{"title":"Kontrollverlust oder Emanzipation, (a)sozial oder „ethisch geschult“? Das Publikum in der desinformierten Gesellschaft","authors":"R. Erlinger, Marc Ziegele","doi":"10.5771/9783748905158-261","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Vor einem halben Jahrhundert kritisierten die Forscher Peter Glotz und Wolfgang Langenbucher (1969), Journalismus schaue zu wenig auf seine Zielgruppen, und sie erfanden den Begriff des „missachteten Lesers“. In einer digitalen Gesellschaft, in der Journalisten kaum mehr Schleusenwärter sind, sondern das Publikum Quellen direkt nutzen sowie Kommentare und andere Äußerungen unmittelbar im Netz veröffentlichen kann, ist die Missachtung gar nicht mehr möglich. Das „beachtete Publikum“ ist die einzige Option (mehr hierzu in den Texten von Pierre Rieder und Daniel Fiene in diesem Band). Umgekehrt befinden wir uns in einer Gesprächsgesellschaft, in der die einen mit der digitalen Publikationsfreiheit sorgfältig umgehen, sich für Fragen des Sollens und des guten Lebens interessieren und sich darin schulen, andere aber mit vielerlei Inzivilität aufwarten. Dies zeigt ein Dilemma der Gesprächsgesellschaft, die ein (a)soziales Publikum generieren kann. Diesen Bandbreiten widmen sich die folgenden Interviews. Der Arzt, Jurist und Publizist Rainer Erlinger1 setzt sich seit zwei Jahrzehnten mit Gewissensfragen und Moral im Alltag auseinander – als Kolumnist, Vortragsredner und Gesprächspartner. Hier steht er Rede und Antwort zu seinen Erfahrungen mit dem „geschulten Publikum“. Marc Ziegele2 (2016a, 2016b, 2018) forscht unter anderem über Diskussionskultur im Internet. Darauf stützt er seine Einschätzungen zum (a)sozialen Publikum. (Interviewführung: Marlis Prinzing) 1 Rainer Erlinger beschäftigt sich aus den Blickwinkeln seiner drei Berufe mit dem Thema Verantwortung und daran geknüpften ethischen Fragen rund um Wahrheit und Lüge (vgl. u.a. Erlinger 2019). Als Jurist fokussiert er den Bereich des Verbots, als Publizist und Autor den des Gebots und schult sein Publikum in ethischen Abwägungen, z.B. von 2002-2018 in seiner Kolumne „Gewissensfrage“ im SZ-Magazin sowie in der WDR-Sendung richtig leben?! 2 Marc Ziegele ist seit 2018 Junior-Professor für politische Online-Kommunikation an der Universität Düsseldorf. Vor seiner Hochschullaufbahn war er Onlineredakteur beim Südwestrundfunk. Er forscht unter anderem über „Digitale Gesellschaft“, Demokratiekultur, Medienvertrauen und die Diskussionskultur im Internet. 263 https://doi.org/10.5771/9783748905158-261 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 12.12.2020, 05:02:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Rainer Erlinger – Das geschulte Publikum. Marlis Prinzing: Sie sind Publizist, Arzt und Jurist. Herr Erlinger. Wie haben diese Welten in einer Person zusammengefunden? Rainer Erlinger: Ich habe bereits die Schülerzeitung herausgegeben. Der Klassiker! Das Schreiben lag mir also nahe. Und mich haben Medizin und Jura interessiert. Also habe ich beides studiert. Als ich damit fertig war, war gerade die große Zeit des „Gen-Feuilletons“, also der gesellschaftlichen Diskussion über Fragen der aufstrebenden Biowissenschaften, insbesondere Genetik, Stichwort: Entschlüsselung des menschlichen Genoms. Die „Süddeutsche Zeitung“ hatte damals zumindest im Feuilleton keinen Mediziner oder Biowissenschaftler in der Redaktion und war daran interessiert, dass ich zu den Fragen der Biound Medizinethik speziell auch an der Schnittstelle zwischen Medizin und Recht schreibe: Also neben der Genetik etwa über Beginn und Ende des Lebens oder die Autonomie des Menschen. Dadurch bin ich zum Schreiben über die Ethik gekommen. Irgendwann kam die Idee auf, eine Kolumne über Alltagsethik im Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ aufzulegen, die „Gewissensfrage“. Ich wurde gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, sie zu schreiben. Ich sagte ja. Keiner hat damit gerechnet, dass es 17 Jahre werden würden. Die Botschaft dieser Beständigkeit Ihrer Kolumne „Gewissensfrage“ scheint