{"title":"语料库 2.0:朱莉-泽与 Covid-19 大流行病","authors":"Sonja Klocke","doi":"10.1111/gequ.12403","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"<p>Seit Beginn der Covid-19 Pandemie hat Juli Zeh, auf das Regierungshandeln reagierend, vor einem angeblich ausufernden Gesundheitsschutz gewarnt, der zu Einschränkungen individueller Freiheitsrechte führe. Ihre Äußerungen zum Rechtsstaat in der Pandemie, oft unter Verweis auf <i>Corpus Delicti</i> (2009), bewegen mich, Aspekte dieses von der Autorin in <i>Fragen zu Corpus Delicti</i> (2020) dezidiert als politisch bezeichneten Romans (61) im Kontext ihrer Äußerungen von 2020 zu hinterfragen. Beleuchtet wird daher zunächst, wie Zeh eine pandemische Re-Lektüre von <i>Corpus Delicti</i> zu lenken sucht, um dann auf die von der Schriftstellerin und Juristin befürchtete Bedrohung des Rechtsstaats einzugehen. Zehs alarmistische Statements werden mit den Ausführungen zweier führender Verfassungsrechtler, Jens Kersten (Ludwig-Maximilians-Universität München) und Stephan Rixen (Universität zu Köln), kontrastiert.</p><p>Auf diese einleitenden Worte folgt im nächsten Absatz—das erste Wort ist „Heute“—der direkte Bezug zum Frühjahr 2020. Fakt und Fiktion werden somit bewusst vermischt. Diese Konstruktion insinuiert, dass wir in der von Zeh 2009 vorausgesehenen Gesundheitsdiktatur angelangt sind—ungeachtet der Tatsache, dass die beklagten Einschränkungen von Freiheitsrechten nicht diktatorisch bestimmt wurden, sondern auf Grundlage einer vom Parlament verabschiedeten Novelle des Infektionsschutzgesetzes erfolgten. Auch wenn von den dort legitimierten Pandemiemaßnahmen „praktisch der gesamte Grundrechtskatalog des Grundgesetzes betroffen“ war, wie auch Jens Kersten und Stephan Rixen in <i>Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise</i> (22) festhalten, eröffnet das Infektionsschutzgesetz schon aufgrund des im Grundgesetz garantierten Vorrangs der Verfassung „den Gesundheitsbehörden keinerlei Befugnis und Möglichkeit, die Kompetenzen und Funktionsfähigkeit von Verfassungsorganen des Bundes und der Länder zu beeinträchtigen“ (40). Zehs bereits am 5. April 2020 im Interview mit Jan Heidtmann unter dem Titel „Die Bestrafungstaktik ist bedenklich“ in der <i>Süddeutschen Zeitung</i> geäußerte Behauptung, „unsere Demokratie befindet sich bis auf Weiteres in der Hand der Kurve, welche die Ausbreitungsgeschwindigkeit anzeigt“, ist somit mindestens fragwürdig. Die Demokratie befand sich vielmehr zweifelsfrei in der Hand der ans Grundgesetz gebundenen Verfassungsorgane. Die Vorstellung, dass es zu einer Art Staatsstreich der Gesundheitsämter unter Anführung des Robert Koch-Instituts hätte kommen können, ist absurd.</p><p>Die von Zeh aus <i>Corpus Delicti</i> abgeleiteten und im <i>Focus</i> mit dem Regierungshandeln verglichenen Kritikpunkte bedürfen somit einer Analyse. Als Beispiele für das Opfern bürgerlicher Freiheiten zugunsten des Erhalts der Volksgesundheit führt Zeh am 9. April 2020 im <i>Focus</i> an, dass zum Schutz der Gesundheit „Schulen und Kitas geschlossen, […] Gottesdienste unterbunden, Reise- und Versammlungsfreiheit abgeschafft [wurden]“. Vier Tage zuvor warf sie im erwähnten Interview in der <i>Süddeutschen Zeitung</i> der Regierung vor, ohne notwendige Rechtsgrundlage „drakonisch in die Bürgerrechte“ einzugreifen und sich somit außerhalb der demokratischen Regeln zu bewegen. Im Regierungshandeln erkannte sie daher nicht nur eine „Geringschätzung unserer Verfassung“, sondern auch eine bedenkliche „Bestrafungstaktik“, welche „die gesellschaftliche Stimmung [vergifte]“. So beklagenswert die Schließung von Schulen und Kitas war, die Behauptung, die Reise- und Versammlungsfreiheit sei abgeschafft worden, ist genauso falsch wie jene, die Rechtsgrundlage sei nicht geklärt und die Regeln der Demokratie verletzt. Der Juristin musste bewusst sein, dass Grundrechte nicht abgeschafft werden können: sie sind aufgrund des in Grundgesetz Art. 1 Abs. 3 garantierten Verfassungsvorrangs lediglich—und das ist geschehen—durch Paragraph 32 des Infektionsschutzgesetzes „unter der Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes einzuschränken“ (Kersten und Rixen 39).</p><p>Die weiteren aus <i>Corpus Delicti</i> abgeleiteten Kritikpunkte unterstellen allesamt, dass bürgerliche Freiheiten dem Erhalt der Volksgesundheit geopfert wurden. Dazu gehört beispielsweise die Feststellung, dass die Menschen kaum noch das Haus verlassen, was Zeh in der im <i>Focus</i> beklagten Realität in „Ausgangssperren und Arbeitsverbote[n]“ verwirklicht findet. Die im Roman ausgestaltete ständige Überwachung jedes Individuums zeichnet sich für Zeh im <i>Focus</i> darin ab, dass „[d]ie Telekom Handy-Daten ans Robert Koch-Institut [übermittelt], um ‚Bewegungsströme‘ zu analysieren“ und „[d]er Gesundheitsminister […] laut darüber nach[denkt], das ‚Tracking‘ von Individuen zum Teil des Gesundheitsschutzes zu machen“. Die Feststellung, es sei „von Krieg, Notstand und ‚Ermächtigung‘ die Rede“ impliziert ferner, Demokratie und Verfassung seien in Gefahr. Im erwähnten Interview mit der <i>Süddeutschen Zeitung</i> antwortet Zeh auf die Frage Heidtmanns, die Gesundheit als „Staatsprinzip“ aus <i>Corpus Delicti</i> mit der Situation 2020 direkt vergleicht, dass das Regierungshandeln auf das Einschüchtern der Bevölkerung abziele, um „sie auf diese Weise zum Einhalten der Notstandsregeln zu bringen“.