{"title":"Angst Macht Vernunft. Zur politischen Rationalität der Coronakrise","authors":"Kristoffer Klement","doi":"10.5771/9783748910688-103","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Krisen stellen Gesellschaften meist vor schwer lösbare Probleme und führen sie auf der Suche nach Lösungen leicht in autoritäre Versuchungen. Dem drohenden Unheil gelte es mit starker Hand zu trotzen, koste es gegebenenfalls, was es wolle, so eine vereinfachte Beschreibung. Zu bestätigen schien sich dieser Allgemeinplatz auch in der Coronapandemie: Der Staat – in der hiesigen Erörterung die Bundesrepublik Deutschland – reagierte auf die Ausbreitung des Virus im Schnellverfahren mit ebenso einschneidenden wie umfassenden Maßnahmen, die weder vor Grundrechten noch einer absehbaren Rezession Halt machten. Auf den zweiten Blick muss ein solches Urteil freilich relativiert werden, denn Fakt ist ebenso, dass die Bundesregierung nach wie vor dem Grundgesetz und demokratischen Rechtfertigungsgeboten unterlag und anders als im Nachgang der sogenannten ‚Flüchtlingskrise 2015‘ konnten nationalautoritäre Parteien der Marke AfD bislang keinen nennenswerten Zulauf verbuchen. Sind autoritäre Tendenzen in der pandemischen ‚Ausnahmesituation‘ also eher als harmlos oder doch gravierend, temporär oder epochal einzustufen und inwiefern wären sie eigentlich abzulehnen oder zu befürworten? Im folgenden Essay möchte ich mich Bewertungsfragen dieser Art widmen und eine mögliche Antwort skizzieren. Er fußt auf der Frage, in welchen Hinsichten und Formen sich Politik in der Coronakrise autoritär gestaltet und was daran unter demokratischen Gesichtspunkten problematisch ist. Besonderen Fokus will ich dabei auf die Rolle von Emotionen sowie die mit ihnen verbundenen Weltwahrnehmungen (Bedrohungen, Ängste), Werte (Freiheiten, Sicherheiten, Schutz) und Sachzwänge (Schutzmaßnahmen, Problemlösungen) legen, da sie meines Erachtens maßgebliche Faktoren des Geschehens darstellen. Wie ich zeigen will, konstituieren sie in der Coronakrise eine Politik, die sowohl autoritär als auch demokratisch ausfällt, während sie unter funktionalen Prämissen zunächst entpolitisierend wirkt, um Politik mittelfristig wieder umso drängender zu eröffnen. Die bundesdeutsche Coronapolitik erweist sich, so meine These I.","PeriodicalId":316035,"journal":{"name":"Kritik in der Krise","volume":"13 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"2020-11-23","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Kritik in der Krise","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.5771/9783748910688-103","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"","JCRName":"","Score":null,"Total":0}
引用次数: 0
Abstract
Krisen stellen Gesellschaften meist vor schwer lösbare Probleme und führen sie auf der Suche nach Lösungen leicht in autoritäre Versuchungen. Dem drohenden Unheil gelte es mit starker Hand zu trotzen, koste es gegebenenfalls, was es wolle, so eine vereinfachte Beschreibung. Zu bestätigen schien sich dieser Allgemeinplatz auch in der Coronapandemie: Der Staat – in der hiesigen Erörterung die Bundesrepublik Deutschland – reagierte auf die Ausbreitung des Virus im Schnellverfahren mit ebenso einschneidenden wie umfassenden Maßnahmen, die weder vor Grundrechten noch einer absehbaren Rezession Halt machten. Auf den zweiten Blick muss ein solches Urteil freilich relativiert werden, denn Fakt ist ebenso, dass die Bundesregierung nach wie vor dem Grundgesetz und demokratischen Rechtfertigungsgeboten unterlag und anders als im Nachgang der sogenannten ‚Flüchtlingskrise 2015‘ konnten nationalautoritäre Parteien der Marke AfD bislang keinen nennenswerten Zulauf verbuchen. Sind autoritäre Tendenzen in der pandemischen ‚Ausnahmesituation‘ also eher als harmlos oder doch gravierend, temporär oder epochal einzustufen und inwiefern wären sie eigentlich abzulehnen oder zu befürworten? Im folgenden Essay möchte ich mich Bewertungsfragen dieser Art widmen und eine mögliche Antwort skizzieren. Er fußt auf der Frage, in welchen Hinsichten und Formen sich Politik in der Coronakrise autoritär gestaltet und was daran unter demokratischen Gesichtspunkten problematisch ist. Besonderen Fokus will ich dabei auf die Rolle von Emotionen sowie die mit ihnen verbundenen Weltwahrnehmungen (Bedrohungen, Ängste), Werte (Freiheiten, Sicherheiten, Schutz) und Sachzwänge (Schutzmaßnahmen, Problemlösungen) legen, da sie meines Erachtens maßgebliche Faktoren des Geschehens darstellen. Wie ich zeigen will, konstituieren sie in der Coronakrise eine Politik, die sowohl autoritär als auch demokratisch ausfällt, während sie unter funktionalen Prämissen zunächst entpolitisierend wirkt, um Politik mittelfristig wieder umso drängender zu eröffnen. Die bundesdeutsche Coronapolitik erweist sich, so meine These I.