{"title":"„Kriminalität ist normal.“ Von Émile Durkheim zur aktuellen Kriminalsoziologie","authors":"D. Hermann","doi":"10.5771/9783748922186-175","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Für kritische Rationalisten wie Popper ist sowohl die Wissenschaft als auch die Wissenschaftsentwicklung rational.1 Sobald Hypothesen einer Theorie widerlegt sind, bedarf es einer Modifikation der Theorie. Nach Kuhn entwickelt sich die Wissenschaft in Phasen, deren Übergang durch die Auseinandersetzung mit Widersprüchen und Anomalien gekennzeichnet ist.2 Unter bestimmten Umständen führen diese zu einem Paradigmenwechsel und somit zu einer wissenschaftlichen Revolution. Bei diesem Prozess, insbesondere bei der Frage nach der Akzeptanz einer Theorie, würden auch nichtrationale Gründe relevant werden.3 Andere Wissenschaftstheoretiker betonen die Irrationalität der Theorieentwicklung noch deutlicher.4 Dafür scheint die Kriminalsoziologie ein gutes Beispiel zu sein. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts gab es Nachfolgemodelle der Theorie von Durkheim sowie andere Ansätze zur Erklärung von Kriminalität. Diese Konkurrenz von empirisch geprüften Theorien kann nach der Nomenklatur von Kuhn als „normale Wissenschaft“ bezeichnet werden. In den 1970er Jahren wurde eine intensive Diskussion geführt, die an eine vorparadigmatische Phase erinnert. Eine solche Phase ist nach Kuhn dadurch charakterisiert, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in erster Linie damit beschäftigt sind, andere von den Vorzügen der von ihnen präferierten Theorie zu überzeugen, wobei empirisch fundierte Argumente sekundär sind. Repräsentanten des normativen Paradigmas wurden von Anhängern der Labelingtheorie, Ethnomethodologie sowie gesellschaftskritischer Ansätze attackiert − und umgekehrt.5 Zum Teil wurde die Theorie1.","PeriodicalId":215954,"journal":{"name":"Das sogenannte Böse","volume":"14 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"2020-11-16","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Das sogenannte Böse","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.5771/9783748922186-175","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"","JCRName":"","Score":null,"Total":0}
引用次数: 0
Abstract
Für kritische Rationalisten wie Popper ist sowohl die Wissenschaft als auch die Wissenschaftsentwicklung rational.1 Sobald Hypothesen einer Theorie widerlegt sind, bedarf es einer Modifikation der Theorie. Nach Kuhn entwickelt sich die Wissenschaft in Phasen, deren Übergang durch die Auseinandersetzung mit Widersprüchen und Anomalien gekennzeichnet ist.2 Unter bestimmten Umständen führen diese zu einem Paradigmenwechsel und somit zu einer wissenschaftlichen Revolution. Bei diesem Prozess, insbesondere bei der Frage nach der Akzeptanz einer Theorie, würden auch nichtrationale Gründe relevant werden.3 Andere Wissenschaftstheoretiker betonen die Irrationalität der Theorieentwicklung noch deutlicher.4 Dafür scheint die Kriminalsoziologie ein gutes Beispiel zu sein. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts gab es Nachfolgemodelle der Theorie von Durkheim sowie andere Ansätze zur Erklärung von Kriminalität. Diese Konkurrenz von empirisch geprüften Theorien kann nach der Nomenklatur von Kuhn als „normale Wissenschaft“ bezeichnet werden. In den 1970er Jahren wurde eine intensive Diskussion geführt, die an eine vorparadigmatische Phase erinnert. Eine solche Phase ist nach Kuhn dadurch charakterisiert, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in erster Linie damit beschäftigt sind, andere von den Vorzügen der von ihnen präferierten Theorie zu überzeugen, wobei empirisch fundierte Argumente sekundär sind. Repräsentanten des normativen Paradigmas wurden von Anhängern der Labelingtheorie, Ethnomethodologie sowie gesellschaftskritischer Ansätze attackiert − und umgekehrt.5 Zum Teil wurde die Theorie1.