</p><p>An gleicher Stelle von Heidtmann mit einem Zitat des Nazi-Verfassungsrechtlers Carl Schmitt konfrontiert, wonach „[s]ouverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, negiert Zeh zwar, dass das Grundgesetz gezielt angegriffen würde, betont aber, dass „wir […] eine Form von orientierungsloser Geringschätzung gegenüber unserer Verfassung erleben“. Dass Zeh Heidtmann keinesfalls widerspricht, als er eine direkte Verbindung zwischen dem historisch aufgeladenen Begriff des „Ausnahmezustands“ und dem Frühjahr 2020 herstellt, ist bemerkenswert. Die Juristin muss erkennen, dass hier unverblümt auf Schmitts juristische Rechtfertigung angespielt wird, auf deren Grundlage Reichspräsident Paul von Hindenburgs unmäßige Auslegung der in Art. 48 Abs. 2 der Weimarer Reichsverfassung geregelten Notstandsbefugnisse den Weg in die Nazi-Diktatur ermöglichte (vgl. Kersten und Rixen 34). Indem Zeh in ihrer Antwort von „Geringschätzung unserer Verfassung“ spricht, insinuiert sie weiterhin, dass diese zumindest in Gefahr, wenn nicht teilweise ausgesetzt sei; dass also der <i>Normalzustand</i>, in dem anders als im <i>Ausnahmezustand</i> die Verfassung gilt, ausgesetzt sei (vgl. Kersten und Rixen 30).</p><p>Ein solches Suspendieren der Grundrechte ist schon aufgrund der Tatsache ausgeschlossen, dass die Mütter und Väter des Grundgesetzes nach den katastrophalen Erfahrungen mit Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) gegen eine vergleichbare Notstandsverfassung votierten, welche die Möglichkeit der Suspendierung von Grundrechten vorgesehen hätte. Vielmehr gilt dem Grundgesetz zufolge das im Normalfall geltende Sicherheitsrecht, zu dem neben dem Polizei- und Ordnungsrecht auch das Infektionsschutzgesetz zählt, auch in extremen Notsituationen. Auf die Covid-19 Pandemie wurde also weder mit einem grundgesetzwidrigen Ausnahmezustand noch mit einer grundgesetzgemäßen Notstandsverfassung reagiert. Vielmehr geschahen alle vorübergehenden Grundrechtseinschränkungen auf Basis des normalen Sicherheitsrechts, insbesondere des Infektionsschutzgesetzes.</p><p>In ihrem im Frühjahr 2020 im <i>Focus</i> veröffentlichten Beitrag kritisiert Zeh weiter, die Staatsmacht würde nicht von Parlamenten, sondern Expert*innen ausgeübt: Da die Bevölkerung „kein Vertrauen mehr in Parteien, Politiker und komplizierte demokratische Prozesse [habe], sondern […] sich nach den klaren Ansagen von ‚Experten‘ oder gleich von autoritären Anführern [sehne]“, träfe die Wissenschaft die politischen Entscheidungen. Konfrontiert mit einem größtenteils unbekannten Virus, haben sich alle im demokratischen Verfassungsstaat handelnden selbstverständlich das in Universitäten, Akademien wie der Leopoldina, im Robert Koch-Institut und in Gremien der wissenschaftsbasierten Politikberatung wie dem Deutschen Ethikrat vorhandene Wissen zugänglich gemacht, damit es in politische Entscheidungen einfließen konnte. Dass dies exakt dem Verfassungsauftrag entspricht, ist sogleich noch anzusprechen. Doch hier ist bereits festzuhalten, dass—anders als von Zeh am 24. April 2020 zusammen mit unter anderen Boris Palmer und Alexander Kekulé in einem <i>Spiegel</i>-Artikel mit dem Titel „Raus aus dem Lockdown—so rasch wie möglich“ behauptet—„Covid-19 für die Bevölkerung“ durchaus „gefährlicher als die Grippe“ war, auch „wenn man bestimmte Risikogruppen und Menschen über fünfundsechzig gezielt vor Infektionen schützt“. Abgesehen davon, dass Zeh, indem sie sich hier mit „Experten“ zusammentat, genau jene Strategie verfolgte, die sie an der Regierung kurz zuvor im <i>Focus</i> kritisierte, bleibt die Form des gezielten Schutzes vulnerabler Gruppen nebulös. Angesichts der hohen Zahl Verstorbener gerade in Einrichtungen wie Senior*innen- und Behindertenheimen fragt sich, inwiefern hier implizit eine die Schwächsten der Gesellschaft gefährdende Abwägung des Lebensrechts vorliegt. Jedenfalls hat das Bundesverfassungsgericht Regelungen, die „stärker gefährdete Menschen […] über längere Zeit vollständig aus dem Leben in der Gemeinschaft“ ausschließen würden, für nicht rechtmäßig erklärt (BVerfG 13.5.2020—1BvR 1021/20, Rn.9). Dies ergibt sich schon aus Grundgesetz Art. 1, dessen Würdeversprechen selbstverständlich fragile Menschengruppen einschließt.</p><p>Hier insinuiert Zeh mithin, dass das grundlegende Prinzip des Verfassungsstaates, die Verhältnismäßigkeit, aufgegeben worden sei. Dies ist jedoch mitnichten korrekt, denn im Regierungshandeln manifestierte sich gerade der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, indem abgewogen wurde zwischen dem in Grundgesetz Art. 2 Abs. 2 S. 1 garantierten Schutz von Leben und Gesundheit und der Gewährleistung eines Gesundheitssystems auf der einen und den Freiheitsrechten, die durch einzelne infektionsschutzrechtliche Maßnahmen vorübergehend eingeschränkt, aber nicht suspendiert wurden. Dem Verhältnismäßigkeitsprinzip zufolge muss, da liegt die Juristin und Autorin richtig, jede die Bürger*innenrechte einschränkende Pandemiemaßnahme geeignet, erforderlich und angemessen sein. Was Zeh allerdings außer Acht lässt, sind die spezifischen Umstände der Covid-19 Pandemie: nicht nur mussten Gesetzgebende, Regierungen und Verwaltungen—unter Einhaltung des Grundsatzes der Gewaltenteilung, der auch zu keinem Zeitpunkt ad acta gelegt wurde—Regeln für alle Lebensbereiche gleichzeitig verordnen, sondern dies geschah, insbesondere zu Pandemiebeginn, unter den Bedingungen des <i>Nicht</i>wissens (vgl. Kersten und Rixen 47, 51). Die Fehlerhaftigkeit von Zehs Vorwurf, man verließe sich zu sehr auf Expert*innen, tritt hier besonders deutlich zutage, denn gerade das zum jeweiligen Zeitpunkt vorhandene Expert*innenwissen musste wesentliche Grundlage für Entscheidungen sein, und in die Verhältnismäßigkeitsüberprüfungen der Regierung mussten eben gerade die Nichtwissenskomponenten bezüglich des Virus eingebaut werden.