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Abstract
Seit dem Ausgang des 20. Jahrhunderts hat die Rede über Politik einen bemerkenswerten Wandel durchlaufen. Der politische Diskurs der Nachkriegsjahrzehnte war zweigeteilt. Das Handeln der Entscheidungseliten wurde lange von optimistischen Annahmen über Entwicklung, Wachstum, Modernisierung, Reformfähigkeit und Steuerbarkeit der Gesellschaft geleitet, sowohl im nationalen Rahmen als auch hinsichtlich einer sich angeblich abzeichnenden »Weltinnenpolitik«.1 Bei den Deutungseliten hingegen herrschte eine ideologiekritische Sichtweise vor, verbunden mit dem Impuls, gegen jedwede hegemoniale Ordnung und Sinnzumutung aufzubegehren – bis hin zu der postmodernen Absage, die Jean-François Lyotard allen großen Erzählungen von Emanzipation und Fortschritt seit der Aufklärung erteilte.2 So entgegengesetzt diese beiden Haltungen schienen, rücken sie doch im Rückblick zu einem spannungsvollen Komplex zusammen. Denn der in akademischen Kreisen geltende Imperativ, die bestehenden Verhältnisse mit den Mitteln der Theorie zu destabilisieren, setzte die Stabilität eben dieser Verhältnisse wie auch der institutionellen Rahmenbedingungen, innerhalb derer er ausagiert wurde, mehr oder minder stillschweigend voraus. Inzwischen hat sich die Konstellation umgekehrt. Mit abnehmenden Wachstumsraten in den Industriestaaten seit den 1970er Jahren und dem dadurch bedingten Ende der »Blütezeit der sozialen Moderne«3 haben sich Spielräume und Planungseuphorie der Entscheider spürbar vermindert. Auch der Impetus des Wiederaufbaus und der Errichtung einer Friedensordnung, der die – durch den Zusammenbruch des Sowjetimperiums I.