{"title":"民族主义者,各种现象的代号","authors":"Martin Schaad","doi":"10.14361/9783839451847-002","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Kurz vor dem Ende seiner langen abenteuerlichen Reise speist Voltaires Candide mit seinem Begleiter, dem alten Philosophen Martin, in einem Wirtshaus in Venedig. Es ist Karneval und die beiden sitzen mit einer Gruppe von sechs ihnen unbekannten Männern beim Souper. Unvermutet tritt Cacambo, Candides treuer, schon lange vermisster Diener, an ihn heran, und berichtet, dass die geliebte Conegunde in Konstantinopel sei. Gleichermaßen glücklich wie aufgeregt möchte Candide sofort aufbrechen, doch Cacambo meint, er solle in Ruhe sein Mahl beenden. Zudem sei er, Cacambo, erst einmal unabkömmlich, denn er sei jetzt Diener und Sklave eines der Fremden, mit denen Candide gerade den Tisch teile. Nach einer Weile spricht Cacambo diesen seinen neuen Herrn an: »Sire, IhreMajestät können reisen, wenn’s Ihnen gefällig ist, das Schiff ist klar.« Überrascht blicken die um den Tisch Versammelten einander an. Die allseitige Verwunderung wird noch gesteigert, als ein zweiter der Fremden von seinem Diener als Majestät tituliert und darüber informiert wird, dass für den nahenden Aufbruch alles bereitet sei. Und in gleicher Weise geschieht dies dann mit dem dritten, dem vierten und dem fünften Fremden. Auch der sechste Herr wird schließlich alsMajestät angesprochen, jedoch sind die Worte des Dieners alles andere als unterwürfig: »Bei meiner armen Seele! Sire, Ihro Majestät können so wenig mehr auf Borg kriegen wie ich und ‘s is leicht möglich, daß wir heutʼ alle beide in den Schuldturm wandern müssen. Das Gescheitste, ich sehʼ, wo der Zimmermann das Loch gelassen. Gott stehʼ Ihnen bei.« Dies gesagt, tritt der Diener ab. Candide glaubt zunächst an einen elaborierten Karnevalsscherz; es könne doch unmöglich sein, dass sechs gekrönteHäupter in ein und demselben venezianischen Wirtshaus zusammengefunden hätten. Als er aber die Fremden darauf anspricht, erweist es sich, dass sie tatsächlich alle Monarchen sind. 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Gleichermaßen glücklich wie aufgeregt möchte Candide sofort aufbrechen, doch Cacambo meint, er solle in Ruhe sein Mahl beenden. Zudem sei er, Cacambo, erst einmal unabkömmlich, denn er sei jetzt Diener und Sklave eines der Fremden, mit denen Candide gerade den Tisch teile. Nach einer Weile spricht Cacambo diesen seinen neuen Herrn an: »Sire, IhreMajestät können reisen, wenn’s Ihnen gefällig ist, das Schiff ist klar.« Überrascht blicken die um den Tisch Versammelten einander an. Die allseitige Verwunderung wird noch gesteigert, als ein zweiter der Fremden von seinem Diener als Majestät tituliert und darüber informiert wird, dass für den nahenden Aufbruch alles bereitet sei. Und in gleicher Weise geschieht dies dann mit dem dritten, dem vierten und dem fünften Fremden. Auch der sechste Herr wird schließlich alsMajestät angesprochen, jedoch sind die Worte des Dieners alles andere als unterwürfig: »Bei meiner armen Seele! 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