</p><p>Dass die Gesundheit dabei das Hauptaugenmerk erhielt, war nicht nur dem tödlichen Virus, sondern auch der deutschen Geschichte geschuldet. Zeh scheint zu vergessen, dass nach dem Versagen der wohlfahrtsstaatlichen Medizinalpolizei bei der Bekämpfung der Cholera in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Aktivitäten der Hygienebewegung sowie des Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege zu einem infrastrukturellen Paradigmenwechsel führten. Folglich waren Prävention statt Repression und städtische Infrastrukturen statt polizeilicher Maßnahmen, alles organisiert auf kommunaler Ebene, unabdingbar. Dementsprechend wurden fortan auf munizipaler Ebene Wasser-, Gas- und Elektrizitätswerke, Schulen und Bildungseinrichtungen, Straßenreinigung und -beleuchtung, öffentlicher Nahverkehr, Müllabfuhr, Kanalisation, Schlachthöfe—und eben auch die Krankenversorgung und Krankenhäuser organisiert. Mit anderen Worten, viele alltägliche soziale Infrastrukturen basieren auf der Infektionsbekämpfung und sind als öffentliche Güter einer aktiven Bürger*innengesellschaft in einem demokratischen Verfassungsstaat zu verstehen. Ergo ist es nicht das Interesse der Bürger*innen der Bundesrepublik, aufgrund einer ihnen unterstellten „Demokratiemüdigkeit“ im Austausch für eine daseinsgarantierende „Sicherheit“ ihre grundgesetzlich verbürgten „Grundfreiheiten quasi auf null zu setzen“, wie von Zeh im <i>Focus</i>-Artikel vom April 2020 behauptet. Vielmehr geht es darum, „sich in der sozialen Teilhabe an öffentlichen Gütern frei zu entfalten“ (Kersten und Rixen 71).</p><p>In den von der Bevölkerung wahrgenommenen „harte[n] verfassungsrechtliche[n] Konflikte[n] zwischen Grundrechtsschutz und Grundrechtsfreiheit“ (Kersten und Rixen 45) zeigt sich, dass die Bevölkerung, anders als von Zeh insinuiert, in der Pandemie mitnichten zu einem unkritischen, teilnahmslosen Wust lethargischer Bürger*innen wurde. Dass „[d]ie Bundesrepublik […] auch in der Corona-Krise eine aktive und demokratische Bürgergesellschaft“ (Kersten und Rixen 24) ist, „die politische Öffentlichkeit in der Corona-Krise sehr aktiv und hochgradig sensibilisiert“ (25) daherkommt, beweist nicht zuletzt die erfolgreiche Durchführung von Wahlkämpfen und Wahlen inmitten in der Pandemie, so dass es sogar nach sechzehn Jahren zu einem Regierungswechsel auf Bundesebene kommen konnte (vgl. Kersten und Rixen 95−100).</p><p>Zehs in ihrem <i>Focus</i>-Artikel gefassten Fazit, „[e]ine Pandemie, die Menschen krank macht, ist schlimm genug. Eine Pandemie, die den Rechtsstaat befällt und die freiheitliche Gesellschaft womöglich unheilbar erkranken ließe, wäre noch schlimmer“, muss man zustimmen—doch diese Gefahr bestand zu keinem Zeitpunkt. Zu fragen ist, ob es nicht gefährlicher ist, wenn man als Juristin ausschließlich Aspekte des <i>Rechtsstaats</i> im deutschen Verfassungsstaat hervorhebt und die ebenso fundamentalen Aspekte des <i>Sozialstaats</i>—Sicherheit und Solidarität—negiert. Dass diese Abwägung in der Pandemie besonders problematisch ist, dass man als politisch denkende Bürgerin und Juristin über den Zustand der Verfassungsordnung reflektiert, ist evident; das sollte jedoch auch für die per Art. 28 Abs. 1 S. 1 des Grundgesetzes im Begriff des „sozialen Rechtsstaats“ festgeschriebene Gleichsetzung der Sozialstaatsverpflichtung und der Rechtsstaatsverpflichtung gelten, auch hier ist abzuwägen. Zu insinuieren, dass der Staatsapparat und seine Verfassungsorgane eine dieser Verpflichtungen leichtfertig geopfert und somit die Demokratie zugunsten des Schutzes von Menschenleben aufgegeben hätten, erscheint nicht nur zynisch im Angesicht der massenhaft Verstorbenen, es delegitimiert geradezu fundamental den Verfassungsstaat, den die Autorin zu verteidigen vorgibt. Dies gilt insbesondere für Zeh, die sich lange vor ihrer Ernennung zum ehrenamtlichen Mitglied des Landesverfassungsgerichts Brandenburgs bereits als politisch aktive Intellektuelle positioniert, stilisiert und vermarktet hat. Sie praktiziert im besten Brechtschen Sinn <i>eingreifendes Denken</i>, öffentliches Denken in der Krise mit dem Ziel, <i>folgenreich</i> zu sein, gerade weil sie die öffentliche Meinung aktiviert. Ihre alarmistische Kritik, die im reduzierten Bild des Verfassungsstaates zumindest einen Hauch von Diktatur vermuten lässt und den deutschen Staat nicht als im Grundgesetz definierten „sozialen Rechtsstaat“, sondern als entfesselten biopolitischen Leviathan imaginiert, erscheint allerdings gefährlich.</p>","PeriodicalId":54057,"journal":{"name":"GERMAN QUARTERLY","volume":"96 4","pages":"546-552"},"PeriodicalIF":0.2000,"publicationDate":"2023-10-26","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"https://onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.1111/gequ.12403","citationCount":"0","resultStr":"{\"title\":\"Corpus Delicti 2.0: Juli Zeh und die Covid-19 Pandemie\",\"authors\":\"Sonja Klocke\",\"doi\":\"10.1111/gequ.12403\",\"DOIUrl\":null,\"url\":null,\"abstract\":\"<p>Seit Beginn der Covid-19 Pandemie hat Juli Zeh, auf das Regierungshandeln reagierend, vor einem angeblich ausufernden Gesundheitsschutz gewarnt, der zu Einschränkungen individueller Freiheitsrechte führe. 