{"title":"新的反犹之争","authors":"H. Reuter","doi":"10.14315/zee-2020-640404","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Vor 140 Jahren machte im deutschen Kaiserreich eine Kontroverse Schlagzeilen, in der Intellektuelle der Hauptstadt heftig über die Integrationsfähigkeit der Juden in die deutsche Nation stritten. Die Debatte schob nicht nur den politischen Zionismus kräftig an, sie verhalf auch, lange bevor sie als Berliner Antisemitismusstreit in die Annalen einging, einem von Judenfeinden des ausgehenden 19. Jahrhunderts erfundenen Begriff zu nachhaltiger Popularität: dem »Antisemitismus«. Genau genommen ist er falsch – bezieht er sich doch nicht auf Juden, sondern auf eine ganze Sprachfamilie. Schon deshalb ist Präzision geboten. Als Minimalkonsens der Forschung lässt sich festhalten: Antisemitismus bezeichnet die ressentimentgeleitete Abwertung von Menschen als Juden, die sich stereotyper kultureller Deutungsmuster bedient. Auch über seine wichtigsten historischen Ausdrucksformen besteht weitgehend Einigkeit: den religiösen Antijudaismus des traditionellen Christentums, den im Mittelalter aufkommenden sozialen Antisemitismus, der an die Abdrängung der Juden in bestimmte Berufe (namentlich solche der Handelsund Kapitalsphäre) anknüpft, den (anti-)modernen europäischen Antisemitismus mit seinen verschwörungsmythischen, nationalistischen und rassistischen Ideologien, sowie den spezifisch deutschen sekundären Antisemitismus, der sich als Schuldabwehr-Reaktion auf die Verbrechen des Nationalsozialismus darstellt, den Holocaust leugnet bzw. relativiert oder qua Täter-Opfer-Umkehr die Juden beispielsweise bezichtigt, aus Auschwitz Profit zu schlagen. Gibt es seit der Jahrtausendwende über den altbekannten hinaus einen neuen, israelbezogenen Antisemitismus? Soll dieser besagen, dass judenfeindliche Klischees auf den israelischen Staat projiziert werden, oder, was nicht dasselbe wäre, dass politische Israelkritik auf alle Juden gleich welcher Nationalität übertragen wird? Geht er auf die Religion muslimischer Zuwanderer zurück oder reagiert er auf den Nahostkonflikt? Wie wäre legitime von antisemitischer Israelkritik abzugrenzen? Kommt der neue Antisemitismus von links statt – wie zumeist der alte – von rechts? Dazu sind die Meinungen, Befunde und ihre Deutung kontrovers. Hält man sich einstweilen an die antisemitischen Straftaten – der mörderische Anschlag auf die Synagoge zu Halle ist noch in schockierender Erinnerung –, so gehen sie nach den amtlichen Zahlen für 2019 zu 93,4 Prozent auf politisch motivierte Kriminalität von rechts zurück. Auch die Selbstauskünfte der Opfer antisemitischer Vorfälle, die neuerdings in ein Register des Bundesverbands der Rechercheund Informationsstellen Antisemitismus e.V. (RIAS) eingetragen werden können, sprechen für einen deutlichen Vorrang der Übergriffe mit politisch rechts(extrem) gerichtetem Hintergrund. Kommentar","PeriodicalId":41129,"journal":{"name":"ZEITSCHRIFT FUR EVANGELISCHE ETHIK","volume":"64 1","pages":"244 - 249"},"PeriodicalIF":0.1000,"publicationDate":"2020-10-01","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":"{\"title\":\"Der neue Antisemitismusstreit\",\"authors\":\"H. Reuter\",\"doi\":\"10.14315/zee-2020-640404\",\"DOIUrl\":null,\"url\":null,\"abstract\":\"Vor 140 Jahren machte im deutschen Kaiserreich eine Kontroverse Schlagzeilen, in der Intellektuelle der Hauptstadt heftig über die Integrationsfähigkeit der Juden in die deutsche Nation stritten. Die Debatte schob nicht nur den politischen Zionismus kräftig an, sie verhalf auch, lange bevor sie als Berliner Antisemitismusstreit in die Annalen einging, einem von Judenfeinden des ausgehenden 19. 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