art. 101, 102 AEUV). Auch die größte Sozialreform in der Geschichte der Bundesrepublik, der Ausbau der Rentenversicherung zu einer umlagefinanzierten Vollversicherung, wurde praktisch zeitgleich I.","PeriodicalId":294075,"journal":{"name":"Die Neuerfindung Europas","volume":"45 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"1900-01-01","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Die Neuerfindung Europas","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.5771/9783845292700-131","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"","JCRName":"","Score":null,"Total":0}
引用次数: 0
Abstract
Am 4. Februar 1957 wurde Ludwig Erhard 60 Jahre alt – so alt wie heute die Römischen Verträge, die sieben Wochen nach seinem Geburtstag unterzeichnet wurden. An diesem 60. Geburtstag erschien Erhards Buch »Wohlstand für alle«.1 Es traf den Nerv der Zeit. Sein Titel wurde zum Wahlkampfslogan der CDU für die Bundestagswahl im gleichen Jahr, die sie erstund bislang letztmalig mit absoluter Mehrheit gewinnen sollte. Und es war der Beginn einer großen Erzählung: von der sozialen Marktwirtschaft,2 dem German Dream, wenn man so will. Es erstaunt daher nicht, dass die CDU den Slogan 60 Jahre später, zur Bundestagswahl 2017, reaktiviert hat. Immerhin ging es ja, wie beim American Dream, irgendwie auch um den legendären Tellerwäscher, dem Erhard durch Aufbrechen der »alten konservativen sozialen Struktur«3 zu materieller Teilhabe verhelfen wollte. Ihm waren vor allem die Kartelle als »Feinde der Verbraucher«4 ein Dorn im Auge. Am 27. Juli 1957 wurde daher das »Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen« verabschiedet – exakt am gleichen Tag wie das deutsche Zustimmungsgesetz zu den Römischen Verträgen, aber davon offenbar noch vollkommen unbeeinflusst, obwohl doch die Dezentralisierung privater wirtschaftlicher Macht eines der Kernanliegen des Binnenmarktprojekts war (vgl. heute Art. 101, 102 AEUV). Auch die größte Sozialreform in der Geschichte der Bundesrepublik, der Ausbau der Rentenversicherung zu einer umlagefinanzierten Vollversicherung, wurde praktisch zeitgleich I.