{"title":"德古拉年化国家主义集体运动会(审查)","authors":"Marén Möhring","doi":"10.1353/fmt.2021.0026","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Formen und Formwandel der nationalsozialistischenMassenspiele stehen im Zentrum der materialreichenundanschaulichillustriertenStudieder TheaterwissenschaftlerinEvelynAnnuß.Aus gouvernementalitätstheoretischer Perspektive fragt die Autorin nach den mit der Machteinsetzung Hitlers sich entwickelnden und mit der Konsolidierung des nationalsozialistischen Regimes verändernden Regierungstechniken, die im Theater (mit)gestaltet und erprobt wurden. Dem viel diskutierten Zusammenhang von Ästhetik und Politik imNationalsozialismuswidmet sie sich, indem siedenFoucaultschenBegriffderRegierungskunst ernst nimmt und die ästhetischen „Angebote [. . .] undTechnikenderSelbstlenkung,dievonTheaterleuten entwickelt“ wurden (S. 2), einer eingehendenUntersuchung unterzieht. Es geht der Autorin damit nicht um eine Ideologieoder Repräsentationskritik, sondernumdasperformativeMoment derVergemeinschaftungundaffektiveFormender Subjektivierung, mithin um die NS-Regierungskünste als körpergebundene Techniken. Die Rolle der sich etablierenden Theaterwissenschaften als „anwendungsorientierte szenische Forschung“ (S. 59) aufdiesemFeldpräzise auszuloten, istdabei das fachhistorisch spezifizierte Ziel der Studie. In gut nachvollziehbaren Analysen einzelner paradigmatischer Inszenierungen skizziert Annuß den Weg vom bereits 1933 erprobten Stadionspiel über das 1934 mit dem Bau von Freilufttheatern forcierte Thingspiel bis hin zum Unterhaltungsspektakel mit Massenornament, das seit den Olympischen Spielen von 1936 das Gesicht der NS-Massenspiele prägen sollte, bevor der Krieg derartige Großevents verunmöglichte. Auf einer breiten Quellenbasis, die Material aus zahlreichen privaten, städtischen und staatlichen Archiven und Nachlässen sowie eine beeindruckende Bandbreite an zeitgenössischen Periodika und Zeitungen, aber auch Partituren, Fotografien und Filmen umfasst, werden die ästhetischen Eigenlogiken der verschiedenen Massenspiele minutiös herausgearbeitet. Dabei geraten sowohl der experimentelle Charakter des Theaterschaffens als auch die konfliktträchtigen Konkurrenzverhältnisse zwischen den maßgeblichen Protagonist*innen in den Blick, denn auch auf dem Feld der Propaganda lässt sich die vielfach konstatierte Polyzentrik der NS-Herrschaft beobachten. Dies macht nicht zuletzt die Rede von der NS-Ästhetik obsolet, wie die Verfasserin zu Recht betont. In ihren Analysen bleibt Annuß jedoch nicht beim einzelnen Fallbeispiel stehen. Es gelingt der Autorin vielmehr sehr gut, einerseits die historischen Vorläufer der untersuchten Formelemente – von Turnvater Jahns Vergemeinschaftungsversuchen über das Volkstheater und proletarische Weihespiele bis hin zum wagnerischen Jubelchor – herauszuarbeiten und dabei stets auch die Strukturund Formdifferenzen aufzuzeigen. Im frühen NS-Massenspiel zeigte sich beispielsweise noch die prägende Kraft des Ausdruckstanzes und mithin der künstlerischen Avantgarde, die sich teils mit dem NS-Regime arrangierte und, wie die Autorin argumentiert, nun auf etwas Neues, i. e. eine „nationalsozialistische [. . .] andere [. . .] Moderne“ (S. 25) abzielte. Der Rückgriff auf die christliche Liturgie mit ihren etablierten Ritualen wiederum half, qua Zitation und Resignifizierung, neue