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{"title":"Unicornis captivatur .物理学家的那些有明确的认识及对其动物象征意义的阐释","authors":"Rainer Hirsch-Luipold","doi":"10.1515/9783110494143-011","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"TheEngelberg Codex 314, amedievalmanuscript kept in the library of the Benedictine abbey in Engelberg, Switzerland, contains a poetic adaption of the Latin version of the Physiologus. The goal of the presentation of the animals, however, has changed: the Physiologus intends to present a theological interpretation of nature, whereas the medieval hymn, inspired by the Physiologus, arranges the biblical animal symbolism into a narrative of the fall and restoration of humankind as well as the sacrificial death and resurrection of Christ, using the multifaceted animal imagery of the bible. This contribution examines this new perspective, also considering amusical rendition of Unicornis captivatur for a-capella choir by the Norwegian composer Ola Gjeilo (written in 2001). It is hoped that the change of perspective afforded by both the hymn and the modern composition will shed additional light on the hermeneutics of nature in the Physiologus. 1 Zum Deutungsverfahren des Physiologus anhand des „Hirsches“ „Wie den Hirsch nach Wasserquellen dürstet, so dürstet meine Seele nach Dir, o Gott“. Mit dem Zitat aus Ps 42,2 (41,2LXX) beginnt der Physiologus sein Kapitel zum Hirschen, den er – als Feind der Schlange, des Ursymbols des Bösen – durchaus zu loben weiß. Der Hirsch spült die Schlange (δράκων) mit Wasser, das er aus seinem Mund strömen lässt, aus ihrem Versteck, um sie zu töten. So ist er Urbild Christi der durch sein Opfer alles Böse und zuletzt den Tod zertritt. Zugleich ist der Hirsch das Bild der Jesus nachfolgenden Asketen: Wie der Hirsch aus Ps 41,2LXX dürstend zur Quelle eilt, so eilen sie mit ihrem entbehrungsvollen Leben – wie von Durst gequält – zu den Quellen der rettenden Reue. Gerne hätte ich es wie Jürgen W. Einhorn gemacht – der eine große Monographie zum Einhorn geschrieben hat1 – und meine Darstellung dem Hirsch gewidmet. Aber leider wird gerade der Hirsch in dem auf dem Physiologus basierendenmittelalterlichenHymnus über das „Einhorn“ (Unicornis captivatur), dem dieser Beitrag vor allem gelten soll, nicht aufgegriffen. Immerhin einleitend lohnt es sich dennoch, auf den Hirsch einzugehen. Denn an der Deutung des Hirsches lässt sich der Zugriff des Physiologus auf den Text der Bibel ebenso deutlich machen wie das angewendete Deuteverfahren.2 Nach diesem ersten Teil werden wir in einem zweiten Schritt vergleichend einen Blick auf den auf dem Physiologus aufbauenden mittelalterlichen Hymnus und dessen Verfahren in der Deutung der Tiere werfen, um so im Spiegel der Rezeption die jeweiligen Besonderheiten besonders deutlich hervortreten zu lassen. Dabei nehmenwir auchOla Gjeilosmodernemusikalische Umsetzung des Hymnus in einer zeitgenössischen Komposition für achtstimmigen Chor a-capella mit in den Blick, wodurch wir gewissermassen ein dreidimensionales Bild im Spiegel der Rezeption erhalten. Ziel des Physiologus ist eine christologische Gesamtdeutung der Natur. ImHintergrund steht die Überzeugung, so wäre meine These, dass der göttliche Schöpfungslogos, der nach dem Johannesprolog Joh 1,1–18 in die Welt eingegangen ist und sie so ins Sein gerufen hat, aus dieser Welt erkennbar ist. Dieser Schöpfungslogos aber ist Christus, wie dem Prolog ebenfalls zu entnehmen ist (1,17). Um diesen Logos innerhalb der Welt zu entdecken und aufzudecken, gehendie einzelnenAbschnitte oft vonbiblischen, vielfach den Psalmen entnommenen Zitaten aus, in denen 1 Die Arbeit trägt den Titel „Spiritalis Unicornis. Das Einhorn als Bedeutungsträger in Literatur und Kunst des Mittelalters“ (Einhorn [1998]). 