Digitale Teilhabe als ethischer Anspruch schulischer Bildung: Überlegungen zur Reflexion individueller Normen und Überzeugungen im Kontext der Lehramtsausbildung
{"title":"Digitale Teilhabe als ethischer Anspruch schulischer Bildung: Überlegungen zur Reflexion individueller Normen und Überzeugungen im Kontext der Lehramtsausbildung","authors":"Gudrun Marci-Boehncke","doi":"10.5771/9783845293844-315","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Aufwachsen in digitalen Gesellschaften erfordert, dass Medienkompetenzvermittlung als prominentes Ziel schulischer Bildung umgesetzt wird. Deutschland hinkt hier international beträchtlich hinterher. Der Beitrag untersucht, inwiefern soziale Normen und individuelle Wertüberzeugungen im Kontext der Lehramtsausbildung diskutiert und reflektiert werden und/oder werden sollten. Obwohl viele Studien zeigen, dass die Haltung von Lehrkräften Einfluss hat auf ihren Technikeinsatz (Kommer/Biermann 2012; Blackwell/Lauricella/Wartella 2014), sind diesbezügliche Haltungen und Einstellungen der Lehrkräfte – bisher im Kontext der Lehramtsprofessionalisierung und ihrer Evaluation – nicht systematisch berücksichtigt (vgl. Kunter et al. 2011). Sie wurden dem Bereich der Privatsphäre zugeordnet und gelten als nicht verlässlich empirisch überprüfbar, weil Selbstaussagen die Anerkennung des Wertes der Ehrlichkeit voraussetzen. Der Beitrag fragt, wie solche normativen Reflexionen persönlicher Einstellungen und Überzeugungen, (= „teachers beliefs“) (Calderhead 1996) in der Lehramtsausbildung diskutiert werden könnten. Fokussiert wird auf zwei Bereiche: a) den Einsatz digitaler Medien und b) die Inklusion. Beide Bereiche sind metatheoretisch verortbar (Krotz 2001, 2007; Marci-Boehncke/Bosse 2018) und führen auf zwei zentrale Fragen: Inwiefern wird dieses Meta-Theoriewissen selbst in der Lehramtsausbildung vermittelt und im Bezug auf persönliche Überzeugungen reflektiert? Inwiefern finden sich Modelle, die geeignet sind, Orientierungen vorzugeben? Ihre normative Fundierung hat dieses Vorgehen im Capability Approach (Nussbaum 2000, 2015), der erziehungswissenschaftliche, fachdidaktische und philosophischethische Kontexte verbindet. Teachers Beliefs und ihr Einfluss auf Lehrkräfte Im Kontext der Lehrerprofessionalisierung geht es heute vor allem um die Vermittlung von Fachwissen, fachdidaktischem Wissen, pädagogischem Wissen, Organisations-/Interaktionswissen und Beratungswissen (vgl. Kunter et al. 2011, modifiziert nach Baumert/Kunter 2006; Brunner et al. 1. 315 https://doi.org/10.5771/9783845293844-315 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 12.08.2021, 12:58:35. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 2006). Dabei hatte schon Fenstermacher (1978) konstatiert, dass die Haltungen bzw. Überzeugungen die wichtigste Konstruktionsbedingung in „educational research“ ausmachen. „Beliefs“ sind dabei „untested assumptions that influence how they (teachers) think about classroom matters and respond to particular situations“ (Calderhead 1996: 719). Es sind also subjektive Überzeugungen und Theorien – auch als „folk beliefs“ (vgl. Bruner 1996) bezeichnet. Sie fungieren als individuelle Erklärungsmodelle und können meist – ähnlich der Struktur von Vorurteilen, die Allport 1954 differenziert hat (vgl. Allport 1990) – „ein Körnchen Wahrheit“ enthalten. Sie sind dabei aber stark mit eigenen Emotionen aufgeladen, die sich schließlich auch verhaltensorientierend auswirken können. Diese