{"title":"Rezension","authors":"Michael Sertl","doi":"10.35468/jlb-01-2019_rez","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Der vorliegende Band von Michael Behnisch widmet sich den Alltagspraxen in Wohngrup pen der Jugendhilfe und damit der Frage nach der Organisation von Zusammenhängen des täglichen Zusammenlebens von Kindern, Ju gendlichen und Fachkräften. Ohne sich bereits zu Beginn der Forschungstätigkeit an Hypothe sen abzuarbeiten, geht Behnisch die Frage phä nomenologisch offen an und stellt eine häufig übersehene Alltagspraxis, nämlich die Organi sation des Essens, in den Mittelpunkt seiner Untersuchung. Dabei nutzt er in seiner Unter suchung, die er in sechs Wohngruppen bei vier verschiedenen Trägerformen durchgeführt hat, vor allem einen rekonstruktiven Zugang; zum einen über ethnografische Beobachtungen, zum anderen über Interviews mit Kindern und Jugendlichen sowie Fachkräften. Aus diesem Material ist ein eindrucksvoller Blick in die All tagswelt des Heimes und seiner Organisation entstanden, wenngleich dieser Blick bei derar tigen qualitativen Zugängen eher dem sprich wörtlichen „Blick durchs Schlüsselloch“ gleicht. Darauf weist der Autor mehrfach hin, weil er die teilweise implizit scharfe Professionskritik, die in den sich abbildenden Beschreibungen und Alltagswelten (z. B. in dem Abschnitt über den Einsatz von Erziehungstechniken, S. 218ff ) sichtbar wird, nicht als generalisiert verstanden haben möchte. Die Ergebnisse dieser Untersu chung legen nicht nur den Alltag von Kindern und Jugendlichen in der Heimerziehung „frei“ und machen ihn erfahrbar; Behnisch ermöglicht damit an vielen Stellen Anlässe zur Selbstrefle xion des professionellen Alltagshandelns, die nicht ausschließlich in einer Kritik des eigenen Handelns münden sollen, sondern vielmehr auf das Verständnis eines „organisierten Alltags“ im Heim zielen – wie der Titel des Bandes bereits verspricht. Behnisch verweist deutlich auf die Verbindung interaktionistischer Erklärungs muster zur Herstellung von Alltag, der zum einen durch die Kinder und Jugendlichen und ihr Handeln selbst erst entsteht; zum anderen aber auch, dass Alltag auch als das Produkt der Interaktion zwischen Professionellen und Kindern und Jugendlichen verstanden werden kann. Mit letztgenanntem Hinweis kann sichtbar gemacht werden, dass Alltag stets auch eine Aushandlungskom ponente verschiedener Deutungen und Sinn zusammenhänge beinhaltet, die für Behnisch entscheidend ist: „Wenn Kinder zum Beispiel nicht verstehen, warum sie ‚etwas Gesundes‘ essen sollen, erfolgt in diesem Sinne eine ‚Fehl interpretation‘. Erlebt wird die Aufforderung dann als Bedrohung oder Ungerechtigkeit.“ (S. 63) Hier verweist Behnisch auf die pädago gische Situation, die im späteren Verlauf des Buches näher betrachtet wird. Um das Phäno men Alltag (und seiner hervorgebrachten und strukturierenden Praxen) aber überhaupt be schreibbar zu machen, widmet sich der Autor einer besonderen Praxisform: Dem Essen. Ob wohl Essen (und mit ihm der Gegenstand „Gesundheit“) einen engen Bezug zur pädago gischen Praxis schlechthin besitzt, sowohl als Anlass normativ pädagogischen Handelns als auch als bloße Alltagserfahrung, steht dieser Gegenstand erst seit einigen Jahren im Fokus fachlicher Diskurse und Analysen Sozialer Ar beit. In der Vergangenheit meist noch als unbe wusstes Alltagshandeln unberücksichtigt, haben sich in den letzten zehn Jahren einige Wissen schaftler*innen (z. B. Rose, Täubig, Behnisch) mit der Wirkmächtigkeit von Essen als Schlüssel situation des pädagogischen Alltags beschäf tigt. Dieser These geht Behnisch in seinem Band empirisch nach. Ihm gelingt damit eine eindrucksvolle Rekonstruktion von Alltagswel ten im Heim, deren Organisation vor allem – so die These – durch Essenspraxen interaktionis Michael Behnisch (2018): Die Organisation des Täglichen. Alltag in der Heimerziehung am Beispiel des Essens IGfH-Eigenverlag, Frankfurt a.M. 2018, 352 S.(ISBN: 978-3-925146-96-1) € 19,90","PeriodicalId":347678,"journal":{"name":"journal für lehrerInnenbildung jlb 01-2019 feedback","volume":"2 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"2019-07-01","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":"{\"title\":\"Rezension\",\"authors\":\"Michael Sertl\",\"doi\":\"10.35468/jlb-01-2019_rez\",\"DOIUrl\":null,\"url\":null,\"abstract\":\"Der vorliegende Band von Michael Behnisch widmet sich den Alltagspraxen in Wohngrup pen der Jugendhilfe und damit der Frage nach der Organisation von Zusammenhängen des täglichen Zusammenlebens von Kindern, Ju gendlichen und Fachkräften. 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