2 T. Kraus diskutiert am Beispiel des Einhorns den typischen Aufbau eines Physiologus-Abschnitts (im vorliegenden Band S. 68): 1. Septuaginta-Stelle; 2. Formelhafte Überleitung zum Physiologus, 3. Explikation/Charakterisierung durch den Physiologus, 4. Auslegung/Allegorese; 5. Abschlussformel. Auch wenn mich die Unterscheidung von 3 und 4 nicht wirklich überzeugt, weil bereits die Charakterisierung durch den Physiologus verschiedentlich von der Deutungsebene her gearbeitet und nur von dort her verständlich ist, wie es für eine Allegorie kennzeichnend ist, so ist der Ansatzm.E. wichtig und richtig, dass wir mehr über die Deutungstechnik des Physiologus erfahren müssen, die von Tier zu Tier durchaus signifikant variiert, wobei sich bestimmte Deutungsmuster herausarbeiten lassen. Open Access. ©2019 Rainer Hirsch-Luipold, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons AttributionNonCommercial-NoDerivatives 4.0 Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110494143-011 Unauthenticated Download Date | 12/10/19 5:26 AM s o u r c e : h t t p s : / / d o i . o r g / 1 0 . 7 8 9 2 / b o r i s . 1 4 7 5 6 1 | d o w n l o a d e d : 1 2 . 1 1 . 2 0 2 0 134 Rainer Hirsch-Luipold Tiere erscheinen,3 und verbinden diese mit naturkundlichem Handbuchwissen oder Details aus Mirabiliaoder Paradoxa-Sammlungen.4 So ist in Blick auf den Hirsch in mehreren naturkundlichen Texten5 tatsächlich zu lesen, dass er die Schlange mit seinem Atem (nicht freilich mit Wasser) aus einem Versteck herauszieht. Es ist eine scheinbar kleine Änderung, die der Physiologus vornimmt – Wasser statt Atem. Sie zeigt indes, wie die naturkundlichen Darlegungen des Physiologus bisweilen bereits von der Deutungsebene, also der Christologie, her konstruiert sind6: nicht mit seinem Atem besiegt nämlich Christus die Schlange, den Tod, sondern mit Blut und Wasser, das aus seinem Leib fließt (Joh 19,34). So gelingt es, die für das Evangelium zentrale Wassermetaphorik (Christus als Geber lebenstiftenden Wassers; Joh 4,10.13–15; vgl. 7,38) in das Bild aufzunehmen.ManchesMal bestimmt die christologische Aussageabsicht die Darstellung wie die Deutung in einer solchen Weise, dass man sich durchaus fragen mag, ob überhaupt ein Interesse an dem vorgegebenen biblischen Text bzw. den tatsächlichen Naturzusammenhängen besteht oder diese lediglich als „Sprungbrett“ für die entsprechenden Deutungen fungieren.7 AmBeispiel desHirschs lässt sich einDeutungsverfahren im Dreischritt sichtbar machen, das auch eine Reihe anderer Kapitel prägt. 1.1 Analyse/Dekonstruktion Zunächst einmal wird der vorangestellte Bibelvers („Wie den Hirsch nach Wasserquellen dürstet, so dürstet meine Seele nach Dir, o Gott“; Ps 41,2LXX) im Physiologus in seine 3 Fast in der Hälfte der Fälle steht ein Bibelvers am Anfang, der allegorisierend gedeutet wird, oftmals – wie hier – aus den Psalmen. 4 Die Grenze zwischen naturwissenschaftlichem Handbuch und Mirabilienliteratur ist hier vielfach fließend – es kann im Folgenden nicht darum gehen, die Deutungen des Physiologus zu bewerten und auf ihre wissenschaftliche Exaktheit im modernen Sinne hin zu befragen, sondern zunächst einmal darum, die Hermeneutik und Auslegungstechnik des Physiologus zu verstehen. 5 Plinius, Naturalis historia 8.118; Aelian, De natura animalium 2.9; Oppian, Kynegetika 2.236–240; vgl. Schönberger (2001, 120). 6 Dass etwader Löwemit demSchwanz seine Spuren verwischt,wird sich wohl kaum durch Naturbeobachtung untermauern lassen, obwohl sich Ähnliches durchaus in antiker naturkundlicher Literatur findet (vgl. dazu den Beitrag von S. Vollenweider im vorliegenden Band). Es versteht sich nur von einer christologischen Gesamtdeutung her. 7 Die Formulierung „Sprungbrettargument“ hat Heinz Gerd Ingenkamp in einem 2001 in Leuven unter dem Titel: „οὐκ ἀηδῶς δεῦρο μετενεγκεῖν. Sprungbrettargumente bei Plutarch“ gehaltenen, bislang aber unveröffentlichten Vortrag zu Plutarch geprägt. einzelnen Bilder aufgelöst und die einzelnen Bildfelder je für sich betrachtet (Hirsch/Schlange/Wasser) und christologisch ausgedeutet. 