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April 2020 im <i>Focus</i> an, dass zum Schutz der Gesundheit „Schulen und Kitas geschlossen, […] Gottesdienste unterbunden, Reise- und Versammlungsfreiheit abgeschafft [wurden]“. Vier Tage zuvor warf sie im erwähnten Interview in der <i>Süddeutschen Zeitung</i> der Regierung vor, ohne notwendige Rechtsgrundlage „drakonisch in die Bürgerrechte“ einzugreifen und sich somit außerhalb der demokratischen Regeln zu bewegen. Im Regierungshandeln erkannte sie daher nicht nur eine „Geringschätzung unserer Verfassung“, sondern auch eine bedenkliche „Bestrafungstaktik“, welche „die gesellschaftliche Stimmung [vergifte]“. So beklagenswert die Schließung von Schulen und Kitas war, die Behauptung, die Reise- und Versammlungsfreiheit sei abgeschafft worden, ist genauso falsch wie jene, die Rechtsgrundlage sei nicht geklärt und die Regeln der Demokratie verletzt. Der Juristin musste bewusst sein, dass Grundrechte nicht abgeschafft werden können: sie sind aufgrund des in Grundgesetz Art. 1 Abs. 3 garantierten Verfassungsvorrangs lediglich—und das ist geschehen—durch Paragraph 32 des Infektionsschutzgesetzes „unter der Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes einzuschränken“ (Kersten und Rixen 39).</p><p>Die weiteren aus <i>Corpus Delicti</i> abgeleiteten Kritikpunkte unterstellen allesamt, dass bürgerliche Freiheiten dem Erhalt der Volksgesundheit geopfert wurden. Dazu gehört beispielsweise die Feststellung, dass die Menschen kaum noch das Haus verlassen, was Zeh in der im <i>Focus</i> beklagten Realität in „Ausgangssperren und Arbeitsverbote[n]“ verwirklicht findet. Die im Roman ausgestaltete ständige Überwachung jedes Individuums zeichnet sich für Zeh im <i>Focus</i> darin ab, dass „[d]ie Telekom Handy-Daten ans Robert Koch-Institut [übermittelt], um ‚Bewegungsströme‘ zu analysieren“ und „[d]er Gesundheitsminister […] laut darüber nach[denkt], das ‚Tracking‘ von Individuen zum Teil des Gesundheitsschutzes zu machen“. Die Feststellung, es sei „von Krieg, Notstand und ‚Ermächtigung‘ die Rede“ impliziert ferner, Demokratie und Verfassung seien in Gefahr. Im erwähnten Interview mit der <i>Süddeutschen Zeitung</i> antwortet Zeh auf die Frage Heidtmanns, die Gesundheit als „Staatsprinzip“ aus <i>Corpus Delicti</i> mit der Situation 2020 direkt vergleicht, dass das Regierungshandeln auf das Einschüchtern der Bevölkerung abziele, um „sie auf diese Weise zum Einhalten der Notstandsregeln zu bringen“.</p><p>An gleicher Stelle von Heidtmann mit einem Zitat des Nazi-Verfassungsrechtlers Carl Schmitt konfrontiert, wonach „[s]ouverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, negiert Zeh zwar, dass das Grundgesetz gezielt angegriffen würde, betont aber, dass „wir […] eine Form von orientierungsloser Geringschätzung gegenüber unserer Verfassung erleben“. Dass Zeh Heidtmann keinesfalls widerspricht, als er eine direkte Verbindung zwischen dem historisch aufgeladenen Begriff des „Ausnahmezustands“ und dem Frühjahr 2020 herstellt, ist bemerkenswert. Die Juristin muss erkennen, dass hier unverblümt auf Schmitts juristische Rechtfertigung angespielt wird, auf deren Grundlage Reichspräsident Paul von Hindenburgs unmäßige Auslegung der in Art. 48 Abs. 2 der Weimarer Reichsverfassung geregelten Notstandsbefugnisse den Weg in die Nazi-Diktatur ermöglichte (vgl. Kersten und Rixen 34). Indem Zeh in ihrer Antwort von „Geringschätzung unserer Verfassung“ spricht, insinuiert sie weiterhin, dass diese zumindest in Gefahr, wenn nicht teilweise ausgesetzt sei; dass also der <i>Normalzustand</i>, in dem anders als im <i>Ausnahmezustand</i> die Verfassung gilt, ausgesetzt sei (vgl. Kersten und Rixen 30).</p><p>Ein solches Suspendieren der Grundrechte ist schon aufgrund der Tatsache ausgeschlossen, dass die Mütter und Väter des Grundgesetzes nach den katastrophalen Erfahrungen mit Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) gegen eine vergleichbare Notstandsverfassung votierten, welche die Möglichkeit der Suspendierung von Grundrechten vorgesehen hätte. Vielmehr gilt dem Grundgesetz zufolge das im Normalfall geltende Sicherheitsrecht, zu dem neben dem Polizei- und Ordnungsrecht auch das Infektionsschutzgesetz zählt, auch in extremen Notsituationen. Auf die Covid-19 Pandemie wurde also weder mit einem grundgesetzwidrigen Ausnahmezustand noch mit einer grundgesetzgemäßen Notstandsverfassung reagiert. Vielmehr geschahen alle vorübergehenden Grundrechtseinschränkungen auf Basis des normalen Sicherheitsrechts, insbesondere des Infektionsschutzgesetzes.</p><p>In ihrem im Frühjahr 2020 im <i>Focus</i> veröffentlichten Beitrag kritisiert Zeh weiter, die Staatsmacht würde nicht von Parlamenten, sondern Expert*innen ausgeübt: Da die Bevölkerung „kein Vertrauen mehr in Parteien, Politiker und komplizierte demokratische Prozesse [habe], sondern […] sich nach den klaren Ansagen von ‚Experten‘ oder gleich von autoritären Anführern [sehne]“, träfe die Wissenschaft die politischen Entscheidungen. Konfrontiert mit einem größtenteils unbekannten Virus, haben sich alle im demokratischen Verfassungsstaat handelnden selbstverständlich das in Universitäten, Akademien wie der Leopoldina, im Robert Koch-Institut und in Gremien der wissenschaftsbasierten Politikberatung wie dem Deutschen Ethikrat vorhandene Wissen zugänglich gemacht, damit es in politische Entscheidungen einfließen konnte. Dass dies exakt dem Verfassungsauftrag entspricht, ist sogleich noch anzusprechen. Doch hier ist bereits festzuhalten, dass—anders als von Zeh am 24. April 2020 zusammen mit unter anderen Boris Palmer und Alexander Kekulé in einem <i>Spiegel</i>-Artikel mit dem Titel „Raus aus dem Lockdown—so rasch wie möglich“ behauptet—„Covid-19 für die Bevölkerung“ durchaus „gefährlicher als die Grippe“ war, auch „wenn man bestimmte Risikogruppen und Menschen über fünfundsechzig gezielt vor Infektionen