Führungstechniken durchzusetzen. Andererseits gelingt es Annuß, durch Vergleiche mit Formexperimenten in anderen Ländern – etwa Mussolinis Theater der Zwanzigtausend oder den russischen Revolutionsspielen der 1920er Jahre – die nationalsozialistischen Massenspiele auch international zu kontextualisieren.Der italienische Faschismus, der auf antike Spielorte zurückgreifen konnte, sollte performativ und durch eigens errichtete Theaterstätten überboten werden; anders als das bolschewistische Revolutionsspiel war das NS-Massenspiel nicht an Partizipation und einer Kritik am Verhältnis von oben und unten, sondern an Gefolgschaft und, räumlich betrachtet, der (hierarchischen) Vertikalen interessiert.","PeriodicalId":55908,"journal":{"name":"FORUM MODERNES THEATER","volume":"32 1","pages":"303 - 304"},"PeriodicalIF":0.1000,"publicationDate":"2021-12-16","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":"{\"title\":\"Volksschule des Theaters. Nationalsozialistische Massenspiele by Evelyn Annuß (review)\",\"authors\":\"Marén Möhring\",\"doi\":\"10.1353/fmt.2021.0026\",\"DOIUrl\":null,\"url\":null,\"abstract\":\"Formen und Formwandel der nationalsozialistischenMassenspiele stehen im Zentrum der materialreichenundanschaulichillustriertenStudieder TheaterwissenschaftlerinEvelynAnnuß.Aus gouvernementalitätstheoretischer Perspektive fragt die Autorin nach den mit der Machteinsetzung Hitlers sich entwickelnden und mit der Konsolidierung des nationalsozialistischen Regimes verändernden Regierungstechniken, die im Theater (mit)gestaltet und erprobt wurden. Dem viel diskutierten Zusammenhang von Ästhetik und Politik imNationalsozialismuswidmet sie sich, indem siedenFoucaultschenBegriffderRegierungskunst ernst nimmt und die ästhetischen „Angebote [. . .] undTechnikenderSelbstlenkung,dievonTheaterleuten entwickelt“ wurden (S. 2), einer eingehendenUntersuchung unterzieht. Es geht der Autorin damit nicht um eine Ideologieoder Repräsentationskritik, sondernumdasperformativeMoment derVergemeinschaftungundaffektiveFormender Subjektivierung, mithin um die NS-Regierungskünste als körpergebundene Techniken. Die Rolle der sich etablierenden Theaterwissenschaften als „anwendungsorientierte szenische Forschung“ (S. 59) aufdiesemFeldpräzise auszuloten, istdabei das fachhistorisch spezifizierte Ziel der Studie. In gut nachvollziehbaren Analysen einzelner paradigmatischer Inszenierungen skizziert Annuß den Weg vom bereits 1933 erprobten Stadionspiel über das 1934 mit dem Bau von Freilufttheatern forcierte Thingspiel bis hin zum Unterhaltungsspektakel mit Massenornament, das seit den Olympischen Spielen von 1936 das Gesicht der NS-Massenspiele prägen sollte, bevor der Krieg derartige Großevents verunmöglichte. Auf einer breiten Quellenbasis, die Material aus zahlreichen privaten, städtischen und staatlichen Archiven und Nachlässen sowie eine beeindruckende Bandbreite an zeitgenössischen Periodika und Zeitungen, aber auch Partituren, Fotografien und Filmen umfasst, werden die ästhetischen Eigenlogiken der verschiedenen Massenspiele minutiös herausgearbeitet. Dabei geraten sowohl der experimentelle Charakter des Theaterschaffens als auch die konfliktträchtigen Konkurrenzverhältnisse zwischen den maßgeblichen Protagonist*innen in den Blick, denn auch auf dem Feld der Propaganda lässt sich die vielfach konstatierte Polyzentrik der NS-Herrschaft