1.1.1 Einbeziehen weiterer Bibelstellen zum jeweiligen Motivfeld Dieses dekonstruktive Verfahren macht es möglich, das Bildmaterial des jeweiligen Bibelverses mit anderen biblischen Verwendungen der enthaltenen Einzelmotive kurzzuschließen. Bestimmte Schriften treten dabei favorisiert auf, so in den christologischen Deutungen das Johannesevangelium und in den ethischen Deutungen das Matthäusevangelium. In unserem Beispiel können, nachdem Hirsch und Wasser zu zwei Einzelbausteinen auseinandergenommen worden sind, alle Stellen hinzugenommen werden, in denen eines der Motive vorkommt. Die Dekonstruktion des Bibelverses und die christologische Deutung der Einzelmotive erlaubt es, das Verhältnis vonHirsch und Wasser in doppelter Weise neu zu bestimmen. Nicht nur dürstet den Hirsch nachWasser wie im Psalmvers. Im Physiologus lässt der Hirsch umgekehrt Wasser aus sich heraussprudeln, wird also zur Quelle des lebenspendenden Wassers. Damit wird eine Verbindung von Ps 42 mit der Wassermetaphorik des Johannesevangeliums hergestellt. Der Hirsch wird so zum Bild des johanneischen Christus als des Gebers von lebendigemWasser (Joh 7,38; 19,34).","PeriodicalId":421545,"journal":{"name":"Christus in natura","volume":"68 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"2019-11-05","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":"{\"title\":\"Unicornis captivatur. Das Deutungsverfahren des Physiologus und die Rezeption und theologische Deutung seiner Tiersymbolik in mittelalterlicher Dichtung und zeitgenössischer Musik\",\"authors\":\"Rainer Hirsch-Luipold\",\"doi\":\"10.1515/9783110494143-011\",\"DOIUrl\":null,\"url\":null,\"abstract\":\"TheEngelberg Codex 314, amedievalmanuscript kept in the library of the Benedictine abbey in Engelberg, Switzerland, contains a poetic adaption of the Latin version of the Physiologus. 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Mit dem Zitat aus Ps 42,2 (41,2LXX) beginnt der Physiologus sein Kapitel zum Hirschen, den er – als Feind der Schlange, des Ursymbols des Bösen – durchaus zu loben weiß. Der Hirsch spült die Schlange (δράκων) mit Wasser, das er aus seinem Mund strömen lässt, aus ihrem Versteck, um sie zu töten. So ist er Urbild Christi der durch sein Opfer alles Böse und zuletzt den Tod zertritt. Zugleich ist der Hirsch das Bild der Jesus nachfolgenden Asketen: Wie der Hirsch aus Ps 41,2LXX dürstend zur Quelle eilt, so eilen sie mit ihrem entbehrungsvollen Leben – wie von Durst gequält – zu den Quellen der rettenden Reue. Gerne hätte ich es wie Jürgen W. Einhorn gemacht – der eine große Monographie zum Einhorn geschrieben hat1 – und meine Darstellung dem Hirsch gewidmet. Aber leider wird gerade der Hirsch in dem auf dem Physiologus basierendenmittelalterlichenHymnus über das „Einhorn“ (Unicornis captivatur), dem dieser Beitrag vor allem gelten soll, nicht aufgegriffen. Immerhin einleitend lohnt es sich dennoch, auf den Hirsch einzugehen. Denn an der Deutung des Hirsches lässt sich der Zugriff des Physiologus auf den Text der Bibel ebenso deutlich machen wie das angewendete Deuteverfahren.2 Nach diesem ersten Teil werden wir in einem zweiten Schritt vergleichend einen Blick auf den auf dem Physiologus aufbauenden mittelalterlichen Hymnus und dessen Verfahren in der Deutung der Tiere werfen, um so im Spiegel der Rezeption die jeweiligen Besonderheiten besonders deutlich hervortreten zu lassen. Dabei nehmenwir auchOla Gjeilosmodernemusikalische Umsetzung des Hymnus in einer zeitgenössischen Komposition für achtstimmigen Chor a-capella mit in den Blick, wodurch wir gewissermassen ein dreidimensionales Bild im Spiegel der Rezeption erhalten. Ziel des Physiologus ist eine christologische Gesamtdeutung der Natur. ImHintergrund steht die