Überzeugungen müssen nicht notwendigerweise falsch und vorurteilsvoll sein. Sie sind aber der Lehrkraft nicht explizit bewusst und wirken auf sie gewissermaßen ungesteuert. Guereiro (2017: 41) bezeichnet sie deshalb als „tacit knowledge“. Dieser Beitrag arbeitet aber weiter mit dem Begriff der „beliefs“. „Beliefs“ stammen im Kern meist schon aus der eigenen Kindheit, sind anerzogen und sozialisiert und können grundsätzlich alle Lebensbereiche betreffen. Erziehung hatte und hat dabei explizit die Funktion, bestimmte Dispositionen zu realisieren, sie entweder herzustellen, auszubauen oder abzuschwächen oder zu beseitigen: „Erziehung ist intentional, sie sucht Ziele, Normen und Werte zu verwirklichen“ (Gudjons 2003: 198). Dies funktioniert meist nicht in kurzfristigen Interventionen, sondern in längerfristigen Prozessen, die Bestätigungen und Entwicklungen („Führen“ und „Wachsen lassen“, ebd.) benötigen (vgl. Raithel/Dollinger/Hörmann 2009: 25). Im Kontext der Adoleszenz und Loslösung von der Herkunftsfamilie sollten sich dann die eigenen Wertsysteme und damit auch die eigene Identität soweit entwickelt haben, dass sie den Menschen zu einem selbständig handelnden und – idealerweise – sozial verantwortlichen Individuum haben werden lassen. Natürlich ist die Identitätsentwicklung nie abgeschlossen, aber zur Etablierung eines Ich-Bewusstseins gehört auch die Orientierung in einer von vielen möglichen Zielen, Normen, Regeln und Werten geprägten Gesellschaft. Diese je individuell ausgeprägten „beliefs“ gehören zur menschlichen Identität. Sie wirken aber häufig wie ein Wahrnehmungsfilter: Sie lassen bestätigende Informationen passieren und wehren kontradiktorische Fakten ab. Ihre Veränderbarkeit in späteren Lebensphasen wird als schwierig angesehen. Sie zu verändern, scheint nur unter bestimmten Umständen möglich. Die Forschung diskutiert drei verschiedene Einfluss-Faktoren: Gudrun Marci-Boehncke 316 https://doi.org/10.5771/9783845293844-315 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 12.08.2021, 12:58:35. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. a) Autoritäten, die glaubwürdig die eigenen Theorien in Frage stellen oder sogar erschüttern – und gegenteilige oder modifizierende Theorien anbieten können, b) ein Gestalt-Shift, bei dem – ähnlich wie bei Vexierbildern – durch ein Erlebnis die eigene Betrachtungsweise radikal verändert wird (vgl. Pajares 1992: 325f.). Allerdings sind solche späteren Veränderungen zunächst fragil und leicht wieder zu revidieren. Und c) kontinuierliche, theoriegestützte Reflexionen und Überprüfungen. Empirisch zu erheben sind „Beliefs“ nicht zuverlässig, da diese Einstellungen häufig Teil gesellschaftlicher Diskurse sind und je nach Befragungskontext soziale Erwartungen bedienen. Würde man sich im Kreis einer Umweltschutzorganisation als überzeugter Alt-SUV-Fahrer outen? Je nach dem erwarteten sozialen Druck wäre man mit seiner Meinung mindestens zurückhaltend oder würde sogar die Unwahrheit sagen. Erst in sich verändernden sozialen und politischen Kontexten ist es zum Teil möglich, bestimmte Überzeugungen öffentlich zu äußern oder nicht. Obwohl es immer noch Leugner des Holocausts gibt, ist diese Überzeugung heute in Deutschland (§ 130 StGB), in der EU und weiteren Ländern (CNS/ 2001/0270) als öffentliche Äußerung strafbar. Jenseits dieses sehr extremen Beispiels gibt es aber auch andere Bereiche – etwa die Haltung gegenüber Minderheiten oder bestimmten Geschlechtern/Genderidentitäten oder