»Ein Revolutionär, ein Bücherwurm, ein Spieler«. Zur politischen Physiognomie Diderots in Hans Magnus Enzensbergers Interview Diderot und das dunkle Ei
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Abstract
Hans Magnus Enzensbergers Hörspiel Das unheilvolle Portrait. Eine Mystifikation (1981) beginnt mit der harmlosen Frage, wer Denis Diderot eigentlich gewesen sei. Während sich der erste Sprecher (›Er‹) nurmehr daran erinnert, dass Diderot »ein berühmtes Lexikon geschrieben hat«,1 vermag der zweite Sprecher (›Ich‹) sofort eine längere Passage aus dessen Encyclopédie zu zitieren. Angesichts dieser überraschenden Kenntnisse stellt ›Er‹ mit leichtem Erstaunen fest: »Offenbar haben Sie einen Narren an diesem Schriftsteller gefressen.«2 Der zweite Sprecher bestätigt diese Einschätzung, indem er hervorhebt, dass die Encyclopédie »eines der Wunderwerke der europäischen Aufklärung« gewesen sei.3 Da sein Gesprächspartner jedoch wenig Begeisterung für dieses Nachschlagewerk aufbringt, wechselt der zweite Sprecher das Themengebiet und formuliert eine anachronistische Würdigung des französischen Schriftstellers: »Denis Diderot war der genialste Hörspiel-Autor, der je gelebt hat.«4 Auch wenn diese Behauptung sofort die Skepsis des ersten Sprechers weckt, wird Diderot auf diese Weise attestiert, seiner Zeit künstlerisch weit voraus gewesen zu sein. Im Unterschied zur Encyclopédie, die im Grunde nur noch »ein nahrhaftes Fressen für Historiker und Holzwürmer« abgebe, seien Romane wie Le Neveu de Rameau oder Jacques le Fataliste erzählerisch derart avanciert und polyphon angelegt, dass sie »das Radio zum Tanzen« brächten.5 Um diesen Erfindungsreichtum nochmals hervorzuheben, rekurriert