{"title":"英国退出:虚无之地的英国","authors":"Andrew Watt","doi":"10.5771/0342-300X-2019-4-246","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Am 23. Juni 2016 schockierten britische Wähler die Europäische Union (EU) bis ins Mark. Sie stimmten mit einer kleinen Mehrheit dafür, die Union nach mehr als 40 Jahren zu verlassen. Jetzt, zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses für diesen Kommentar, nähern wir uns dem dritten Jahrestag des Referendums. Großbritannien und in geringerem Maße auch die gesamte EU befinden sich seitdem in einem fast permanenten Zustand des Brexitfiebers. Jedoch : Bis heute hat Großbritannien die EU nicht verlassen. Es nimmt sogar an den Europawahlen im Mai 2019 teil. Drei Jahre nach dem Referendum ist Großbritannien zwar „mit dem Herzen“ nicht mehr „drin“ in der EU, aber letztlich auch nicht „draußen“. Es befindet sich in a No Man’s Land. Wie konnte das passieren ? Es gibt drei ineinandergreifende Gründe, die die Sackgasse erklären. Erst wirklich nach dem Referendum näherte man sich der einfachen Frage : Was bedeutet es eigentlich, die EU zu verlassen ? Die sich wiederholenden Auskünfte von Premierministerin May waren nicht wirklich hilfreich : Brexit bedeutet Brexit. Obwohl es eine ganze Reihe von Optionen gibt, können sie nicht beliebig kombiniert werden. So war und ist es beispielsweise nicht möglich, die Mitgliedschaft im Binnenmarkt mit der vollständigen Kontrolle über die Einwanderung oder der unbegrenzten Möglichkeit, die britische Industrie zu subventionieren, zu verbinden. Das Vereinigte Königreich musste einen Punkt in einem Kontinuum von Rechten und damit verbundenen Verpflichtungen – Vollmitgliedschaft an einem Ende und Drittstaatenstatus am anderen Ende – wählen. Der erste Hauptgrund für die Blockade war also, dass es eine schwache Mehrheit für Leave gab, solange die Folgen abstrakt blieben. Aber jede tatsächliche, konkrete Version davon erwies sich als nicht mehrheitsfähig. Der zweite Aspekt betrifft das parteipolitische System, das bekanntlich auf einem First-Past-The-Post-Wahlsystem und der Dominanz zweier großer Parteien, der Konservativen (Tories) auf der rechten und der Labour-Partei auf der linken Seite basiert. Der Brexit jedoch lag quer zu den Parteigrenzen. Die meisten Labour-Abgeordneten waren für Remain, eine Minderheit von ihnen, vor allem in der Führung, trugen diese Position nicht mit, wollten austreten oder waren zumindest bereit, das Referendum zu respektieren. Die Konservativen wiederum litten unter einer Dreiteilung zwischen harten Brexitern, einem weichen Brexit-Kern und einer nicht unbedeutenden Remain-Minderheit. Diese Spaltungen brachten – Live im TV zu verfolgen – das britische parlamentarische System an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Der dritte Faktor war eine äußerst komplexe regionale Dimension innerhalb des Vereinigten – oder besser : unvereinigten – Königreichs. Kurz : Alle Parteien waren sich der Risiken bewusst, den jahrhundertealten irischen Konflikt, der mit dem Karfreitagsabkommen gelöst worden war, wieder zum Leben zu erwecken. Folglich galt es, eine offene Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland aufrechtzuerhalten. Das aber war unvereinbar mit der roten Linie Großbritanniens, die Zollunion zu verlassen. Die Alternative einer Zollgrenze in der Irischen See war sowohl für die Konservativen als auch für die DUP Nordirlands, auf deren Stimmen sich die Regierung stützte, ein Gräuel. Der daraus resultierende Backstop, der ganz UK auf unbestimmte Zeit in einer Zollunion hielt, war für einen Großteil der Tory-Partei unannehmbar. Unterdessen befeuerte der Brexit die pro-europäischen schottischen Nationalisten, ihre Kampagne für die Unabhängigkeit zu erneuern. Die Aussicht, Schottland zu „verlieren“, verängstigte