{"title":"细节方面的“幸运之手”。Wolfgang Brückner的数字文化技术","authors":"Karl Clausberg","doi":"10.1515/zkg-2020-3010","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"1875 publizierte Gustav Theodor Fechner (1801– 1887), damals schon hochangesehener Autor der Elemente der Psychophysik und anderer grundlegender Physiologie-Studien, einen Sammelband mit Kleinen Schriften, die er in jüngeren Jahren unter dem Pseudonym Dr. Mises verfasst hatte. Einer der Kapiteltitel lautete ›Stapelia mixta‹, also ›gemischte Stapel‹, und in der Tat waren die Themen weit gestreut: Es ging – nach einer ›Vergleichenden [Kugel-]Anatomie der Engel‹ (das heißt: Parodie auf Platons ›Urmensch‹) – im erwähnten Stapel-Abteil um exzentrische Betrachtungen über die seelische Mittelpunktsymbolik von Kegelschnitten (Kreisen, Ellipsen, Hyperbeln und Parabeln), über rückwärts laufende, ›verkehrte Welten‹, sich berührende Unendlichkeiten und die vierte Dimension, aber auch um ›Heine als Lyriker‹, der wie eine Camera obscura die Welt und das Leben in zusammengedrängter Klarheit und Farbenfülle in der dunklen Kammer seines Inneren habe erscheinen lassen. Scheinbar Abwegiges und Abstruses aus der Kulturgeschichte war mit aufblitzenden Spekulationen aus damaliger mathematisch-topologischer Spitzenforschung durchmischt. Ich habe bei der Lektüre von Wolfgang Brückners frisch erschienenem Buch über Die Hand für das Bildgedächtnis immer wieder an Fechners besondere Leistungen denken müssen: an jene akribische Detailbesessenheit, die seine Umfragen und Reihenuntersuchungen schon im 19. Jahrhundert berühmt machte und nachahmenswert erscheinen ließ; aber auch an seinen Sinn fürs Religiöse und Esoterische. Brückners Buch ist in verwandter Weise gründlich. Es zeigt an fast unzählig anmutenden Fundstücken, dass gleichwohl nur ein beschränkter, d. h. durchgehend erweiterungsfähiger Einund Überblick des uferlosen Themenfeldes dargeboten werden kann. So folgen auf die kompakte Einführung nach grundlegender Vorstellung von Götterund Menschenhänden in gebietenden und gesetzgebenden Kontexten mehrere Dutzend Unterkapitel vornehmlich zur christlichen Selbstdisziplinierung durch visuelle Handweisungen, das heißt bildliche Vorhaltung von diversen Instruktionshänden. Durchmischt sind die religiösen mit kurzen Abschnitten zu alphabetischen, rhetorischen, emblematischen, chiromantischen, numerischen, messtechnischen und musikalischen Didaktiken und Notationsverfahren auf händischer Basis. Den Abschluss bilden, nach einem Abteil für devotionalen und superstitiösen Handgebrauch, zwei knappe Oberkapitel zur politischen Handbedeutung in der marxistischen Symbolik und im faschistischen Ritual sowie zur Signographie und Werbung. Alles in allem also ein umfassendes Kompendium alteuropäischzentrierter Hand-Symbolik und Anweisungsgestik, das gleichwohl mit dem doppeldeutigen Buchuntertitel Digitale Kulturtechniken der Verständigung umrissen sein soll. Die Pointe des Nebensinns von ›digital‹ steckt natürlich in der mitgeschleppten englischen Zweitbedeutung von digit als Ziffer, und insofern entfaltet der Buchuntertitel seine Reichweite assoziativ bis ins heutige elektronische Milieu. Direkte Bezüge sind im Text aber nicht auffällig herausgestellt. Man findet sie vielmehr beiläufig","PeriodicalId":43164,"journal":{"name":"ZEITSCHRIFT FUR KUNSTGESCHICHTE","volume":" 25","pages":"427 - 432"},"PeriodicalIF":0.1000,"publicationDate":"2020-09-01","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"https://sci-hub-pdf.com/10.1515/zkg-2020-3010","citationCount":"0","resultStr":"{\"title\":\"Eine ›glückliche Hand‹ für Einzelheiten. Wolfgang Brückners digitale Kulturtechnik\",\"authors\":\"Karl Clausberg\",\"doi\":\"10.1515/zkg-2020-3010\",\"DOIUrl\":null,\"url\":null,\"abstract\":\"1875 publizierte Gustav Theodor Fechner (1801– 1887), damals schon hochangesehener Autor der Elemente der Psychophysik und anderer grundlegender Physiologie-Studien, einen Sammelband mit Kleinen Schriften, die er in jüngeren Jahren unter dem Pseudonym Dr. Mises verfasst hatte. 