schützt“. Abgesehen davon, dass Zeh, indem sie sich hier mit „Experten“ zusammentat, genau jene Strategie verfolgte, die sie an der Regierung kurz zuvor im <i>Focus</i> kritisierte, bleibt die Form des gezielten Schutzes vulnerabler Gruppen nebulös. Angesichts der hohen Zahl Verstorbener gerade in Einrichtungen wie Senior*innen- und Behindertenheimen fragt sich, inwiefern hier implizit eine die Schwächsten der Gesellschaft gefährdende Abwägung des Lebensrechts vorliegt. Jedenfalls hat das Bundesverfassungsgericht Regelungen, die „stärker gefährdete Menschen […] über längere Zeit vollständig aus dem Leben in der Gemeinschaft“ ausschließen würden, für nicht rechtmäßig erklärt (BVerfG 13.5.2020—1BvR 1021/20, Rn.9). Dies ergibt sich schon aus Grundgesetz Art. 1, dessen Würdeversprechen selbstverständlich fragile Menschengruppen einschließt.</p><p>Hier insinuiert Zeh mithin, dass das grundlegende Prinzip des Verfassungsstaates, die Verhältnismäßigkeit, aufgegeben worden sei. Dies ist jedoch mitnichten korrekt, denn im Regierungshandeln manifestierte sich gerade der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, indem abgewogen wurde zwischen dem in Grundgesetz Art. 2 Abs. 2 S. 1 garantierten Schutz von Leben und Gesundheit und der Gewährleistung eines Gesundheitssystems auf der einen und den Freiheitsrechten, die durch einzelne infektionsschutzrechtliche Maßnahmen vorübergehend eingeschränkt, aber nicht suspendiert wurden. Dem Verhältnismäßigkeitsprinzip zufolge muss, da liegt die Juristin und Autorin richtig, jede die Bürger*innenrechte einschränkende Pandemiemaßnahme geeignet, erforderlich und angemessen sein. Was Zeh allerdings außer Acht lässt, sind die spezifischen Umstände der Covid-19 Pandemie: nicht nur mussten Gesetzgebende, Regierungen und Verwaltungen—unter Einhaltung des Grundsatzes der Gewaltenteilung, der auch zu keinem Zeitpunkt ad acta gelegt wurde—Regeln für alle Lebensbereiche gleichzeitig verordnen, sondern dies geschah, insbesondere zu Pandemiebeginn, unter den Bedingungen des <i>Nicht</i>wissens (vgl. Kersten und Rixen 47, 51). Die Fehlerhaftigkeit von Zehs Vorwurf, man verließe sich zu sehr auf Expert*innen, tritt hier besonders deutlich zutage, denn gerade das zum jeweiligen Zeitpunkt vorhandene Expert*innenwissen musste wesentliche Grundlage für Entscheidungen sein, und in die Verhältnismäßigkeitsüberprüfungen der Regierung mussten eben gerade die Nichtwissenskomponenten bezüglich des Virus eingebaut werden.</p><p>Dass die Gesundheit dabei das Hauptaugenmerk erhielt, war nicht nur dem tödlichen Virus, sondern auch der deutschen Geschichte geschuldet. Zeh scheint zu vergessen, dass nach dem Versagen der wohlfahrtsstaatlichen Medizinalpolizei bei der Bekämpfung der Cholera in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Aktivitäten der Hygienebewegung sowie des Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege zu einem infrastrukturellen Paradigmenwechsel führten. Folglich waren Prävention statt Repression und städtische Infrastrukturen statt polizeilicher Maßnahmen, alles organisiert auf kommunaler Ebene, unabdingbar. Dementsprechend wurden fortan auf munizipaler Ebene Wasser-, Gas- und Elektrizitätswerke, Schulen und Bildungseinrichtungen, Straßenreinigung und -beleuchtung, öffentlicher Nahverkehr, Müllabfuhr, Kanalisation, Schlachthöfe—und eben auch die Krankenversorgung und Krankenhäuser organisiert. Mit anderen Worten, viele alltägliche soziale Infrastrukturen basieren auf der Infektionsbekämpfung und sind als öffentliche Güter einer aktiven Bürger*innengesellschaft in einem demokratischen Verfassungsstaat zu verstehen. Ergo ist es nicht das Interesse der Bürger*innen der Bundesrepublik, aufgrund einer ihnen unterstellten „Demokratiemüdigkeit“ im Austausch für eine daseinsgarantierende „Sicherheit“ ihre grundgesetzlich verbürgten „Grundfreiheiten quasi auf null zu setzen“, wie von Zeh im <i>Focus</i>-Artikel vom April 2020 behauptet. 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Kersten und Rixen 95−100).</p><p>Zehs in ihrem <i>Focus</i>-Artikel gefassten Fazit, „[e]ine Pandemie, die Menschen krank macht, ist schlimm genug. Eine Pandemie, die den Rechtsstaat befällt und die freiheitliche Gesellschaft womöglich unheilbar erkranken ließe, wäre noch schlimmer“, muss man zustimmen—doch diese Gefahr bestand zu keinem Zeitpunkt. Zu fragen ist, ob es nicht gefährlicher ist, wenn man als Juristin ausschließlich Aspekte des <i>Rechtsstaats</i> im deutschen Verfassungsstaat hervorhebt und die ebenso fundamentalen Aspekte des <i>Sozialstaats</i>—Sicherheit und Solidarität—negiert. 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Corpus Delicti 2.0: Juli Zeh und die Covid-19 Pandemie
Seit Beginn der Covid-19 Pandemie hat Juli Zeh, auf das Regierungshandeln reagierend, vor einem angeblich ausufernden Gesundheitsschutz gewarnt, der zu Einschränkungen individueller Freiheitsrechte führe. Ihre Äußerungen zum Rechtsstaat in der Pandemie, oft unter Verweis auf Corpus Delicti (2009), bewegen mich, Aspekte dieses von der Autorin in Fragen zu Corpus Delicti (2020) dezidiert als politisch bezeichneten Romans (61) im Kontext ihrer Äußerungen von 2020 zu hinterfragen. Beleuchtet wird daher zunächst, wie Zeh eine pandemische Re-Lektüre von Corpus Delicti zu lenken sucht, um dann auf die von der Schriftstellerin und Juristin befürchtete Bedrohung des Rechtsstaats einzugehen. Zehs alarmistische Statements werden mit den Ausführungen zweier führender Verfassungsrechtler, Jens Kersten (Ludwig-Maximilians-Universität München) und Stephan Rixen (Universität zu Köln), kontrastiert.