aus ganz unterschiedlichen Gründen Tories wie Labour. Allen diesen drei Faktoren ist gemeinsam, dass es sich um interne Angelegenheiten des UK handelt. Es ist daher seltsam, Behauptungen zu hören, die Ursachen für den bislang nicht vollzogenen Brexit seien fehlender Wille seitens der britischen Regierung, ihn umzusetzen, oder die angebliche Unnachgiebigkeit der EU. Natürlich beschuldigen diejenigen, die die Tory-Partei künftig anführen wollen, May des persönlichen Versagens oder mangelnden Engagements. Aber, wie gezeigt, sind die Probleme grundlegender Natur. Und natürlich liefen die Brexiters Sturm gegen die EU wegen ihrer Weigerung, dem Vereinigten Königreich zu erlauben, „die Rosinen aus dem EU-Kuchen zu picken“. Die EU für innenpolitische Mängel verantwortlich zu machen, ist eine beliebte, aber intellektuell unehrliche Strategie. Und gar kein Verständnis sollte man für Kontinentaleuropäer haben, die bereit sind, Prinzipien der EU über Bord zu werfen, nur um kurzfristige Kosten eines harten Brexits zu vermeiden. Wer könnte ernsthaft erwarten, dass die EU einem Land, das aussteigen will, eine Wunschliste von Optionen anbieten würde, die die EU-Verträge ihren Mitgliedern nicht erlaubt ? Dies hätte unweigerlich zu Forderungen einer Reihe von anderen Ländern nach jeweils maßgeschneiderten Lösungen geführt. Tatsächlich ist die EU dem Vereinigten Königreich in mehrfacher Hinsicht entgegengekommen, insbesondere indem sie die Möglichkeit einer Zollunion für das Vereinigte Königreich als Ganzes (nicht nur für Nordirland) akzeptiert hat. Im März verlängerte sie den Artikel-50-Prozess bis Halloween, ohne auf einem klaren Weg aus der Blockade zu bestehen und in dem Wissen, dass die britische Teilnahme an den Europawahlen wahrscheinlich Folgeprobleme bei der Bildung der neuen EU-Kommission bereiten wird. Die Kritik an der Unnachgiebigkeit der EU kaschiert die einfache Tatsache, dass der Brexit-Ruf von Anfang an ein schlecht durchdachtes Projekt war, das auf einem unerreichbaren und damit unverantwortlichen Versprechen basiert. Welcher Weg aus der Sackgasse letztlich gefunden wird, weiß derzeit niemand. Aber mit jedem Tag, der vergeht, wird die normative Leuchtkraft des Brexit-Referendums schwächer. Wegweisend ist sein Licht immer weniger. ■","PeriodicalId":255082,"journal":{"name":"WSI-Mitteilungen","volume":"67 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"2019-07-25","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":"{\"title\":\"Brexit : Großbritannien im Niemandsland\",\"authors\":\"Andrew Watt\",\"doi\":\"10.5771/0342-300X-2019-4-246\",\"DOIUrl\":null,\"url\":null,\"abstract\":\"Am 23. Juni 2016 schockierten britische Wähler die Europäische Union (EU) bis ins Mark. 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Obwohl es eine ganze Reihe von Optionen gibt, können sie nicht beliebig kombiniert werden. So war und ist es beispielsweise nicht möglich, die Mitgliedschaft im Binnenmarkt mit der vollständigen Kontrolle über die Einwanderung oder der unbegrenzten Möglichkeit, die britische Industrie zu subventionieren, zu verbinden. Das Vereinigte Königreich musste einen Punkt in einem Kontinuum von Rechten und damit verbundenen Verpflichtungen – Vollmitgliedschaft an einem Ende und Drittstaatenstatus am anderen Ende – wählen. Der erste Hauptgrund für die Blockade war also, dass es eine schwache Mehrheit für Leave gab, solange die Folgen abstrakt blieben. Aber jede tatsächliche, konkrete Version davon erwies sich als nicht mehrheitsfähig. Der zweite Aspekt betrifft das parteipolitische System, das bekanntlich auf einem First-Past-The-Post-Wahlsystem und der Dominanz zweier großer Parteien, der Konservativen (Tories) auf der rechten und der Labour-Partei auf der linken Seite basiert. 