eindeutig: Es besteht ein sehr großes öffentliches Interesse an ethischen Fragen – und inmitten der vielen Klagen und Sorgen wegen eines verrohenden Dialogs im Netz ist dies eine geradezu tröstliche Botschaft: Ein breites Publikum interessiert sich dafür, was man soll und wo die Grenzen sind – und bildet sich über Ihre Kolumnen in solchem Denken weiter, Sie schulen so ihr Publikum. Mir gefallen die beiden anderen Positionen – das (a)soziale Publikum und vor allem das beachtete Publikum – so gut, dass ich eigentlich gar nicht so sehr speziell für die Position des „geschulten Publikums“ stehen möchte. Die 17 Jahre bedeuten im Rückblick circa 850 veröffentlichte Kolumnen. Aber sie bedeuten auch – und damit kommen wir zum beachteten Publikum – zehnbis fünfzehntausend Fragen von Leserinnen und Leser, die ich gelesen und über die ich nachgedacht habe. Mein eigenes Arbeiten und Denken hat das sicher am nachhaltigsten beeinflusst: Dieses Erkennen der unglaublichen Mannigfaltigkeit der Fragen und der Tatsache, dass sich jedem Menschen aus seiner jeweiligen Lebensrealität und Perspektive Dinge etwas anders darstellen. Es gibt eine wundervolle Vorlesung von Hannah Arendt über Sokrates, in der sie die sogenannten Doxa erwähnt: Also die Idee, dass es für uns Sterbliche keine absolute Wahrheit gibt, von der 1. Rainer Erlinger, Marc Ziegele 264 https://doi.org/10.5771/9783748905158-261 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 12.12.2020, 05:02:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. zum Beispiel Platon ausging, oder wir sie zumindest nicht erkennen können, sondern nur die jeweiligen Doxa, also die auf Wahrnehmung fußenden Meinungen, weil sich die Wirklichkeit jedem einzelnen aus seiner Lebenswirklichkeit anders darstellt. Wichtig ist zu begreifen, dass auf der einen Seite jeder dieser Blickwinkel seine Berechtigung hat, dass aber auf der anderen Seite jeder oder zumindest der ethisch geschulte Mensch erkennen muss oder sollte, dass die eigene Meinung nicht die Wahrheit ist, sondern nur seine Perspektive auf die Wirklichkeit, die er oder sie vertritt, und deshalb sollte er sie auf eine Art und Weise vertreten, die ein Gegenüber idealerweise nicht verletzt. Weil dieses Gegenüber eine andere Perspektive auf die Wirklichkeit hat. Deshalb ist auch beim Blick auf das Publikum notwendig, diese verschiedenen Blickwinkel mit zu betrachten. Der „geschulte“ Leser kann also manchmal, wie seine Frage zeigt, wirklich etwas wissen wollen, vielleicht auch, ob sein Blick auf die Wirklichkeit, seine Doxa zutreffend ist, manchmal tritt er aber auch als Wutbürger auf, der davon überzeugt ist, dass seine Sicht die einzig richtige, die absolute Wahrheit ist. Hatten Sie es vor allem mit einem wohlwollenden Publikum zu tun? Naja, im Allgemeinen schon, aber ich war auch froh, dass ich eine Auswahl treffen konnte aus den Fragen, die mich erreichten. Das heißt, Sie hatten auch schwierige Fragen schwieriger Personen auf dem Tisch? Die gab es. Aber speziell als Jurist hatte ich immer auch einen Blick darauf, wann jemand in seinem Schreiben an mich einen bestimmten Hintergedanken verfolgte und nicht nur etwas fragen wollte. Die Idee meiner Kolumne war, dass sie immer eher neutral sein sollte; ob am Ende ein Ja oder Nein von mir darunter stand, war für mich relativ unbedeutend. Denn von der Schlussfolgerung in diesem einen speziellen Fall haben die Leser wenig. Interessant sind in erster Linie Weg und Herleitung meiner Betrachtung, ein philosophischer Gedanke oder Gedankengang, den man in solchen Fällen anwenden kann, wie man eine Sache sehen kann und was wichtig für eine Bewertung ist. Kontrollverlust oder Emanzipation, (a)sozial oder „ethisch geschult“? 