{"title":"Sammlung zur Repression – Zugang als demokratisches Recht","authors":"Joachim Förster","doi":"10.1515/9783110696479-011","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Wer einmal Gelegenheit hatte, in den Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR (Stasi-Akten) zu lesen, dem erschiene es vermutlich nicht naheliegend, das Stasi-Unterlagen-Archiv im Rahmen einer Veranstaltungsreihe Literatur und Archiv zu thematisieren. Endlose Schachtelsätze, bürokratisch-militärische Wortungetüme und eine Fülle von Abkürzungen – die Sprache der Stasi (vom banalen Inhalt vieler Berichte ganz abgesehen) ist eher ein sprachliches Gegenbild zur Literatur. Eine zeitgeschichtliche Assoziation zur Literatur wäre die Tatsache, dass kaum ein anderes Milieu von der Stasi so lückenlos überwacht und kontrolliert wurde wie die SchriftstellerInnen in der DDR. Wohl nirgends verfügte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) über ein so dichtes Spitzelnetz wie im sog. Sicherungsbereich Literatur. Der Schriftstellerverband war durchsetzt von Inoffiziellen Mitarbeitern (IM), missliebige KünstlerInnen waren Opfer zersetzender Maßnahmen. Kaum etwas fürchtete Stasi-Chef Erich Mielke so sehr wie die intellektuelle Unbotmäßigkeit. Für den interdisziplinären Ansatz dieser Reihe, die „Logiken der Sammlung“ vergleichend zu beleuchten, dürfte das Stasi-Unterlagen-Archiv im Hinblick auf seine Besonderheiten allerdings nicht uninteressant sein. Nie zuvor sind die Hinterlassenschaften einer Geheimpolizei geschlossen übergeben und zeitnah zugänglich gemacht worden. Die Stasi hat niemals damit gerechnet, dass die Produkte ihrer streng konspirativen Tätigkeit eines Tages in diametraler Umkehr ihres Entstehungszwecks ausgerechnet auch den Opfern ihrer Maßnahmen gegenüber offengelegt werden würden. Vor Abgabe nicht mehr benötigter Akten an Archive oder der Aufnahme in Sammlungen finden im Regelfall Prozesse der Anbietung, archivarischen Bewertung und Auswahl statt. Des Weiteren gelten für Unterlagen mit personenbezogenen Informationen normalerweise lange Schutzfristen, die einer Nutzung ohne Einwilligung grundsätzlich entgegenstehen. Die Stasi-Unterlagen wurden durch den plötzlich eintretenden politischen Umbruch der friedlichen Revolution und die Besetzungen der Stasi-Dienststellen 1989/90 quasi aus dem laufenden Betrieb","PeriodicalId":346297,"journal":{"name":"Logiken der Sammlung","volume":"1 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"2020-04-06","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Logiken der Sammlung","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.1515/9783110696479-011","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"","JCRName":"","Score":null,"Total":0}
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Abstract
Wer einmal Gelegenheit hatte, in den Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR (Stasi-Akten) zu lesen, dem erschiene es vermutlich nicht naheliegend, das Stasi-Unterlagen-Archiv im Rahmen einer Veranstaltungsreihe Literatur und Archiv zu thematisieren. Endlose Schachtelsätze, bürokratisch-militärische Wortungetüme und eine Fülle von Abkürzungen – die Sprache der Stasi (vom banalen Inhalt vieler Berichte ganz abgesehen) ist eher ein sprachliches Gegenbild zur Literatur. Eine zeitgeschichtliche Assoziation zur Literatur wäre die Tatsache, dass kaum ein anderes Milieu von der Stasi so lückenlos überwacht und kontrolliert wurde wie die SchriftstellerInnen in der DDR. Wohl nirgends verfügte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) über ein so dichtes Spitzelnetz wie im sog. Sicherungsbereich Literatur. Der Schriftstellerverband war durchsetzt von Inoffiziellen Mitarbeitern (IM), missliebige KünstlerInnen waren Opfer zersetzender Maßnahmen. Kaum etwas fürchtete Stasi-Chef Erich Mielke so sehr wie die intellektuelle Unbotmäßigkeit. Für den interdisziplinären Ansatz dieser Reihe, die „Logiken der Sammlung“ vergleichend zu beleuchten, dürfte das Stasi-Unterlagen-Archiv im Hinblick auf seine Besonderheiten allerdings nicht uninteressant sein. Nie zuvor sind die Hinterlassenschaften einer Geheimpolizei geschlossen übergeben und zeitnah zugänglich gemacht worden. Die Stasi hat niemals damit gerechnet, dass die Produkte ihrer streng konspirativen Tätigkeit eines Tages in diametraler Umkehr ihres Entstehungszwecks ausgerechnet auch den Opfern ihrer Maßnahmen gegenüber offengelegt werden würden. Vor Abgabe nicht mehr benötigter Akten an Archive oder der Aufnahme in Sammlungen finden im Regelfall Prozesse der Anbietung, archivarischen Bewertung und Auswahl statt. Des Weiteren gelten für Unterlagen mit personenbezogenen Informationen normalerweise lange Schutzfristen, die einer Nutzung ohne Einwilligung grundsätzlich entgegenstehen. Die Stasi-Unterlagen wurden durch den plötzlich eintretenden politischen Umbruch der friedlichen Revolution und die Besetzungen der Stasi-Dienststellen 1989/90 quasi aus dem laufenden Betrieb