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Natürlich beschuldigen diejenigen, die die Tory-Partei künftig anführen wollen, May des persönlichen Versagens oder mangelnden Engagements. Aber, wie gezeigt, sind die Probleme grundlegender Natur. Und natürlich liefen die Brexiters Sturm gegen die EU wegen ihrer Weigerung, dem Vereinigten Königreich zu erlauben, „die Rosinen aus dem EU-Kuchen zu picken“. Die EU für innenpolitische Mängel verantwortlich zu machen, ist eine beliebte, aber intellektuell unehrliche Strategie. Und gar kein Verständnis sollte man für Kontinentaleuropäer haben, die bereit sind, Prinzipien der EU über Bord zu werfen, nur um kurzfristige Kosten eines harten Brexits zu vermeiden. Wer könnte ernsthaft erwarten, dass die EU einem Land, das aussteigen will, eine Wunschliste von Optionen anbieten würde, die die EU-Verträge ihren Mitgliedern nicht erlaubt ? Dies hätte unweigerlich zu Forderungen einer Reihe von anderen Ländern nach jeweils maßgeschneiderten Lösungen geführt. Tatsächlich ist die EU dem Vereinigten Königreich in mehrfacher Hinsicht entgegengekommen, insbesondere indem sie die Möglichkeit einer Zollunion für das Vereinigte Königreich als Ganzes (nicht nur für Nordirland) akzeptiert hat. Im März verlängerte sie den Artikel-50-Prozess bis Halloween, ohne auf einem klaren Weg aus der Blockade zu bestehen und in dem Wissen, dass die britische Teilnahme an den Europawahlen wahrscheinlich Folgeprobleme bei der Bildung der neuen EU-Kommission bereiten wird. Die Kritik an der Unnachgiebigkeit der EU kaschiert die einfache Tatsache, dass der Brexit-Ruf von Anfang an ein schlecht durchdachtes Projekt war, das auf einem unerreichbaren und damit unverantwortlichen Versprechen basiert. Welcher Weg aus der Sackgasse letztlich gefunden wird, weiß derzeit niemand. Aber mit jedem Tag, der vergeht, wird die normative Leuchtkraft des Brexit-Referendums schwächer. 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Die sich wiederholenden Auskünfte von Premierministerin May waren nicht wirklich hilfreich : Brexit bedeutet Brexit. Obwohl es eine ganze Reihe von Optionen gibt, können sie nicht beliebig kombiniert werden. So war und ist es beispielsweise nicht möglich, die Mitgliedschaft im Binnenmarkt mit der vollständigen Kontrolle über die Einwanderung oder der unbegrenzten Möglichkeit, die britische Industrie zu subventionieren, zu verbinden. Das Vereinigte Königreich musste einen Punkt in einem Kontinuum von Rechten und damit verbundenen Verpflichtungen – Vollmitgliedschaft an einem Ende und Drittstaatenstatus am anderen Ende – wählen. Der erste Hauptgrund für die Blockade war also, dass es eine schwache Mehrheit für Leave gab, solange die Folgen abstrakt blieben. Aber jede tatsächliche, konkrete Version davon erwies sich als nicht mehrheitsfähig. Der zweite Aspekt betrifft das parteipolitische System, das bekanntlich auf einem First-Past-The-Post-Wahlsystem und der Dominanz zweier großer Parteien, der Konservativen (Tories) auf der rechten und der Labour-Partei auf der linken Seite basiert. Der Brexit jedoch lag quer zu den Parteigrenzen. Die meisten Labour-Abgeordneten waren für Remain, eine Minderheit von ihnen, vor allem in der Führung, trugen diese Position nicht mit, wollten austreten oder waren zumindest bereit, das Referendum zu respektieren. Die Konservativen wiederum litten unter einer Dreiteilung zwischen harten Brexitern, einem weichen Brexit-Kern und einer nicht unbedeutenden Remain-Minderheit. Diese Spaltungen brachten – Live im TV zu verfolgen – das britische parlamentarische System an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Der dritte Faktor war eine äußerst komplexe regionale Dimension innerhalb des Vereinigten – oder besser : unvereinigten – Königreichs. 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