Lebensweisen, also „Kulturen“ im weiteren Sinn (Hall 1994) –, zu denen emotional determinierte Einstellungen bestehen. Viele davon – und gerade das macht sie hier so interessant – werden gar nicht mehr reflektiert. Erst in Situationen, in denen man explizit auf sie angesprochen wird, prüft man unter Umständen, inwiefern sie mit den Normen der Gruppe, in der man gerade Auskunft geben soll, übereinstimmen. Wer sich einer Gruppe zugehörig sieht, wird wahrscheinlich zu den in ihr gängigen Einstellungen kontroverse vermeiden und seine Antworten abgleichen an den Erwartungserwartungen, die der eigenen Rolle unterstellt werden. So wäre es eher ungewöhnlich, wenn ein Kinderbuchautor sich als jemand zu erkennen gäbe, der Kinder explizit nicht mag. Der Professionsanspruch und die eigene Überzeugung stünden dann in gewissem Widerspruch. Ärzten unterstellt man auch als Professionalitätsmerkmal, dass sie Blut sehen können, auch wenn sie es nicht mögen. Denn sie müssten Menschen auch behandeln, wenn sie lebensgefährlich bluten. Das verlangt ihr Berufsethos: zum Wohle des Menschen zu agieren. Die Frage ist nun, ob es auch Bereiche gibt, in denen die Überzeugungen von Lehrkräften in Konflikt mit ihrem Professionsverständnis geraten – und wie damit umzugehen ist. Digitale Teilhabe als ethischer Anspruch schulischer Bildung 317 https://doi.org/10.5771/9783845293844-315 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 12.08.2021, 12:58:35. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Teachers Beliefs zum Einsatz digitaler Medien und zu Inklusion Ein Themenbereich, der in den letzten Jahren international verstärkt diskutiert wird, ist der Einfluss dieser Überzeugungen gerade auf den Einsatz digitaler Medien. Dass digitale Medien nicht nur fakultativ, sondern obligatorisch Teil aktueller Bildungskonzepte sein müssen, begründet sich aus der gesellschaftlichen Realität des 21. Jahrhunderts, auf die Schule vorbereiten will, und lässt sich mit der Meta-Theorie der „Mediatisierung“ (Krotz 2001, 2007; Breiter et al. 2013; Rath 2014) auch bildungspolitisch plausibilisieren (Marci-Boehncke 2018). In Deutschland jedoch ist diese Implementierung, obwohl curricular in den Lehrplänen und begleitenden Mediencurricula der Länder einhellig gefordert, bisher nur unzureichend gelungen, vor allem im internationalen Vergleich (Bos et al. 2014). Auch die seit 2013 jährlich erstellten „Ländermonitore“ lassen nur langsam Besserung erkennen. Immer noch nutzen unter 20% aller Lehrkräfte von weiterführenden Schulen täglich einen Computer im Unterricht. In Kanada etwa lag bereits 2013 der Wert bei über 70%. Deutschland bildete das Schlusslicht. Allerdings nutzen die Lehrkräfte privat das Internet zur Suche und Erstellung nach Unterrichtsmaterialien in gleichem Maß wie ihre Kolleginnen und Kollegen international – zu über 96% (Gerick et al. 2014: 181). Begründet wurde der sparsame Einsatz von Seiten der Lehrkräfte in den Befragungen häufig mit mangelnder Ausstattung, fehlender Zeit und schlechter Vorbereitung durch Fortbildungen (Breiter et al. 2013). Für die Grundschulen sahen die Argumente ähnlich aus, die Nutzung war dort noch geringer – sicher auch wegen der noch schlechteren Ausstattung. Allerdings wurde auch deutlich, dass externe Gründe nicht die alleinige Ursache solcher Medienvermeidung darstellen, denn die Ausstattung lag in Deutschland mit einem Verhältnis von 1:11 (ein Computer auf elf Schülerinnen und Schüler) keinesfalls ","PeriodicalId":202239,"journal":{"name":"Aufwachsen mit Medien","volume":"24 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"1900-01-01","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"1","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Aufwachsen mit Medien","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.5771/9783845293844-315","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"","JCRName":"","Score":null,"Total":0}
