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Abstract
Michel Foucaults Begriff Biomacht (vgl. Foucault 1977a: 159ff.) beschreibt eine spezifisch moderne Wissensund Machtordnung, die das menschliche Leben zum Objekt hat. Dessen Steigerung, Vermehrung, Verbesserung und Nutzbarmachung ist ihr Ziel. Biomacht ist gemeinsam mit der kapitalistischen Produktionsweise entstanden, ermöglicht und stützt diese durch die Sicherung von Arbeitskraft. Kapitalakkumulation ermöglicht umgekehrt weitere Lebenssteigerung. Zielt der Begriff Biomacht zwar auf die wissenschaftliche und politische Ordnung der meisten gesellschaftlichen Felder, ist die Gesundheitsversorgung ein Paradebeispiel. Da ist es naheliegend, dass auch die Bekämpfung des SARS-CoV-2-Virus mit dem Biomacht-Konzept zu fassen versucht wird. Zwei zentrale Punkte scheinen mir dabei bisher zu kurz zu kommen: Erstens spielen neben biopolitischen Mechanismen der statistischen Bevölkerungsvermessung und -normalisierung immer auch Disziplinartechniken und Mechanismen der Souveränität ihre spezifischen Rollen für die Verwirklichung der Biomacht. Das zeigt sich insbesondere in Krisenzeiten wie diesen, wenn einstmals zurückgedrängte Mechanismen von der politischen Ordnungsmacht wieder ausgeweitet werden. Um das zu verdeutlichen, wird im ersten Abschnitt zunächst die Entwicklung des modernen Gesundheitsdispositivs skizziert (I.), um anschließend Maßnahmen der Pandemiebekämpfung exemplarisch nach Regierungsrationalitäten zu differenzieren (II.). Zweitens vernachlässigen bisherige Darstellungen die Biopolitische Grenzziehung, die ein konstitutives Moment jeder Biomacht darstellt und Gegenstand des dritten Kapitels sein wird (III.). Zäsuren zu Bevölkerungsgruppen, die dem Tod mit erhöhter Wahrscheinlichkeit legitim überlassen werden, sind in der Gesundheitsversorgung immer anwesend, erhalten jedoch in einer beispiellosen Krise wie dieser traurige Virulenz. Im letzten Abschnitt wird die Auffassung vertreten, dass eine Linke die tragische Sichtbarwerdung der Zäsuren dafür nutzen kann, einerseits nach der Universalisierung des biopolitischen Prinzips und andererseits nach der Aneignung der Produktivkräfte von Biomacht zu streben (IV.).