Auf diese einleitenden Worte folgt im nächsten Absatz—das erste Wort ist „Heute“—der direkte Bezug zum Frühjahr 2020. Fakt und Fiktion werden somit bewusst vermischt. Diese Konstruktion insinuiert, dass wir in der von Zeh 2009 vorausgesehenen Gesundheitsdiktatur angelangt sind—ungeachtet der Tatsache, dass die beklagten Einschränkungen von Freiheitsrechten nicht diktatorisch bestimmt wurden, sondern auf Grundlage einer vom Parlament verabschiedeten Novelle des Infektionsschutzgesetzes erfolgten. Auch wenn von den dort legitimierten Pandemiemaßnahmen „praktisch der gesamte Grundrechtskatalog des Grundgesetzes betroffen“ war, wie auch Jens Kersten und Stephan Rixen in Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise (22) festhalten, eröffnet das Infektionsschutzgesetz schon aufgrund des im Grundgesetz garantierten Vorrangs der Verfassung „den Gesundheitsbehörden keinerlei Befugnis und Möglichkeit, die Kompetenzen und Funktionsfähigkeit von Verfassungsorganen des Bundes und der Länder zu beeinträchtigen“ (40). Zehs bereits am 5. April 2020 im Interview mit Jan Heidtmann unter dem Titel „Die Bestrafungstaktik ist bedenklich“ in der Süddeutschen Zeitung geäußerte Behauptung, „unsere Demokratie befindet sich bis auf Weiteres in der Hand der Kurve, welche die Ausbreitungsgeschwindigkeit anzeigt“, ist somit mindestens fragwürdig. Die Demokratie befand sich vielmehr zweifelsfrei in der Hand der ans Grundgesetz gebundenen Verfassungsorgane. Die Vorstellung, dass es zu einer Art Staatsstreich der Gesundheitsämter unter Anführung des Robert Koch-Instituts hätte kommen können, ist absurd.
Die von Zeh aus Corpus Delicti abgeleiteten und im Focus mit dem Regierungshandeln verglichenen Kritikpunkte bedürfen somit einer Analyse. Als Beispiele für das Opfern bürgerlicher Freiheiten zugunsten des Erhalts der Volksgesundheit führt Zeh am 9. April 2020 im Focus an, dass zum Schutz der Gesundheit „Schulen und Kitas geschlossen, […] Gottesdienste unterbunden, Reise- und Versammlungsfreiheit abgeschafft [wurden]“. Vier Tage zuvor warf sie im erwähnten Interview in der Süddeutschen Zeitung der Regierung vor, ohne notwendige Rechtsgrundlage „drakonisch in die Bürgerrechte“ einzugreifen und sich somit außerhalb der demokratischen Regeln zu bewegen. Im Regierungshandeln erkannte sie daher nicht nur eine „Geringschätzung unserer Verfassung“, sondern auch eine bedenkliche „Bestrafungstaktik“, welche „die gesellschaftliche Stimmung [vergifte]“. So beklagenswert die Schließung von Schulen und Kitas war, die Behauptung, die Reise- und Versammlungsfreiheit sei abgeschafft worden, ist genauso falsch wie jene, die Rechtsgrundlage sei nicht geklärt und die Regeln der Demokratie verletzt. Der Juristin musste bewusst sein, dass Grundrechte nicht abgeschafft werden können: sie sind aufgrund des in Grundgesetz Art. 1 Abs. 3 garantierten Verfassungsvorrangs lediglich—und das ist geschehen—durch Paragraph 32 des Infektionsschutzgesetzes „unter der Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes einzuschränken“ (Kersten und Rixen 39).
Die weiteren aus Corpus Delicti abgeleiteten Kritikpunkte unterstellen allesamt, dass bürgerliche Freiheiten dem Erhalt der Volksgesundheit geopfert wurden. Dazu gehört beispielsweise die Feststellung, dass die Menschen kaum noch das Haus verlassen, was Zeh in der im Focus beklagten Realität in „Ausgangssperren und Arbeitsverbote[n]“ verwirklicht findet. Die im Roman ausgestaltete ständige Überwachung jedes Individuums zeichnet sich für Zeh im Focus darin ab, dass „[d]ie Telekom Handy-Daten ans Robert Koch-Institut [übermittelt], um ‚Bewegungsströme‘ zu analysieren“ und „[d]er Gesundheitsminister […] laut darüber nach[denkt], das ‚Tracking‘ von Individuen zum Teil des Gesundheitsschutzes zu machen“. Die Feststellung, es sei „von Krieg, Notstand und ‚Ermächtigung‘ die Rede“ impliziert ferner, Demokratie und Verfassung seien in Gefahr. Im erwähnten Interview mit der Süddeutschen Zeitung antwortet Zeh auf die Frage Heidtmanns, die Gesundheit als „Staatsprinzip“ aus Corpus Delicti mit der Situation 2020 direkt vergleicht, dass das Regierungshandeln auf das Einschüchtern der Bevölkerung abziele, um „sie auf diese Weise zum Einhalten der Notstandsregeln zu bringen“.