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Abstract
Aufwachsen in digitalen Gesellschaften erfordert, dass Medienkompetenzvermittlung als prominentes Ziel schulischer Bildung umgesetzt wird. Deutschland hinkt hier international beträchtlich hinterher. Der Beitrag untersucht, inwiefern soziale Normen und individuelle Wertüberzeugungen im Kontext der Lehramtsausbildung diskutiert und reflektiert werden und/oder werden sollten. Obwohl viele Studien zeigen, dass die Haltung von Lehrkräften Einfluss hat auf ihren Technikeinsatz (Kommer/Biermann 2012; Blackwell/Lauricella/Wartella 2014), sind diesbezügliche Haltungen und Einstellungen der Lehrkräfte – bisher im Kontext der Lehramtsprofessionalisierung und ihrer Evaluation – nicht systematisch berücksichtigt (vgl. Kunter et al. 2011). Sie wurden dem Bereich der Privatsphäre zugeordnet und gelten als nicht verlässlich empirisch überprüfbar, weil Selbstaussagen die Anerkennung des Wertes der Ehrlichkeit voraussetzen. Der Beitrag fragt, wie solche normativen Reflexionen persönlicher Einstellungen und Überzeugungen, (= „teachers beliefs“) (Calderhead 1996) in der Lehramtsausbildung diskutiert werden könnten. Fokussiert wird auf zwei Bereiche: a) den Einsatz digitaler Medien und b) die Inklusion. Beide Bereiche sind metatheoretisch verortbar (Krotz 2001, 2007; Marci-Boehncke/Bosse 2018) und führen auf zwei zentrale Fragen: Inwiefern wird dieses Meta-Theoriewissen selbst in der Lehramtsausbildung vermittelt und im Bezug auf persönliche Überzeugungen reflektiert? Inwiefern finden sich Modelle, die geeignet sind, Orientierungen vorzugeben? Ihre normative Fundierung hat dieses Vorgehen im Capability Approach (Nussbaum 2000, 2015), der erziehungswissenschaftliche, fachdidaktische und philosophischethische Kontexte verbindet. Teachers Beliefs und ihr Einfluss auf Lehrkräfte Im Kontext der Lehrerprofessionalisierung geht es heute vor allem um die Vermittlung von Fachwissen, fachdidaktischem Wissen, pädagogischem Wissen, Organisations-/Interaktionswissen und Beratungswissen (vgl. Kunter et al. 2011, modifiziert nach Baumert/Kunter 2006; Brunner et al. 1. 315 https://doi.org/10.5771/9783845293844-315 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 12.08.2021, 12:58:35. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 2006). Dabei hatte schon Fenstermacher (1978) konstatiert, dass die Haltungen bzw. Überzeugungen die wichtigste Konstruktionsbedingung in „educational research“ ausmachen. „Beliefs“ sind dabei „untested assumptions that influence how they (teachers) think about classroom matters and respond to particular situations“ (Calderhead 1996: 719). Es sind also subjektive Überzeugungen und Theorien – auch als „folk beliefs“ (vgl. Bruner 1996) bezeichnet. Sie fungieren als individuelle Erklärungsmodelle und können meist – ähnlich der Struktur von Vorurteilen, die Allport 1954 differenziert hat (vgl. Allport 1990) – „ein Körnchen Wahrheit“ enthalten. Sie sind dabei aber stark mit eigenen Emotionen aufgeladen, die sich schließlich auch verhaltensorientierend