{"title":"Von Reliquien, Präambeln, Gerichtshöfen und anderen europäischen Besonderheiten","authors":"Angelika Nussberger","doi":"10.5771/9783845292700-207","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Im Mittelalter lockten Erzählungen, die Stoffe aus der Bibel aufgriffen und ins Mystische überführten, Pilger in Scharen an und konnten europäische Städte reich machen. Venedig lebte von der Legende der Reliquien des Evangelisten Markus, die angeblich in Schweinefleisch verpackt aus der muslimischen Welt in die Lagunenstadt geschmuggelt wurden. Und in Köln baute man einen Schrein um die Gebeine der Heiligen Drei Könige. Aus heutiger Sicht würde man von einem genialen Marketing sprechen. Oder eben von einem Narrativ, das Menschen begeistern und in Bewegung setzen kann. Brauchen wir ein derartiges Narrativ heute für Europa? Brauchen wir eine neue europäische Erzählung, die mit großer Einfachheit und Bildhaftigkeit besticht und das bürokratisch Unverbundene in eine auf tief verwurzelte Traditionen gegründete Einheit fügt? Müssen wir Europa neu vermarkten? Die Antwort lautet: »Nein«. Europa hat seine Legende, seinen Mythos, sein Narrativ. Allerdings ist es nicht auf »heilige Knochen« gegründet wie die Zentren im Mittelalter; das deftig Bildhafte fehlt in der Tat. Vielmehr findet sich das Narrativ – dem diesseitig-nüchternen Geist der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entsprechend und auch auf die religiöse Dimension verzichtend – in den Präambeln juristischer Verträge, auf denen nach dem Zweiten Weltkrieg ein neues Europa gegründet wurde. Wie einst die amerikanische Unabhängigkeitserklärung mit den Worten »We hold these truths to be self evident« ein Versprechen für einen Neuanfang, aufbauend auf der unverbrüchlichen Achtung der Rechte des Einzelnen vorgegeben hat, hat sich auch Europa mit feierlichen Worten neu gegründet und sich zugleich in eine jahrhundertealte Tradition gestellt, in die Tra-","PeriodicalId":294075,"journal":{"name":"Die Neuerfindung Europas","volume":"70 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"1900-01-01","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Die Neuerfindung Europas","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.5771/9783845292700-207","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"","JCRName":"","Score":null,"Total":0}
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Abstract
Im Mittelalter lockten Erzählungen, die Stoffe aus der Bibel aufgriffen und ins Mystische überführten, Pilger in Scharen an und konnten europäische Städte reich machen. Venedig lebte von der Legende der Reliquien des Evangelisten Markus, die angeblich in Schweinefleisch verpackt aus der muslimischen Welt in die Lagunenstadt geschmuggelt wurden. Und in Köln baute man einen Schrein um die Gebeine der Heiligen Drei Könige. Aus heutiger Sicht würde man von einem genialen Marketing sprechen. Oder eben von einem Narrativ, das Menschen begeistern und in Bewegung setzen kann. Brauchen wir ein derartiges Narrativ heute für Europa? Brauchen wir eine neue europäische Erzählung, die mit großer Einfachheit und Bildhaftigkeit besticht und das bürokratisch Unverbundene in eine auf tief verwurzelte Traditionen gegründete Einheit fügt? Müssen wir Europa neu vermarkten? Die Antwort lautet: »Nein«. Europa hat seine Legende, seinen Mythos, sein Narrativ. Allerdings ist es nicht auf »heilige Knochen« gegründet wie die Zentren im Mittelalter; das deftig Bildhafte fehlt in der Tat. Vielmehr findet sich das Narrativ – dem diesseitig-nüchternen Geist der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entsprechend und auch auf die religiöse Dimension verzichtend – in den Präambeln juristischer Verträge, auf denen nach dem Zweiten Weltkrieg ein neues Europa gegründet wurde. Wie einst die amerikanische Unabhängigkeitserklärung mit den Worten »We hold these truths to be self evident« ein Versprechen für einen Neuanfang, aufbauend auf der unverbrüchlichen Achtung der Rechte des Einzelnen vorgegeben hat, hat sich auch Europa mit feierlichen Worten neu gegründet und sich zugleich in eine jahrhundertealte Tradition gestellt, in die Tra-