265 https://doi.org/10.5771/9783748905158-261 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 12.12.2020, 05:02:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Welche Erklärung haben Sie für die Wut, die in manchen Rezipierenden steckt? Ich habe sehr oft die Beobachtung gemacht – deshalb gefällt mir der Begriff des „beachteten“ Lesers so gut – dass die größte Kränkung für Menschen überhaupt das Gefühl ist, nicht gehört, nicht beachtet zu werden. Es gibt typische Themen, bei denen man oft schon im ersten Satz wusste, worauf der Briefautor hinauswollte: Bei Erbschaftssachen zum Beispiel. Da konnte man das oft direkt sehen: Aha, da will jetzt jemand seine Position deutlich machen und hören, dass er oder sie ungerecht behandelt wurde. Da kam häufig im Laufe des Briefes ein Satz wie: „Ja, meine Schwester ist ja schon immer bevorzugt worden.“ Darin ließ sich erkennen, dass es eigentlich gar nicht so sehr um die Erbaufteilung ging, sondern um eine Zurücksetzung und langes Nichtbeachten oder das zumindest so empfunden wurde. Ich glaube, dass genau das im Großen auch gerade in unserer Gesellschaft passiert. Vielen Menschen, die sich beschweren oder auf die Barrikaden gehen, geht es in Wahrheit gar nicht um das, worüber gerade gestritten wird, sondern um ein Gefühl, ähnlich wie im Erbschaftsbeispiel: „Den anderen hat man ja schon immer lieber gehabt und sich besser um ihn gekümmert als um mich.“ Kommunikation kann verletzen und krank machen, aber auch konstruktiv sein, selbst bei strittigen Themen. Welche Methode war für Sie entscheidend, um einen verantwortungsorientierten Publikumsdialog zu fördern? Ich habe immer meine Aufgabe darin gesehen, wenn möglich jede Position in die Antwort aufzunehmen – damit meine ich nicht, sie einzunehmen. Es hat mich immer geärgert, wenn ich einen Leserbrief mit dem Vorwurf bekam, ich hätte eine Position nicht beachtet – weil schlicht und einfach manchmal der Platz nicht gereicht hat, diesen Aspekt, den ich nicht für entscheidend halte, explizit hinzuschreiben. Aber noch mehr hat es mich geärgert, wenn ich tatsächlich einen wichtigen Aspekt übersehen hatte. Eben weil es mir so wichtig war, alle Aspekte zu würdigen. Das war vermutlich auch ein Grund, warum die Kolumne so überraschend lange funktioniert hat: Eben dass jeder, auch wenn er mir nicht folgen wollte oder konnte, das Gefühl hatte, dass diese andere Betrachtungsweise auch Eingang gefunden hat. Das Gefühl: Ich bin beachtet worden. Genau. 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Abstract
Vor einem halben Jahrhundert kritisierten die Forscher Peter Glotz und Wolfgang Langenbucher (1969), Journalismus schaue zu wenig auf seine Zielgruppen, und sie erfanden den Begriff des „missachteten Lesers“. In einer digitalen Gesellschaft, in der Journalisten kaum mehr Schleusenwärter sind, sondern das Publikum Quellen direkt nutzen sowie Kommentare und andere Äußerungen unmittelbar im Netz veröffentlichen kann, ist die Missachtung gar nicht mehr möglich. Das „beachtete Publikum“ ist die einzige Option (mehr hierzu in den Texten von Pierre Rieder und Daniel Fiene in diesem Band). Umgekehrt befinden wir uns in einer Gesprächsgesellschaft, in der die einen mit der digitalen Publikationsfreiheit sorgfältig umgehen, sich für Fragen des Sollens und des guten Lebens interessieren und sich darin schulen, andere aber mit vielerlei Inzivilität aufwarten. Dies zeigt ein Dilemma der Gesprächsgesellschaft, die ein (a)soziales Publikum generieren kann. Diesen Bandbreiten widmen sich die folgenden Interviews. Der Arzt, Jurist und Publizist Rainer Erlinger1 setzt sich seit zwei Jahrzehnten mit Gewissensfragen und Moral im Alltag auseinander – als Kolumnist, Vortragsredner und Gesprächspartner. Hier steht er Rede und Antwort zu seinen Erfahrungen mit dem „geschulten Publikum“. Marc Ziegele2 (2016a, 2016b, 2018) forscht unter anderem über Diskussionskultur im Internet. Darauf stützt er seine Einschätzungen zum (a)sozialen Publikum. (Interviewführung: Marlis Prinzing) 1 Rainer Erlinger beschäftigt sich aus den Blickwinkeln seiner drei Berufe mit dem Thema Verantwortung und daran geknüpften ethischen Fragen rund um Wahrheit und Lüge (vgl. u.a. Erlinger 2019). Als Jurist fokussiert er den Bereich des Verbots, als Publizist und Autor den des Gebots und schult sein Publikum in ethischen Abwägungen, z.B. von 2002-2018 in seiner Kolumne „Gewissensfrage“ im SZ-Magazin sowie in der WDR-Sendung richtig leben?! 