auswirken können. Diese Überzeugungen müssen nicht notwendigerweise falsch und vorurteilsvoll sein. Sie sind aber der Lehrkraft nicht explizit bewusst und wirken auf sie gewissermaßen ungesteuert. Guereiro (2017: 41) bezeichnet sie deshalb als „tacit knowledge“. Dieser Beitrag arbeitet aber weiter mit dem Begriff der „beliefs“. „Beliefs“ stammen im Kern meist schon aus der eigenen Kindheit, sind anerzogen und sozialisiert und können grundsätzlich alle Lebensbereiche betreffen. Erziehung hatte und hat dabei explizit die Funktion, bestimmte Dispositionen zu realisieren, sie entweder herzustellen, auszubauen oder abzuschwächen oder zu beseitigen: „Erziehung ist intentional, sie sucht Ziele, Normen und Werte zu verwirklichen“ (Gudjons 2003: 198). Dies funktioniert meist nicht in kurzfristigen Interventionen, sondern in längerfristigen Prozessen, die Bestätigungen und Entwicklungen („Führen“ und „Wachsen lassen“, ebd.) benötigen (vgl. Raithel/Dollinger/Hörmann 2009: 25). Im Kontext der Adoleszenz und Loslösung von der Herkunftsfamilie sollten sich dann die eigenen Wertsysteme und damit auch die eigene Identität soweit entwickelt haben, dass sie den Menschen zu einem selbständig handelnden und – idealerweise – sozial verantwortlichen Individuum haben werden lassen. Natürlich ist die Identitätsentwicklung nie abgeschlossen, aber zur Etablierung eines Ich-Bewusstseins gehört auch die Orientierung in einer von vielen möglichen Zielen, Normen, Regeln und Werten geprägten Gesellschaft. Diese je individuell ausgeprägten „beliefs“ gehören zur menschlichen Identität. Sie wirken aber häufig wie ein Wahrnehmungsfilter: Sie lassen bestätigende Informationen passieren und wehren kontradiktorische Fakten ab. Ihre Veränderbarkeit in späteren Lebensphasen wird als schwierig angesehen. Sie zu verändern, scheint nur unter bestimmten Umständen möglich. Die Forschung diskutiert drei verschiedene Einfluss-Faktoren: Gudrun Marci-Boehncke 316 https://doi.org/10.5771/9783845293844-315 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 12.08.2021, 12:58:35. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. a) Autoritäten, die glaubwürdig die eigenen Theorien in Frage stellen oder sogar erschüttern – und gegenteilige oder modifizierende Theorien anbieten können, b) ein Gestalt-Shift, bei dem – ähnlich wie bei Vexierbildern – durch ein Erlebnis die eigene Betrachtungsweise radikal verändert wird (vgl. Pajares 1992: 325f.). Allerdings sind solche späteren Veränderungen zunächst fragil und leicht wieder zu revidieren. Und c) kontinuierliche, theoriegestützte Reflexionen und Überprüfungen. Empirisch zu erheben sind „Beliefs“ nicht zuverlässig, da diese Einstellungen häufig Teil gesellschaftlicher Diskurse sind und je nach Befragungskontext soziale Erwartungen bedienen. Würde man sich im Kreis einer Umweltschutzorganisation als überzeugter Alt-SUV-Fahrer outen? Je nach dem erwarteten sozialen Druck wäre man mit seiner Meinung mindestens zurückhaltend oder würde sogar die Unwahrheit sagen. Erst in sich verändernden sozialen und politischen Kontexten ist es zum Teil möglich, bestimmte Überzeugungen öffentlich zu äußern oder nicht. Obwohl es immer noch Leugner des Holocausts gibt, ist diese Überzeugung heute in Deutschland (§ 130 StGB), in der EU und weiteren Ländern (CNS/ 2001/0270) als öffentliche Äußerung strafbar. Jenseits dieses sehr extremen Beispiels gibt es aber auch andere Bereiche – etwa die Haltung gegenüber Minderheiten oder bestimmten