beobachten. Dies macht nicht zuletzt die Rede von der NS-Ästhetik obsolet, wie die Verfasserin zu Recht betont. In ihren Analysen bleibt Annuß jedoch nicht beim einzelnen Fallbeispiel stehen. Es gelingt der Autorin vielmehr sehr gut, einerseits die historischen Vorläufer der untersuchten Formelemente – von Turnvater Jahns Vergemeinschaftungsversuchen über das Volkstheater und proletarische Weihespiele bis hin zum wagnerischen Jubelchor – herauszuarbeiten und dabei stets auch die Strukturund Formdifferenzen aufzuzeigen. Im frühen NS-Massenspiel zeigte sich beispielsweise noch die prägende Kraft des Ausdruckstanzes und mithin der künstlerischen Avantgarde, die sich teils mit dem NS-Regime arrangierte und, wie die Autorin argumentiert, nun auf etwas Neues, i. e. eine „nationalsozialistische [. . .] andere [. . .] Moderne“ (S. 25) abzielte. Der Rückgriff auf die christliche Liturgie mit ihren etablierten Ritualen wiederum half, qua Zitation und Resignifizierung, neue Führungstechniken durchzusetzen. Andererseits gelingt es Annuß, durch Vergleiche mit Formexperimenten in anderen Ländern – etwa Mussolinis Theater der Zwanzigtausend oder den russischen Revolutionsspielen der 1920er Jahre – die nationalsozialistischen Massenspiele auch international zu kontextualisieren.Der italienische Faschismus, der auf antike Spielorte zurückgreifen konnte, sollte performativ und durch eigens errichtete Theaterstätten überboten werden; anders als das bolschewistische Revolutionsspiel war das NS-Massenspiel nicht an Partizipation und einer Kritik am Verhältnis von oben und unten, sondern an Gefolgschaft und, räumlich betrachtet, der (hierarchischen) Vertikalen interessiert.\",\"PeriodicalId\":55908,\"journal\":{\"name\":\"FORUM MODERNES THEATER\",\"volume\":\"32 1\",\"pages\":\"303 - 304\"},\"PeriodicalIF\":0.1000,\"publicationDate\":\"2021-12-16\",\"publicationTypes\":\"Journal Article\",\"fieldsOfStudy\":null,\"isOpenAccess\":false,\"openAccessPdf\":\"\",\"citationCount\":\"0\",\"resultStr\":null,\"platform\":\"Semanticscholar\",\"paperid\":null,\"PeriodicalName\":\"FORUM MODERNES THEATER\",\"FirstCategoryId\":\"1085\",\"ListUrlMain\":\"https://doi.org/10.1353/fmt.2021.0026\",\"RegionNum\":4,\"RegionCategory\":\"艺术学\",\"ArticlePicture\":[],\"TitleCN\":null,\"AbstractTextCN\":null,\"PMCID\":null,\"EPubDate\":\"\",\"PubModel\":\"\",\"JCR\":\"0\",\"JCRName\":\"THEATER\",\"Score\":null,\"Total\":0}","platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"FORUM MODERNES THEATER","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.1353/fmt.2021.0026","RegionNum":4,"RegionCategory":"艺术学","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"0","JCRName":"THEATER","Score":null,"Total":0}
Volksschule des Theaters. Nationalsozialistische Massenspiele by Evelyn Annuß (review)
Formen und Formwandel der nationalsozialistischenMassenspiele stehen im Zentrum der materialreichenundanschaulichillustriertenStudieder TheaterwissenschaftlerinEvelynAnnuß.Aus gouvernementalitätstheoretischer Perspektive fragt die Autorin nach den mit der Machteinsetzung Hitlers sich entwickelnden und mit der Konsolidierung des nationalsozialistischen Regimes verändernden Regierungstechniken, die im Theater (mit)gestaltet und erprobt wurden. Dem viel diskutierten Zusammenhang von Ästhetik und Politik imNationalsozialismuswidmet sie sich, indem