2 Marc Ziegele ist seit 2018 Junior-Professor für politische Online-Kommunikation an der Universität Düsseldorf. Vor seiner Hochschullaufbahn war er Onlineredakteur beim Südwestrundfunk. Er forscht unter anderem über „Digitale Gesellschaft“, Demokratiekultur, Medienvertrauen und die Diskussionskultur im Internet. 263 https://doi.org/10.5771/9783748905158-261 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 12.12.2020, 05:02:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Rainer Erlinger – Das geschulte Publikum. Marlis Prinzing: Sie sind Publizist, Arzt und Jurist. Herr Erlinger. Wie haben diese Welten in einer Person zusammengefunden? Rainer Erlinger: Ich habe bereits die Schülerzeitung herausgegeben. Der Klassiker! Das Schreiben lag mir also nahe. Und mich haben Medizin und Jura interessiert. Also habe ich beides studiert. Als ich damit fertig war, war gerade die große Zeit des „Gen-Feuilletons“, also der gesellschaftlichen Diskussion über Fragen der aufstrebenden Biowissenschaften, insbesondere Genetik, Stichwort: Entschlüsselung des menschlichen Genoms. Die „Süddeutsche Zeitung“ hatte damals zumindest im Feuilleton keinen Mediziner oder Biowissenschaftler in der Redaktion und war daran interessiert, dass ich zu den Fragen der Biound Medizinethik speziell auch an der Schnittstelle zwischen Medizin und Recht schreibe: Also neben der Genetik etwa über Beginn und Ende des Lebens oder die Autonomie des Menschen. Dadurch bin ich zum Schreiben über die Ethik gekommen. Irgendwann kam die Idee auf, eine Kolumne über Alltagsethik im Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ aufzulegen, die „Gewissensfrage“. Ich wurde gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, sie zu schreiben. Ich sagte ja. Keiner hat damit gerechnet, dass es 17 Jahre werden würden. Die Botschaft dieser Beständigkeit Ihrer Kolumne „Gewissensfrage“ scheint eindeutig: Es besteht ein sehr großes öffentliches Interesse an ethischen Fragen – und inmitten der vielen Klagen und Sorgen wegen eines verrohenden Dialogs im Netz ist dies eine geradezu tröstliche Botschaft: Ein breites Publikum interessiert sich dafür, was man soll und wo die Grenzen sind – und bildet sich über Ihre Kolumnen in solchem Denken weiter, Sie schulen so ihr Publikum. Mir gefallen die beiden anderen Positionen – das (a)soziale Publikum und vor allem das beachtete Publikum – so gut, dass ich eigentlich gar nicht so sehr speziell für die Position des „geschulten Publikums“ stehen möchte. Die 17 Jahre bedeuten im Rückblick circa 850 veröffentlichte Kolumnen. Aber sie bedeuten auch – und damit kommen wir zum beachteten Publikum – zehnbis fünfzehntausend Fragen von Leserinnen und Leser, die ich gelesen und über die ich nachgedacht habe. Mein eigenes Arbeiten und Denken hat das sicher am nachhaltigsten beeinflusst: Dieses Erkennen der unglaublichen Mannigfaltigkeit der Fragen und der Tatsache, dass sich jedem Menschen aus seiner jeweiligen Lebensrealität und Perspektive Dinge etwas anders darstellen. Es gibt eine wundervolle Vorlesung von Hannah Arendt über Sokrates, in der sie die sogenannten Doxa erwähnt: Also die Idee, dass es für uns Sterbliche keine absolute Wahrheit gibt, von der 1. Rainer Erlinger, Marc Ziegele 264 https://doi.org/10.5771/9783748905158-261 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 12.12.2020, 05:02:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. zum Beispiel Platon ausging, oder wir sie zumindest nicht erkennen können, sondern nur die jeweiligen Doxa, also die auf Wahrnehmung fußenden Meinungen, weil sich die Wirklichkeit jedem einzelnen aus seiner Lebenswirklichkeit anders darstellt. Wichtig ist zu begreifen, dass auf der einen Seite jeder dieser Blickwinkel seine Berechtigung hat, dass aber auf der anderen Seite jeder oder zumindest der ethisch geschulte Mensch erkennen muss oder sollte, dass die eigene Meinung nicht die Wahrheit ist, sondern nur seine Perspektive auf die Wirklichkeit, die er oder sie vertritt, und deshalb sollte er sie auf eine Art und