Geschlechtern/Genderidentitäten oder Lebensweisen, also „Kulturen“ im weiteren Sinn (Hall 1994) –, zu denen emotional determinierte Einstellungen bestehen. Viele davon – und gerade das macht sie hier so interessant – werden gar nicht mehr reflektiert. Erst in Situationen, in denen man explizit auf sie angesprochen wird, prüft man unter Umständen, inwiefern sie mit den Normen der Gruppe, in der man gerade Auskunft geben soll, übereinstimmen. Wer sich einer Gruppe zugehörig sieht, wird wahrscheinlich zu den in ihr gängigen Einstellungen kontroverse vermeiden und seine Antworten abgleichen an den Erwartungserwartungen, die der eigenen Rolle unterstellt werden. So wäre es eher ungewöhnlich, wenn ein Kinderbuchautor sich als jemand zu erkennen gäbe, der Kinder explizit nicht mag. Der Professionsanspruch und die eigene Überzeugung stünden dann in gewissem Widerspruch. Ärzten unterstellt man auch als Professionalitätsmerkmal, dass sie Blut sehen können, auch wenn sie es nicht mögen. Denn sie müssten Menschen auch behandeln, wenn sie lebensgefährlich bluten. Das verlangt ihr Berufsethos: zum Wohle des Menschen zu agieren. Die Frage ist nun, ob es auch Bereiche gibt, in denen die Überzeugungen von Lehrkräften in Konflikt mit ihrem Professionsverständnis geraten – und wie damit umzugehen ist. Digitale Teilhabe als ethischer Anspruch schulischer Bildung 317 https://doi.org/10.5771/9783845293844-315 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 12.08.2021, 12:58:35. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Teachers Beliefs zum Einsatz digitaler Medien und zu Inklusion Ein Themenbereich, der in den letzten Jahren international verstärkt diskutiert wird, ist der Einfluss dieser Überzeugungen gerade auf den Einsatz digitaler Medien. Dass digitale Medien nicht nur fakultativ, sondern obligatorisch Teil aktueller Bildungskonzepte sein müssen, begründet sich aus der gesellschaftlichen Realität des 21. Jahrhunderts, auf die Schule vorbereiten will, und lässt sich mit der Meta-Theorie der „Mediatisierung“ (Krotz 2001, 2007; Breiter et al. 2013; Rath 2014) auch bildungspolitisch plausibilisieren (Marci-Boehncke 2018). In Deutschland jedoch ist diese Implementierung, obwohl curricular in den Lehrplänen und begleitenden Mediencurricula der Länder einhellig gefordert, bisher nur unzureichend gelungen, vor allem im internationalen Vergleich (Bos et al. 2014). Auch die seit 2013 jährlich erstellten „Ländermonitore“ lassen nur langsam Besserung erkennen. Immer noch nutzen unter 20% aller Lehrkräfte von weiterführenden Schulen täglich einen Computer im Unterricht. In Kanada etwa lag bereits 2013 der Wert bei über 70%. Deutschland bildete das Schlusslicht. Allerdings nutzen die Lehrkräfte privat das Internet zur Suche und Erstellung nach Unterrichtsmaterialien in gleichem Maß wie ihre Kolleginnen und Kollegen international – zu über 96% (Gerick et al. 2014: 181). Begründet wurde der sparsame Einsatz von Seiten der Lehrkräfte in den Befragungen häufig mit mangelnder Ausstattung, fehlender Zeit und schlechter Vorbereitung durch Fortbildungen (Breiter et al. 2013). Für die Grundschulen sahen die Argumente ähnlich aus, die Nutzung war dort noch geringer – sicher auch wegen der noch schlechteren Ausstattung. Allerdings wurde auch deutlich, dass externe Gründe nicht die alleinige Ursache solcher Medienvermeidung darstellen, denn die Ausstattung lag in Deutschland mit einem Verhältnis von 1:11 (ein Computer auf elf Schülerinnen und Schüler) keinesfalls