{"title":"Naiver Realismus? Zur Gegenständlichkeit des Sammelns","authors":"Christian Benne,","doi":"10.1515/9783110696479-002","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Stellen wir uns für einen Moment eine weidende Kuh vor, die gemeinsam mit Artgenossen grast. Unser Weltwissen erlaubt uns, sie einer Herde zuzuordnen (was möglicherweise gar nicht den Tatsachen entspricht). Würden wir die Herde eine ‚Sammlung‘ von Kühen nennen? Laut der relevanten Definition aus dem Grimm’schen Wörterbuch bezeichnet die Sammlung „eine nach bestimmten gesichtspunkten wissenschaftlicher, künstlerischer zwecke oder der liebhaberei zusammengebrachte und geordnete menge von gegenständen“ (Deutsches Wörterbuch 1854ff. [Lemma: „Sammlung“]). Weder ist die Integrität das Prinzip der Bewahrung einer Kuhherde noch Selbstzweck Prinzip ihrer Funktion. Selbst eine Herde, die unter wissenschaftlicher Anleitung und unabhängig von Milchoder Fleischproduktion zusammengestellt wurde (etwa im Hinblick auf genetische Studien), wäre in unserem Sprachgebrauch keine Sammlung. Die Kuh wäre folglich auch kein Sammlerobjekt. Stellen wir uns nun das Gemälde einer Kuh vor, beispielsweise die Liegende Kuh (1883) von Vincent van Gogh. Wir könnten sagen, dass diese einzelne Kuh Teil einer Sammlung sei, allerdings eben einer Gemäldesammlung. Nicht die Kuh, sondern ihre Abbildung gehört in die Sammlung, wobei über den Charakter der Sammlung damit noch nichts ausgesagt ist. Es könnte sich um eine Sammlung nur von Tierporträts handeln oder gar um eine Sammlung, die sich allein auf die Repräsentationen von Nutztieren spezialisiert. Es könnte sich freilich auch um eine Sammlung niederländischer Malerei handeln, um einen reinen Van Gogh-Bestand usf.: Sammlungen müssen offenbar implizit oder explizit die Kriterien mitliefern, die zu ihrer Konstitution geführt haben, sonst können sie nicht als solche erkannt werden. Letzter Fall: wir befinden uns in einer Ausstellung, in der eine echte, ehemals lebendige Kuh (und nicht nur ihr Abbild) ausgestellt wird. Ich denke etwa an Damien Hirsts berühmte, in Formaldehyd eingelegte und längs geteilte Kuh aus dem Kunstwerk Mother and Child, Divided (1993; heute im Astrup Fearnley Museum Oslo). Hier haben wir es tatsächlich mit einer Kuh zu tun, die Teil einer Sammlung ist. Indes wäre die Erkenntnis, dass es sich bei dem Gegenstand um eine Kuh handelt, unterkomplex und wenig hilfreich für eine anspruchsvollere Aneignung des Werks. Damien Hirsts Kuh als bloße Kuh zu identifizieren, wäre","PeriodicalId":346297,"journal":{"name":"Logiken der Sammlung","volume":"37 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"2020-04-06","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Logiken der Sammlung","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.1515/9783110696479-002","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"","JCRName":"","Score":null,"Total":0}
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Abstract
Stellen wir uns für einen Moment eine weidende Kuh vor, die gemeinsam mit Artgenossen grast. Unser Weltwissen erlaubt uns, sie einer Herde zuzuordnen (was möglicherweise gar nicht den Tatsachen entspricht). Würden wir die Herde eine ‚Sammlung‘ von Kühen nennen? Laut der relevanten Definition aus dem Grimm’schen Wörterbuch bezeichnet die Sammlung „eine nach bestimmten gesichtspunkten wissenschaftlicher, künstlerischer zwecke oder der liebhaberei zusammengebrachte und geordnete menge von gegenständen“ (Deutsches Wörterbuch 1854ff. [Lemma: „Sammlung“]). Weder ist die Integrität das Prinzip der Bewahrung einer Kuhherde noch Selbstzweck Prinzip ihrer Funktion. Selbst eine Herde, die unter wissenschaftlicher Anleitung und unabhängig von Milchoder Fleischproduktion zusammengestellt wurde (etwa im Hinblick auf genetische Studien), wäre in unserem Sprachgebrauch keine Sammlung. Die Kuh wäre folglich auch kein Sammlerobjekt. Stellen wir uns nun das Gemälde einer Kuh vor, beispielsweise die Liegende Kuh (1883) von Vincent van Gogh. Wir könnten sagen, dass diese einzelne Kuh Teil einer Sammlung sei, allerdings eben einer Gemäldesammlung. Nicht die Kuh, sondern ihre Abbildung gehört in die Sammlung, wobei über den Charakter der Sammlung damit noch nichts ausgesagt ist. Es könnte sich um eine Sammlung nur von Tierporträts handeln oder gar um eine Sammlung, die sich allein auf die Repräsentationen von Nutztieren spezialisiert. Es könnte sich freilich auch um eine Sammlung niederländischer Malerei handeln, um einen reinen Van Gogh-Bestand usf.: Sammlungen müssen offenbar implizit oder explizit die Kriterien mitliefern, die zu ihrer Konstitution geführt haben, sonst können sie nicht als solche erkannt werden. Letzter Fall: wir befinden uns in einer Ausstellung, in der eine echte, ehemals lebendige Kuh (und nicht nur ihr Abbild) ausgestellt wird. Ich denke etwa an Damien Hirsts berühmte, in Formaldehyd eingelegte und längs geteilte Kuh aus dem Kunstwerk Mother and Child, Divided (1993; heute im Astrup Fearnley Museum Oslo). Hier haben wir es tatsächlich mit einer Kuh zu tun, die Teil einer Sammlung ist. Indes wäre die Erkenntnis, dass es sich bei dem Gegenstand um eine Kuh handelt, unterkomplex und wenig hilfreich für eine anspruchsvollere Aneignung des Werks. Damien Hirsts Kuh als bloße Kuh zu identifizieren, wäre