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Ich habe bei der Lektüre von Wolfgang Brückners frisch erschienenem Buch über Die Hand für das Bildgedächtnis immer wieder an Fechners besondere Leistungen denken müssen: an jene akribische Detailbesessenheit, die seine Umfragen und Reihenuntersuchungen schon im 19. Jahrhundert berühmt machte und nachahmenswert erscheinen ließ; aber auch an seinen Sinn fürs Religiöse und Esoterische. Brückners Buch ist in verwandter Weise gründlich. Es zeigt an fast unzählig anmutenden Fundstücken, dass gleichwohl nur ein beschränkter, d. h. durchgehend erweiterungsfähiger Einund Überblick des uferlosen Themenfeldes dargeboten werden kann. So folgen auf die kompakte Einführung nach grundlegender Vorstellung von Götterund Menschenhänden in gebietenden und gesetzgebenden Kontexten mehrere Dutzend Unterkapitel vornehmlich zur christlichen Selbstdisziplinierung durch visuelle Handweisungen, das heißt bildliche Vorhaltung von diversen Instruktionshänden. Durchmischt sind die religiösen mit kurzen Abschnitten zu alphabetischen, rhetorischen, emblematischen, chiromantischen, numerischen, messtechnischen und musikalischen Didaktiken und Notationsverfahren auf händischer Basis. Den Abschluss bilden, nach einem Abteil für devotionalen und superstitiösen Handgebrauch, zwei knappe Oberkapitel zur politischen Handbedeutung in der marxistischen Symbolik und im faschistischen Ritual sowie zur Signographie und Werbung. Alles in allem also ein umfassendes Kompendium alteuropäischzentrierter Hand-Symbolik und Anweisungsgestik, das gleichwohl mit dem doppeldeutigen Buchuntertitel Digitale Kulturtechniken der Verständigung umrissen sein soll. Die Pointe des Nebensinns von ›digital‹ steckt natürlich in der mitgeschleppten englischen Zweitbedeutung von digit als Ziffer, und insofern entfaltet der Buchuntertitel seine Reichweite assoziativ bis ins heutige elektronische Milieu. Direkte Bezüge sind im Text aber nicht auffällig herausgestellt. 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Eine ›glückliche Hand‹ für Einzelheiten. Wolfgang Brückners digitale Kulturtechnik
1875 publizierte Gustav Theodor Fechner (1801– 1887), damals schon hochangesehener Autor der Elemente der Psychophysik und anderer grundlegender Physiologie-Studien, einen Sammelband mit Kleinen Schriften, die er in jüngeren Jahren unter dem Pseudonym Dr. Mises verfasst hatte. Einer der Kapiteltitel lautete ›Stapelia mixta‹, also ›gemischte Stapel‹, und in der Tat waren die Themen weit gestreut: Es ging – nach einer ›Vergleichenden [Kugel-]Anatomie der Engel‹ (das heißt: Parodie auf Platons ›Urmensch‹) – im erwähnten Stapel-Abteil um exzentrische Betrachtungen über die seelische Mittelpunktsymbolik von Kegelschnitten (Kreisen, Ellipsen, Hyperbeln und Parabeln), über rückwärts laufende, ›verkehrte Welten‹, sich berührende Unendlichkeiten und die vierte Dimension, aber auch um ›Heine als Lyriker‹, der wie eine Camera obscura die Welt und das Leben in zusammengedrängter Klarheit und Farbenfülle in der dunklen Kammer seines Inneren habe erscheinen lassen. Scheinbar Abwegiges und Abstruses aus der Kulturgeschichte war mit aufblitzenden Spekulationen aus damaliger mathematisch-topologischer Spitzenforschung durchmischt. Ich habe bei der Lektüre von Wolfgang Brückners frisch erschienenem Buch über Die Hand für das Bildgedächtnis immer wieder an Fechners besondere Leistungen denken müssen: an jene akribische Detailbesessenheit, die seine Umfragen und Reihenuntersuchungen schon im 19. Jahrhundert berühmt machte und nachahmenswert erscheinen ließ; aber auch an seinen Sinn fürs Religiöse und Esoterische. Brückners Buch ist in verwandter Weise gründlich. Es zeigt an fast unzählig anmutenden Fundstücken, dass gleichwohl nur ein beschränkter, d. h. durchgehend erweiterungsfähiger Einund Überblick des uferlosen Themenfeldes dargeboten werden kann. So folgen auf die kompakte Einführung nach grundlegender Vorstellung von Götterund Menschenhänden in gebietenden und gesetzgebenden Kontexten mehrere Dutzend Unterkapitel vornehmlich zur christlichen Selbstdisziplinierung durch visuelle Handweisungen, das heißt bildliche Vorhaltung von diversen Instruktionshänden. Durchmischt sind die religiösen mit kurzen Abschnitten zu alphabetischen, rhetorischen, emblematischen, chiromantischen, numerischen, messtechnischen und musikalischen Didaktiken und Notationsverfahren auf händischer Basis. Den Abschluss bilden, nach einem Abteil für devotionalen und superstitiösen Handgebrauch, zwei knappe Oberkapitel zur politischen Handbedeutung in der marxistischen Symbolik und im faschistischen Ritual sowie zur Signographie und Werbung. Alles in allem also ein umfassendes Kompendium alteuropäischzentrierter Hand-Symbolik und Anweisungsgestik, das gleichwohl mit dem doppeldeutigen Buchuntertitel Digitale Kulturtechniken der Verständigung umrissen sein soll. Die Pointe des Nebensinns von ›digital‹ steckt natürlich in der mitgeschleppten englischen Zweitbedeutung von digit als Ziffer, und insofern entfaltet der Buchuntertitel seine Reichweite assoziativ bis ins heutige elektronische Milieu. Direkte Bezüge sind im Text aber nicht auffällig herausgestellt. Man findet sie vielmehr beiläufig
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