Überzeugung, so wäre meine These, dass der göttliche Schöpfungslogos, der nach dem Johannesprolog Joh 1,1–18 in die Welt eingegangen ist und sie so ins Sein gerufen hat, aus dieser Welt erkennbar ist. Dieser Schöpfungslogos aber ist Christus, wie dem Prolog ebenfalls zu entnehmen ist (1,17). Um diesen Logos innerhalb der Welt zu entdecken und aufzudecken, gehendie einzelnenAbschnitte oft vonbiblischen, vielfach den Psalmen entnommenen Zitaten aus, in denen 1 Die Arbeit trägt den Titel „Spiritalis Unicornis. Das Einhorn als Bedeutungsträger in Literatur und Kunst des Mittelalters“ (Einhorn [1998]). 2 T. Kraus diskutiert am Beispiel des Einhorns den typischen Aufbau eines Physiologus-Abschnitts (im vorliegenden Band S. 68): 1. Septuaginta-Stelle; 2. Formelhafte Überleitung zum Physiologus, 3. Explikation/Charakterisierung durch den Physiologus, 4. Auslegung/Allegorese; 5. Abschlussformel. 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Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons AttributionNonCommercial-NoDerivatives 4.0 Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110494143-011 Unauthenticated Download Date | 12/10/19 5:26 AM s o u r c e : h t t p s : / / d o i . o r g / 1 0 . 7 8 9 2 / b o r i s . 1 4 7 5 6 1 | d o w n l o a d e d : 1 2 . 1 1 . 2 0 2 0 134 Rainer Hirsch-Luipold Tiere erscheinen,3 und verbinden diese mit naturkundlichem Handbuchwissen oder Details aus Mirabiliaoder Paradoxa-Sammlungen.4 So ist in Blick auf den Hirsch in mehreren naturkundlichen Texten5 tatsächlich zu lesen, dass er die Schlange mit seinem Atem (nicht freilich mit Wasser) aus einem Versteck herauszieht. Es ist eine scheinbar kleine Änderung, die der Physiologus vornimmt – Wasser statt Atem. Sie zeigt indes, wie die naturkundlichen Darlegungen des Physiologus bisweilen bereits von der Deutungsebene, also der Christologie, her konstruiert sind6: nicht mit seinem Atem besiegt nämlich Christus die Schlange, den Tod, sondern mit Blut und Wasser, das aus seinem Leib fließt (Joh 19,34). So gelingt es, die für das Evangelium zentrale Wassermetaphorik (Christus als Geber lebenstiftenden Wassers; Joh 4,10.13–15; vgl. 7,38) in das Bild aufzunehmen.ManchesMal bestimmt die christologische Aussageabsicht die Darstellung wie die Deutung in einer solchen Weise, dass man sich durchaus fragen mag, ob überhaupt ein Interesse an dem vorgegebenen biblischen Text bzw. den tatsächlichen Naturzusammenhängen besteht oder diese lediglich als „Sprungbrett“ für die entsprechenden Deutungen fungieren.7 AmBeispiel desHirschs lässt sich einDeutungsverfahren im Dreischritt sichtbar machen, das auch eine Reihe anderer Kapitel prägt. 1.1 Analyse/Dekonstruktion Zunächst einmal wird der vorangestellte Bibelvers („Wie den Hirsch nach Wasserquellen dürstet, so dürstet meine Seele nach Dir, o Gott“; Ps 41,2LXX) im Physiologus in seine 3 Fast in der Hälfte der Fälle steht ein Bibelvers am Anfang, der allegorisierend gedeutet wird, oftmals – wie hier – aus den Psalmen. 4 Die Grenze zwischen naturwissenschaftlichem Handbuch und Mirabilienliteratur ist hier vielfach fließend – es kann im Folgenden nicht darum gehen, die Deutungen des Physiologus zu bewerten und auf ihre wissenschaftliche Exaktheit im modernen Sinne hin zu befragen, sondern zunächst einmal darum, die Hermeneutik und Auslegungstechnik des Physiologus zu verstehen. 5 Plinius, Naturalis historia 8.118; Aelian, De natura animalium 2.9; Oppian, Kynegetika 2.236–240; vgl. Schönberger (2001, 120). 6 Dass etwader Löwemit demSchwanz seine Spuren verwischt,wird sich wohl kaum durch Naturbeobachtung untermauern lassen, obwohl sich Ähnliches durchaus in antiker naturkundlicher Literatur findet (vgl. dazu den Beitrag von S. Vollenweider im vorliegenden Band). Es versteht sich nur von einer christologischen Gesamtdeutung her. 7 Die Formulierung „Sprungbrettargument“ hat Heinz Gerd Ingenkamp in einem 2001 in Leuven unter dem Titel: „οὐκ ἀηδῶς δεῦρο μετενεγκεῖν. Sprungbrettargumente bei Plutarch“ gehaltenen, bislang aber unveröffentlichten Vortrag zu Plutarch geprägt. einzelnen Bilder aufgelöst und die einzelnen Bildfelder je für sich betrachtet (Hirsch/Schlange/Wasser) und christologisch ausgedeutet. 