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Abstract
Mitten im ersten Weltkrieg, im Jahr 1916, öffnete sich in Zürich die Tür des ‚Cabaret Voltaire‘ und das, was sich schon lange anbahnte, bekommt einen Ort: den Club ‚Dada‘. „Es lebe das Chaos“ titelt am 29. Januar 2016 SPIEGEL-Online einen Artikel zum 100-jährigen Jubiläum dieser Kunstrichtung. Für wenige Jahre fasste der Dadaismus in den westlichen Metropolen Fuß. Zu der um dieselben Jahre herum geborenen Generation ihrer führenden Theoretiker und literarischen Praktiker zählten unter anderem in Berlin / Hannover Kurt Schwitters (1887–1948) und in Zürich Hugo Ball (1886–1927). Sie treiben ihre lyrischen Sprachund Wortspiele innerhalb der sprachlichen Paradigmen so weit wie es nur geht, überschreiten schließlich die Textualität und die Sprachlichkeit bei ihren ästhetischen Spielen und erreichen damit systematisch gesehen einen experimentellen Endpunkt, der nicht mehr erlaubt, ohne weiteres vom Sprachspiel zu reden. Deklamatorisch brachten die Dadaisten das Gegenprogramm zur traditionellen Strukturästhetik und bürgerlichen Autorästhetik ihrer Zeit auf den Punkt. Das hatte praktische Produktionsfolgen. Die Welt war im Schrecken des Weltkriegs aus den Fugen gegangen und nun auch die alte Kunstdoktrin. Die Prioritäten wurden umgestellt. Die klassizistischen ästhetischen Ideale der klischierten Formergebenheit des 19. Jahrhunderts waren erledigt. Nun triumphierte die ‚Karawane‘ (von Hugo Ball) gewissermaßen als Schlüsseltext neuer ästhetischer Prinzipien, die darauf ausgerichtet waren, den bekannten Aufbau irgendeiner herkömmlichen Semantik zu verunmöglichen. Die große dadaistische Dekonstruktion setzte auf literarischem Feld bei den sprachlichen Konventionen an und betrieb die Auflösung in einem breiten Spektrum. Es reicht von spielerischen Parodien bis hin zur totalen Amorphisierung sprachlichen Materials. Hier zwei Beispiele von Kurt Schwitters. In seinem angeblich „aus dem Chinesischen“ stammenden Gedicht ‚Banalitäten‘ (Abb. 1) spielt er parodistisch mit Allerwelts-Apophthegmata wie „Lügen haben kurze Beine“, „Eile mit Weile“, „Wie der Anfang, so das Ende“, „In der Kürze liegt die Würze“ oder dem Mephisto-Spruch aus dem zweiten Akt des ‚Faust‘: „Wer kann was Dummes, wer was Kluges denken, das nicht die Vorwelt schon gedacht?“ Solche Banal-Lehrsätze aus dem Weisheitskästchen des Spießbürgers werden umformuliert, untereinander permutiert und mit teils tautologischen Zwischen-