{"title":"Böse reden, fröhlich leiden: Ästhetische Strategien der punkaffinen Intelligenz um 1980","authors":"Alexa Geisthövel","doi":"10.14361/9783839411773-012","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Am 25. Juni 1983 zeichneten die Kameras des Österreichischen Rundfunks eine Szene auf, die als Skandal in die jüngere deutsche Literaturgeschichte einging. An den beiden Vortagen hatte der seit 1977 alljährlich in Klagenfurt ausgetragene Lesewettbewerb junger deutschsprachiger Autoren und Autorinnen seinen vorhersehbaren Lauf genommen. Der dritte und letzte Tag der Veranstaltung, der mit der Verleihung der Ingeborg-Bachmann-Preise und der Stipendien endete, begann dagegen „mit Punk“1. Der 28-jährige Rainald Goetz las seinen Subito überschriebenen Text, der zunächst den Psychiater Dr. Raspe einführte, dessen Konflikt mit dem Klinikdirektor anriss, dann aber unvermittelt Raspe in die Person des lesenden Autors überspringen ließ: „Das ist doch ein Schmarren, sagte Raspe, das ist doch ein Krampf, denen was vorzulesen, was eh in meinen Roman hinein gedruckt wird, eine tote Leiche wäre das“. Gegen den Literatur-Kadaver forderte er „lebendiges echtes rotes Blut“ und schwelgte in einem Gemetzel an dem Klinikdirektor. Im Folgenden schaltete die Erzählung hin und her zwischen den Beobachtungen des Protagonisten (Raspe bzw. Ich), dem Kneipenräsonnement mit seinen Hamburger Freunden, das den durch Klagenfurt repräsentierten Kulturbetrieb verunglimpft, und dem Toben in seinem Kopf, dem inneren „LebenBrennen“, das nur durch ein Aufschneiden der Haut gelindert werden könne. An der Stelle: „Ihr könnts mein Hirn haben“, strich sich Goetz die Haare aus der Stirn und tat mit einer Rasierklinge das, was er gerade vortrug: „Ich schneide ein Loch in meinen Kopf, in die Stirne schneide ich das Loch. Mit meinem Blut soll mir das Hirn auslaufen.“2 Wäh-","PeriodicalId":401037,"journal":{"name":"Das schöne Selbst","volume":"12 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"2009-12-31","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"1","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Das schöne Selbst","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.14361/9783839411773-012","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"","JCRName":"","Score":null,"Total":0}
Böse reden, fröhlich leiden: Ästhetische Strategien der punkaffinen Intelligenz um 1980
Am 25. Juni 1983 zeichneten die Kameras des Österreichischen Rundfunks eine Szene auf, die als Skandal in die jüngere deutsche Literaturgeschichte einging. An den beiden Vortagen hatte der seit 1977 alljährlich in Klagenfurt ausgetragene Lesewettbewerb junger deutschsprachiger Autoren und Autorinnen seinen vorhersehbaren Lauf genommen. Der dritte und letzte Tag der Veranstaltung, der mit der Verleihung der Ingeborg-Bachmann-Preise und der Stipendien endete, begann dagegen „mit Punk“1. Der 28-jährige Rainald Goetz las seinen Subito überschriebenen Text, der zunächst den Psychiater Dr. Raspe einführte, dessen Konflikt mit dem Klinikdirektor anriss, dann aber unvermittelt Raspe in die Person des lesenden Autors überspringen ließ: „Das ist doch ein Schmarren, sagte Raspe, das ist doch ein Krampf, denen was vorzulesen, was eh in meinen Roman hinein gedruckt wird, eine tote Leiche wäre das“. Gegen den Literatur-Kadaver forderte er „lebendiges echtes rotes Blut“ und schwelgte in einem Gemetzel an dem Klinikdirektor. Im Folgenden schaltete die Erzählung hin und her zwischen den Beobachtungen des Protagonisten (Raspe bzw. Ich), dem Kneipenräsonnement mit seinen Hamburger Freunden, das den durch Klagenfurt repräsentierten Kulturbetrieb verunglimpft, und dem Toben in seinem Kopf, dem inneren „LebenBrennen“, das nur durch ein Aufschneiden der Haut gelindert werden könne. An der Stelle: „Ihr könnts mein Hirn haben“, strich sich Goetz die Haare aus der Stirn und tat mit einer Rasierklinge das, was er gerade vortrug: „Ich schneide ein Loch in meinen Kopf, in die Stirne schneide ich das Loch. Mit meinem Blut soll mir das Hirn auslaufen.“2 Wäh-