{"title":"Dies ist (k)ein Immunitätsausweis: Überlegungen zu Paradoxien in der Pandemie","authors":"Andreas Vasilache","doi":"10.5771/9783748910688-61","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Die Frage nach der Notwendigkeit und Legitimität eines Immunitätsausweises und die kurze Debatte um seine Einführung im Mai 2020 (vgl. z.B. Becker/Schmoll 2020; Deutschlandfunk 2020; Ärzteblatt 2020; BoehmeNeßler 2020) bilden ein interessantes Beispiel für das in der Corona-Krise beobachtbare Spannungsverhältnis zwischen Legalität und Gesetzesgeltung einerseits und exekutiver wie privatrechtlicher Faktizität andererseits. So hatte das Bundesgesundheitsministerium die formelle Einführung eines Immunitätsausweises vorgeschlagen, dessen Träger*innen von unterschiedlichen antiviralen Einschränkungsmaßnahmen hätten ausgenommen werden sollen, wenn sie – entsprechend dem Gesetzentwurf – das Virus „wegen eines bestehenden Impfschutzes oder einer bestehenden Immunität nicht oder nicht mehr übertragen“ (Bundesministerium für Gesundheit 2020a: 21, vgl. auch 67, 75) können. Nun ist diese Initiative in weitgehender gesellschaftlicher und auch parteiübergreifender Einmütigkeit als grundund menschenrechtlich unzulässig, politisch wie ethisch illegitim und unter Gesichtspunkten gesellschaftlicher Solidarität gefährlich verworfen worden – während es zugleich zur faktischen Einführung von unterschiedlichen Formen von Immunitätsausweisen gekommen ist. Diese auf den ersten Blick paradoxe Gleichzeitigkeit von legislativer Zurückweisung einer Institutionalisierung eines Immunitätsausweises und seiner faktischen Etablierung steht im Zentrum der vorliegenden kurzen Überlegungen. Die öffentliche Kritik der ministerialen Idee zur formellen Einführung eines Immunitätsausweises war auf Grundsätzliches konzentriert (vgl. z.B. Becker/Schmoll 2020; Deutschlandfunk 2020; Boehme-Neßler 2020), da – neben vielen weiteren, auch medizinischen Argumenten – schon der ideelle Kern und Grundbestand eines solchen Ausweises zurückgewiesen worden ist. Dieser besteht darin, die Gewährung von Grundrechten und Teilhabemöglichkeiten unter den Vorbehalt einer medizinischen Prüfung und individuellen Unbedenklichkeitsfeststellung zu stellen. Der vorgeschlagene Immunitätsausweis ging dabei – sonst hätte es ja eines solchen Vorschlags nicht bedurft – erstens durch den Nachweis, nicht mehr infektiös","PeriodicalId":316035,"journal":{"name":"Kritik in der Krise","volume":"17 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"2020-11-23","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Kritik in der Krise","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.5771/9783748910688-61","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"","JCRName":"","Score":null,"Total":0}
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Abstract
Die Frage nach der Notwendigkeit und Legitimität eines Immunitätsausweises und die kurze Debatte um seine Einführung im Mai 2020 (vgl. z.B. Becker/Schmoll 2020; Deutschlandfunk 2020; Ärzteblatt 2020; BoehmeNeßler 2020) bilden ein interessantes Beispiel für das in der Corona-Krise beobachtbare Spannungsverhältnis zwischen Legalität und Gesetzesgeltung einerseits und exekutiver wie privatrechtlicher Faktizität andererseits. So hatte das Bundesgesundheitsministerium die formelle Einführung eines Immunitätsausweises vorgeschlagen, dessen Träger*innen von unterschiedlichen antiviralen Einschränkungsmaßnahmen hätten ausgenommen werden sollen, wenn sie – entsprechend dem Gesetzentwurf – das Virus „wegen eines bestehenden Impfschutzes oder einer bestehenden Immunität nicht oder nicht mehr übertragen“ (Bundesministerium für Gesundheit 2020a: 21, vgl. auch 67, 75) können. Nun ist diese Initiative in weitgehender gesellschaftlicher und auch parteiübergreifender Einmütigkeit als grundund menschenrechtlich unzulässig, politisch wie ethisch illegitim und unter Gesichtspunkten gesellschaftlicher Solidarität gefährlich verworfen worden – während es zugleich zur faktischen Einführung von unterschiedlichen Formen von Immunitätsausweisen gekommen ist. Diese auf den ersten Blick paradoxe Gleichzeitigkeit von legislativer Zurückweisung einer Institutionalisierung eines Immunitätsausweises und seiner faktischen Etablierung steht im Zentrum der vorliegenden kurzen Überlegungen. Die öffentliche Kritik der ministerialen Idee zur formellen Einführung eines Immunitätsausweises war auf Grundsätzliches konzentriert (vgl. z.B. Becker/Schmoll 2020; Deutschlandfunk 2020; Boehme-Neßler 2020), da – neben vielen weiteren, auch medizinischen Argumenten – schon der ideelle Kern und Grundbestand eines solchen Ausweises zurückgewiesen worden ist. Dieser besteht darin, die Gewährung von Grundrechten und Teilhabemöglichkeiten unter den Vorbehalt einer medizinischen Prüfung und individuellen Unbedenklichkeitsfeststellung zu stellen. Der vorgeschlagene Immunitätsausweis ging dabei – sonst hätte es ja eines solchen Vorschlags nicht bedurft – erstens durch den Nachweis, nicht mehr infektiös