An gleicher Stelle von Heidtmann mit einem Zitat des Nazi-Verfassungsrechtlers Carl Schmitt konfrontiert, wonach „[s]ouverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, negiert Zeh zwar, dass das Grundgesetz gezielt angegriffen würde, betont aber, dass „wir […] eine Form von orientierungsloser Geringschätzung gegenüber unserer Verfassung erleben“. Dass Zeh Heidtmann keinesfalls widerspricht, als er eine direkte Verbindung zwischen dem historisch aufgeladenen Begriff des „Ausnahmezustands“ und dem Frühjahr 2020 herstellt, ist bemerkenswert. Die Juristin muss erkennen, dass hier unverblümt auf Schmitts juristische Rechtfertigung angespielt wird, auf deren Grundlage Reichspräsident Paul von Hindenburgs unmäßige Auslegung der in Art. 48 Abs. 2 der Weimarer Reichsverfassung geregelten Notstandsbefugnisse den Weg in die Nazi-Diktatur ermöglichte (vgl. Kersten und Rixen 34). Indem Zeh in ihrer Antwort von „Geringschätzung unserer Verfassung“ spricht, insinuiert sie weiterhin, dass diese zumindest in Gefahr, wenn nicht teilweise ausgesetzt sei; dass also der Normalzustand, in dem anders als im Ausnahmezustand die Verfassung gilt, ausgesetzt sei (vgl. Kersten und Rixen 30).
Ein solches Suspendieren der Grundrechte ist schon aufgrund der Tatsache ausgeschlossen, dass die Mütter und Väter des Grundgesetzes nach den katastrophalen Erfahrungen mit Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) gegen eine vergleichbare Notstandsverfassung votierten, welche die Möglichkeit der Suspendierung von Grundrechten vorgesehen hätte. Vielmehr gilt dem Grundgesetz zufolge das im Normalfall geltende Sicherheitsrecht, zu dem neben dem Polizei- und Ordnungsrecht auch das Infektionsschutzgesetz zählt, auch in extremen Notsituationen. Auf die Covid-19 Pandemie wurde also weder mit einem grundgesetzwidrigen Ausnahmezustand noch mit einer grundgesetzgemäßen Notstandsverfassung reagiert. Vielmehr geschahen alle vorübergehenden Grundrechtseinschränkungen auf Basis des normalen Sicherheitsrechts, insbesondere des Infektionsschutzgesetzes.
In ihrem im Frühjahr 2020 im Focus veröffentlichten Beitrag kritisiert Zeh weiter, die Staatsmacht würde nicht von Parlamenten, sondern Expert*innen ausgeübt: Da die Bevölkerung „kein Vertrauen mehr in Parteien, Politiker und komplizierte demokratische Prozesse [habe], sondern […] sich nach den klaren Ansagen von ‚Experten‘ oder gleich von autoritären Anführern [sehne]“, träfe die Wissenschaft die politischen Entscheidungen. Konfrontiert mit einem größtenteils unbekannten Virus, haben sich alle im demokratischen Verfassungsstaat handelnden selbstverständlich das in Universitäten, Akademien wie der Leopoldina, im Robert Koch-Institut und in Gremien der wissenschaftsbasierten Politikberatung wie dem Deutschen Ethikrat vorhandene Wissen zugänglich gemacht, damit es in politische Entscheidungen einfließen konnte. Dass dies exakt dem Verfassungsauftrag entspricht, ist sogleich noch anzusprechen. Doch hier ist bereits festzuhalten, dass—anders als von Zeh am 24. April 2020 zusammen mit unter anderen Boris Palmer und Alexander Kekulé in einem Spiegel-Artikel mit dem Titel „Raus aus dem Lockdown—so rasch wie möglich“ behauptet—„Covid-19 für die Bevölkerung“ durchaus „gefährlicher als die Grippe“ war, auch „wenn man bestimmte Risikogruppen und Menschen über fünfundsechzig gezielt vor Infektionen schützt“. Abgesehen davon, dass Zeh, indem sie sich hier mit „Experten“ zusammentat, genau jene Strategie verfolgte, die sie an der Regierung kurz zuvor im Focus kritisierte, bleibt die Form des gezielten Schutzes vulnerabler Gruppen nebulös. Angesichts der hohen Zahl Verstorbener gerade in Einrichtungen wie Senior*innen- und Behindertenheimen fragt sich, inwiefern hier implizit eine die Schwächsten der Gesellschaft gefährdende Abwägung des Lebensrechts vorliegt. Jedenfalls hat das Bundesverfassungsgericht Regelungen, die „stärker gefährdete Menschen […] über längere Zeit vollständig aus dem Leben in der Gemeinschaft“ ausschließen würden, für nicht rechtmäßig erklärt (BVerfG 13.5.2020—1BvR 1021/20, Rn.9). Dies ergibt sich schon aus Grundgesetz Art. 1, dessen Würdeversprechen selbstverständlich fragile Menschengruppen einschließt.