Weise vertreten, die ein Gegenüber idealerweise nicht verletzt. Weil dieses Gegenüber eine andere Perspektive auf die Wirklichkeit hat. Deshalb ist auch beim Blick auf das Publikum notwendig, diese verschiedenen Blickwinkel mit zu betrachten. Der „geschulte“ Leser kann also manchmal, wie seine Frage zeigt, wirklich etwas wissen wollen, vielleicht auch, ob sein Blick auf die Wirklichkeit, seine Doxa zutreffend ist, manchmal tritt er aber auch als Wutbürger auf, der davon überzeugt ist, dass seine Sicht die einzig richtige, die absolute Wahrheit ist. Hatten Sie es vor allem mit einem wohlwollenden Publikum zu tun? Naja, im Allgemeinen schon, aber ich war auch froh, dass ich eine Auswahl treffen konnte aus den Fragen, die mich erreichten. Das heißt, Sie hatten auch schwierige Fragen schwieriger Personen auf dem Tisch? Die gab es. Aber speziell als Jurist hatte ich immer auch einen Blick darauf, wann jemand in seinem Schreiben an mich einen bestimmten Hintergedanken verfolgte und nicht nur etwas fragen wollte. Die Idee meiner Kolumne war, dass sie immer eher neutral sein sollte; ob am Ende ein Ja oder Nein von mir darunter stand, war für mich relativ unbedeutend. Denn von der Schlussfolgerung in diesem einen speziellen Fall haben die Leser wenig. Interessant sind in erster Linie Weg und Herleitung meiner Betrachtung, ein philosophischer Gedanke oder Gedankengang, den man in solchen Fällen anwenden kann, wie man eine Sache sehen kann und was wichtig für eine Bewertung ist. Kontrollverlust oder Emanzipation, (a)sozial oder „ethisch geschult“? 265 https://doi.org/10.5771/9783748905158-261 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 12.12.2020, 05:02:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Welche Erklärung haben Sie für die Wut, die in manchen Rezipierenden steckt? Ich habe sehr oft die Beobachtung gemacht – deshalb gefällt mir der Begriff des „beachteten“ Lesers so gut – dass die größte Kränkung für Menschen überhaupt das Gefühl ist, nicht gehört, nicht beachtet zu werden. Es gibt typische Themen, bei denen man oft schon im ersten Satz wusste, worauf der Briefautor hinauswollte: Bei Erbschaftssachen zum Beispiel. Da konnte man das oft direkt sehen: Aha, da will jetzt jemand seine Position deutlich machen und hören, dass er oder sie ungerecht behandelt wurde. Da kam häufig im Laufe des Briefes ein Satz wie: „Ja, meine Schwester ist ja schon immer bevorzugt worden.“ Darin ließ sich erkennen, dass es eigentlich gar nicht so sehr um die Erbaufteilung ging, sondern um eine Zurücksetzung und langes Nichtbeachten oder das zumindest so empfunden wurde. Ich glaube, dass genau das im Großen auch gerade in unserer Gesellschaft passiert. Vielen Menschen, die sich beschweren oder auf die Barrikaden gehen, geht es in Wahrheit gar nicht um das, worüber gerade gestritten wird, sondern um ein Gefühl, ähnlich wie im Erbschaftsbeispiel: „Den anderen hat man ja schon immer lieber gehabt und sich besser um ihn gekümmert als um mich.“ Kommunikation kann verletzen und krank machen, aber auch konstruktiv sein, selbst bei strittigen Themen. Welche Methode war für Sie entscheidend, um einen verantwortungsorientierten Publikumsdialog zu fördern? Ich habe immer meine Aufgabe darin gesehen, wenn möglich jede Position in die Antwort aufzunehmen – damit meine ich nicht, sie einzunehmen. Es hat mich immer geärgert, wenn ich einen Leserbrief mit dem Vorwurf bekam, ich hätte eine Position nicht beachtet – weil schlicht und einfach manchmal der Platz nicht gereicht hat, diesen Aspekt, den ich nicht für entscheidend halte, explizit hinzuschreiben. Aber noch mehr hat es mich geärgert, wenn ich tatsächlich einen wichtigen Aspekt übersehen hatte. Eben weil es mir so wichtig war, alle Aspekte zu würdigen. Das war vermutlich auch ein Grund, warum die Kolumne so überraschend lange funktioniert hat: Eben dass jeder, auch wenn er mir nicht folgen wollte oder konnte, das Gefühl hatte, dass diese andere Betrachtungsweise auch Eingang gefunden hat. Das Gefühl: Ich bin beachtet worden. Genau. Da kommt bei mir auch wiede