siedenFoucaultschenBegriffderRegierungskunst ernst nimmt und die ästhetischen „Angebote [. . .] undTechnikenderSelbstlenkung,dievonTheaterleuten entwickelt“ wurden (S. 2), einer eingehendenUntersuchung unterzieht. Es geht der Autorin damit nicht um eine Ideologieoder Repräsentationskritik, sondernumdasperformativeMoment derVergemeinschaftungundaffektiveFormender Subjektivierung, mithin um die NS-Regierungskünste als körpergebundene Techniken. Die Rolle der sich etablierenden Theaterwissenschaften als „anwendungsorientierte szenische Forschung“ (S. 59) aufdiesemFeldpräzise auszuloten, istdabei das fachhistorisch spezifizierte Ziel der Studie. In gut nachvollziehbaren Analysen einzelner paradigmatischer Inszenierungen skizziert Annuß den Weg vom bereits 1933 erprobten Stadionspiel über das 1934 mit dem Bau von Freilufttheatern forcierte Thingspiel bis hin zum Unterhaltungsspektakel mit Massenornament, das seit den Olympischen Spielen von 1936 das Gesicht der NS-Massenspiele prägen sollte, bevor der Krieg derartige Großevents verunmöglichte. Auf einer breiten Quellenbasis, die Material aus zahlreichen privaten, städtischen und staatlichen Archiven und Nachlässen sowie eine beeindruckende Bandbreite an zeitgenössischen Periodika und Zeitungen, aber auch Partituren, Fotografien und Filmen umfasst, werden die ästhetischen Eigenlogiken der verschiedenen Massenspiele minutiös herausgearbeitet. Dabei geraten sowohl der experimentelle Charakter des Theaterschaffens als auch die konfliktträchtigen Konkurrenzverhältnisse zwischen den maßgeblichen Protagonist*innen in den Blick, denn auch auf dem Feld der Propaganda lässt sich die vielfach konstatierte Polyzentrik der NS-Herrschaft beobachten. Dies macht nicht zuletzt die Rede von der NS-Ästhetik obsolet, wie die Verfasserin zu Recht betont. In ihren Analysen bleibt Annuß jedoch nicht beim einzelnen Fallbeispiel stehen. Es gelingt der Autorin vielmehr sehr gut, einerseits die historischen Vorläufer der untersuchten Formelemente – von Turnvater Jahns Vergemeinschaftungsversuchen über das Volkstheater und proletarische Weihespiele bis hin zum wagnerischen Jubelchor – herauszuarbeiten und dabei stets auch die Strukturund Formdifferenzen aufzuzeigen. Im frühen NS-Massenspiel zeigte sich beispielsweise noch die prägende Kraft des Ausdruckstanzes und mithin der künstlerischen Avantgarde, die sich teils mit dem NS-Regime arrangierte und, wie die Autorin argumentiert, nun auf etwas Neues, i. e. eine „nationalsozialistische [. . .] andere [. . .] Moderne“ (S. 25) abzielte. Der Rückgriff auf die christliche Liturgie mit ihren etablierten Ritualen wiederum half, qua Zitation und Resignifizierung, neue Führungstechniken durchzusetzen. Andererseits gelingt es Annuß, durch Vergleiche mit Formexperimenten in anderen Ländern – etwa Mussolinis Theater der Zwanzigtausend oder den russischen Revolutionsspielen der 1920er Jahre – die nationalsozialistischen Massenspiele auch international zu kontextualisieren.Der italienische Faschismus, der auf antike Spielorte zurückgreifen konnte, sollte performativ und durch eigens errichtete Theaterstätten überboten werden; anders als das bolschewistische Revolutionsspiel war das NS-Massenspiel nicht an Partizipation und einer Kritik am Verhältnis von oben und unten, sondern an Gefolgschaft und, räumlich betrachtet, der (hierarchischen) Vertikalen interessiert.