Hier insinuiert Zeh mithin, dass das grundlegende Prinzip des Verfassungsstaates, die Verhältnismäßigkeit, aufgegeben worden sei. Dies ist jedoch mitnichten korrekt, denn im Regierungshandeln manifestierte sich gerade der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, indem abgewogen wurde zwischen dem in Grundgesetz Art. 2 Abs. 2 S. 1 garantierten Schutz von Leben und Gesundheit und der Gewährleistung eines Gesundheitssystems auf der einen und den Freiheitsrechten, die durch einzelne infektionsschutzrechtliche Maßnahmen vorübergehend eingeschränkt, aber nicht suspendiert wurden. Dem Verhältnismäßigkeitsprinzip zufolge muss, da liegt die Juristin und Autorin richtig, jede die Bürger*innenrechte einschränkende Pandemiemaßnahme geeignet, erforderlich und angemessen sein. Was Zeh allerdings außer Acht lässt, sind die spezifischen Umstände der Covid-19 Pandemie: nicht nur mussten Gesetzgebende, Regierungen und Verwaltungen—unter Einhaltung des Grundsatzes der Gewaltenteilung, der auch zu keinem Zeitpunkt ad acta gelegt wurde—Regeln für alle Lebensbereiche gleichzeitig verordnen, sondern dies geschah, insbesondere zu Pandemiebeginn, unter den Bedingungen des Nichtwissens (vgl. Kersten und Rixen 47, 51). Die Fehlerhaftigkeit von Zehs Vorwurf, man verließe sich zu sehr auf Expert*innen, tritt hier besonders deutlich zutage, denn gerade das zum jeweiligen Zeitpunkt vorhandene Expert*innenwissen musste wesentliche Grundlage für Entscheidungen sein, und in die Verhältnismäßigkeitsüberprüfungen der Regierung mussten eben gerade die Nichtwissenskomponenten bezüglich des Virus eingebaut werden.
Dass die Gesundheit dabei das Hauptaugenmerk erhielt, war nicht nur dem tödlichen Virus, sondern auch der deutschen Geschichte geschuldet. Zeh scheint zu vergessen, dass nach dem Versagen der wohlfahrtsstaatlichen Medizinalpolizei bei der Bekämpfung der Cholera in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Aktivitäten der Hygienebewegung sowie des Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege zu einem infrastrukturellen Paradigmenwechsel führten. Folglich waren Prävention statt Repression und städtische Infrastrukturen statt polizeilicher Maßnahmen, alles organisiert auf kommunaler Ebene, unabdingbar. Dementsprechend wurden fortan auf munizipaler Ebene Wasser-, Gas- und Elektrizitätswerke, Schulen und Bildungseinrichtungen, Straßenreinigung und -beleuchtung, öffentlicher Nahverkehr, Müllabfuhr, Kanalisation, Schlachthöfe—und eben auch die Krankenversorgung und Krankenhäuser organisiert. Mit anderen Worten, viele alltägliche soziale Infrastrukturen basieren auf der Infektionsbekämpfung und sind als öffentliche Güter einer aktiven Bürger*innengesellschaft in einem demokratischen Verfassungsstaat zu verstehen. Ergo ist es nicht das Interesse der Bürger*innen der Bundesrepublik, aufgrund einer ihnen unterstellten „Demokratiemüdigkeit“ im Austausch für eine daseinsgarantierende „Sicherheit“ ihre grundgesetzlich verbürgten „Grundfreiheiten quasi auf null zu setzen“, wie von Zeh im Focus-Artikel vom April 2020 behauptet. Vielmehr geht es darum, „sich in der sozialen Teilhabe an öffentlichen Gütern frei zu entfalten“ (Kersten und Rixen 71).
In den von der Bevölkerung wahrgenommenen „harte[n] verfassungsrechtliche[n] Konflikte[n] zwischen Grundrechtsschutz und Grundrechtsfreiheit“ (Kersten und Rixen 45) zeigt sich, dass die Bevölkerung, anders als von Zeh insinuiert, in der Pandemie mitnichten zu einem unkritischen, teilnahmslosen Wust lethargischer Bürger*innen wurde. Dass „[d]ie Bundesrepublik […] auch in der Corona-Krise eine aktive und demokratische Bürgergesellschaft“ (Kersten und Rixen 24) ist, „die politische Öffentlichkeit in der Corona-Krise sehr aktiv und hochgradig sensibilisiert“ (25) daherkommt, beweist nicht zuletzt die erfolgreiche Durchführung von Wahlkämpfen und Wahlen inmitten in der Pandemie, so dass es sogar nach sechzehn Jahren zu einem Regierungswechsel auf Bundesebene kommen konnte (vgl. Kersten und Rixen 95−100).
Zehs in ihrem Focus-Artikel gefassten Fazit, „[e]ine Pandemie, die Menschen krank macht, ist schlimm genug. Eine Pandemie, die den Rechtsstaat befällt und die freiheitliche Gesellschaft womöglich unheilbar erkranken ließe, wäre noch schlimmer“, muss man zustimmen—doch diese Gefahr bestand zu keinem Zeitpunkt. Zu fragen ist, ob es nicht gefährlicher ist, wenn man als Juristin ausschließlich Aspekte des Rechtsstaats im deutschen Verfassungsstaat hervorhebt und die ebenso fundamentalen Aspekte des Sozialstaats—Sicherheit und Solidarität—negiert. Dass diese Abwägung in der Pandemie besonders problematisch ist, dass man als politisch denkende Bürgerin und Juristin über den Zustand der Verfassungsordnung reflektiert, ist evident; das sollte jedoch auch für die per Art. 28 Abs. 1 S. 1 des Grundgesetzes im Begriff des „sozialen Rechtsstaats“ festgeschriebene Gleichsetzung der Sozialstaatsverpflichtung und der Rechtsstaatsverpflichtung gelten, auch hier ist abzuwägen. Zu insinuieren, dass der Staatsapparat und seine Verfassungsorgane eine dieser Verpflichtungen leichtfertig geopfert und somit die Demokratie zugunsten des Schutzes von Menschenleben aufgegeben hätten, erscheint nicht nur zynisch im Angesicht der massenhaft Verstorbenen, es delegitimiert geradezu fundamental den Verfassungsstaat, den die Autorin zu verteidigen vorgibt. Dies gilt insbesondere für Zeh, die sich lange vor ihrer Ernennung zum ehrenamtlichen Mitglied des Landesverfassungsgerichts Brandenburgs bereits als politisch aktive Intellektuelle positioniert, stilisiert und vermarktet hat. Sie praktiziert im besten Brechtschen Sinn eingreifendes Denken, öffentliches Denken in der Krise mit dem Ziel, folgenreich zu sein, gerade weil sie die öffentliche Meinung aktiviert. Ihre alarmistische Kritik, die im reduzierten Bild des Verfassungsstaates zumindest einen Hauch von Diktatur vermuten lässt und den deutschen Staat nicht als im Grundgesetz definierten „sozialen Rechtsstaat“, sondern als entfesselten biopolitischen Leviathan imaginiert, erscheint allerdings gefährlich.
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