{"title":"Kapitel 3 Das Verb: Zeiten, Modi, Szenarios und Inszenierungen","authors":"","doi":"10.1515/9783110616194-003","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"„Veni, vidi, vici“ soll Cäsar sich nach dem Blitzsieg über König Pharmakes von Pontus gebrüstet haben – so jedenfalls berichtet Plutarch. Dieser gab in seiner biografischen Schrift über den Feldherrn den Ausspruch mit der griechischen Entsprechung „ἦλθον, εἶδον, ἐνίκησα“ (ēlton, ejdon, enikēsa) wieder. Weder die griechische noch die deutsche Version „Ich kam, sah und siegte“ erreichen allerdings die Prägnanz des lateinischen Ausspruchs mit seinen parallel gebauten zweisilbigen, im Anund Auslaut identischen Verbformen. Verbformen wie die genannten beziehen sich auf Vergangenes. Die Kodierung zeitbezogener Information ist eine der Funktionen der Verbformenbildung. Dem Thema Tempus ist das erste Unterkapitel gewidmet. Verbformen lassen uns aber auch aus der Wirklichkeit übertreten ins Reich der Spekulation oder gar des Kontrafaktischen: „Hätte, hätte Fahrradkette“, dieser seit den 2010er Jahren geläufige und durch Peer Steinbrück berühmt gewordene Spruch, bedient sich mit hätte des Konjunktivs 2, des Modus der Irrealität, und setzt auf Sinnfreiheit als effektives Symbol für fruchtloses Spekulieren. Traditioneller gebrauchen wir auch „was wäre wenn“ oder „wenn das Wörtchen wenn nicht wär“. Der Konjunktiv 1 des Deutschen ist im Wesentlichen der Modus der indirekten Redewiedergabe. Wenn wir Cäsars legendären Ausspruch nicht zitieren, sondern nur indirekt wiedergeben, läuft das z. B. so: „Cäsar hat sich laut Plutarch gebrüstet, er sei gekommen, habe gesehen und gesiegt“. Die Verbmodi – dazu gehören neben dem Standardmodus Indikativ und den Konjunktiven auch der Imperativ – beschäftigen uns im zweiten Unterkapitel. Es gibt (fast) immer mehrere Möglichkeiten, über Geschehnisse zu berichten. Die Verben, die gebraucht werden und die Verbformen, in die sie gesetzt werden, entscheiden weitgehend darüber, wie das Szenario in Szene gesetzt wird. Als im Herbst 2017 massive Vorwürfe wegen sexueller Belästigung gegenüber dem Schauspieler Kevin Spacey bekannt wurden, ließ Ridley Scott, der Regisseur des Films „Alles Geld der Welt“, alle Szenen mit Spacey aus dem bereits abgedrehten Film herausschneiden. Die Szenen wurden mit einem anderen Schauspieler nachgedreht. In meiner „Inszenierung“ gebrauche ich das Verb herausschneiden, das buchstäblich auf eine Handlung im handwerklichen Entstehungsprozess von Filmen verweist. Den Regisseur, der das ja sicher nicht mit eigenen Händen – oder","PeriodicalId":310070,"journal":{"name":"Das Deutsche als europäische Sprache","volume":"1 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"2021-07-19","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Das Deutsche als europäische Sprache","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.1515/9783110616194-003","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"","JCRName":"","Score":null,"Total":0}
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Abstract
„Veni, vidi, vici“ soll Cäsar sich nach dem Blitzsieg über König Pharmakes von Pontus gebrüstet haben – so jedenfalls berichtet Plutarch. Dieser gab in seiner biografischen Schrift über den Feldherrn den Ausspruch mit der griechischen Entsprechung „ἦλθον, εἶδον, ἐνίκησα“ (ēlton, ejdon, enikēsa) wieder. Weder die griechische noch die deutsche Version „Ich kam, sah und siegte“ erreichen allerdings die Prägnanz des lateinischen Ausspruchs mit seinen parallel gebauten zweisilbigen, im Anund Auslaut identischen Verbformen. Verbformen wie die genannten beziehen sich auf Vergangenes. Die Kodierung zeitbezogener Information ist eine der Funktionen der Verbformenbildung. Dem Thema Tempus ist das erste Unterkapitel gewidmet. Verbformen lassen uns aber auch aus der Wirklichkeit übertreten ins Reich der Spekulation oder gar des Kontrafaktischen: „Hätte, hätte Fahrradkette“, dieser seit den 2010er Jahren geläufige und durch Peer Steinbrück berühmt gewordene Spruch, bedient sich mit hätte des Konjunktivs 2, des Modus der Irrealität, und setzt auf Sinnfreiheit als effektives Symbol für fruchtloses Spekulieren. Traditioneller gebrauchen wir auch „was wäre wenn“ oder „wenn das Wörtchen wenn nicht wär“. Der Konjunktiv 1 des Deutschen ist im Wesentlichen der Modus der indirekten Redewiedergabe. Wenn wir Cäsars legendären Ausspruch nicht zitieren, sondern nur indirekt wiedergeben, läuft das z. B. so: „Cäsar hat sich laut Plutarch gebrüstet, er sei gekommen, habe gesehen und gesiegt“. Die Verbmodi – dazu gehören neben dem Standardmodus Indikativ und den Konjunktiven auch der Imperativ – beschäftigen uns im zweiten Unterkapitel. Es gibt (fast) immer mehrere Möglichkeiten, über Geschehnisse zu berichten. Die Verben, die gebraucht werden und die Verbformen, in die sie gesetzt werden, entscheiden weitgehend darüber, wie das Szenario in Szene gesetzt wird. Als im Herbst 2017 massive Vorwürfe wegen sexueller Belästigung gegenüber dem Schauspieler Kevin Spacey bekannt wurden, ließ Ridley Scott, der Regisseur des Films „Alles Geld der Welt“, alle Szenen mit Spacey aus dem bereits abgedrehten Film herausschneiden. Die Szenen wurden mit einem anderen Schauspieler nachgedreht. In meiner „Inszenierung“ gebrauche ich das Verb herausschneiden, das buchstäblich auf eine Handlung im handwerklichen Entstehungsprozess von Filmen verweist. Den Regisseur, der das ja sicher nicht mit eigenen Händen – oder