1.1.1 Einbeziehen weiterer Bibelstellen zum jeweiligen Motivfeld Dieses dekonstruktive Verfahren macht es möglich, das Bildmaterial des jeweiligen Bibelverses mit anderen biblischen Verwendungen der enthaltenen Einzelmotive kurzzuschließen. Bestimmte Schriften treten dabei favorisiert auf, so in den christologischen Deutungen das Johannesevangelium und in den ethischen Deutungen das Matthäusevangelium. In unserem Beispiel können, nachdem Hirsch und Wasser zu zwei Einzelbausteinen auseinandergenommen worden sind, alle Stellen hinzugenommen werden, in denen eines der Motive vorkommt. Die Dekonstruktion des Bibelverses und die christologische Deutung der Einzelmotive erlaubt es, das Verhältnis vonHirsch und Wasser in doppelter Weise neu zu bestimmen. Nicht nur dürstet den Hirsch nachWasser wie im Psalmvers. Im Physiologus lässt der Hirsch umgekehrt Wasser aus sich heraussprudeln, wird also zur Quelle des lebenspendenden Wassers. Damit wird eine Verbindung von Ps 42 mit der Wassermetaphorik des Johannesevangeliums hergestellt. 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Unicornis captivatur. Das Deutungsverfahren des Physiologus und die Rezeption und theologische Deutung seiner Tiersymbolik in mittelalterlicher Dichtung und zeitgenössischer Musik
TheEngelberg Codex 314, amedievalmanuscript kept in the library of the Benedictine abbey in Engelberg, Switzerland, contains a poetic adaption of the Latin version of the Physiologus. The goal of the presentation of the animals, however, has changed: the Physiologus intends to present a theological interpretation of nature, whereas the medieval hymn, inspired by the Physiologus, arranges the biblical animal symbolism into a narrative of the fall and restoration of humankind as well as the sacrificial death and resurrection of Christ, using the multifaceted animal imagery of the bible. This contribution examines this new perspective, also considering amusical rendition of Unicornis captivatur for a-capella choir by the Norwegian composer Ola Gjeilo (written in 2001). It is hoped that the change of perspective afforded by both the hymn and the modern composition will shed additional light on the hermeneutics of nature in the Physiologus. 1 Zum Deutungsverfahren des Physiologus anhand des „Hirsches“ „Wie den Hirsch nach Wasserquellen dürstet, so dürstet meine Seele nach Dir, o Gott“. Mit dem Zitat aus Ps 42,2 (41,2LXX) beginnt der Physiologus sein Kapitel zum Hirschen, den er – als Feind der Schlange, des Ursymbols des Bösen – durchaus zu loben weiß. Der Hirsch spült die Schlange (δράκων) mit Wasser, das er aus seinem Mund strömen lässt, aus ihrem Versteck, um sie zu töten. So ist er Urbild Christi der durch sein Opfer alles Böse und zuletzt den Tod zertritt. Zugleich ist der Hirsch das Bild der Jesus nachfolgenden Asketen: Wie der Hirsch aus Ps 41,2LXX dürstend zur Quelle eilt, so eilen sie mit ihrem entbehrungsvollen Leben – wie von Durst gequält – zu den Quellen der rettenden Reue. Gerne hätte ich es wie Jürgen W. Einhorn gemacht – der eine große Monographie zum Einhorn geschrieben hat1 – und meine Darstellung dem Hirsch gewidmet. Aber leider wird gerade der Hirsch in dem auf dem Physiologus basierendenmittelalterlichenHymnus über das „Einhorn“ (Unicornis captivatur), dem dieser Beitrag vor allem gelten soll, nicht aufgegriffen. Immerhin einleitend lohnt es sich dennoch, auf den Hirsch einzugehen. Denn an der Deutung des Hirsches lässt sich der Zugriff des Physiologus auf den Text der Bibel ebenso deutlich machen wie das angewendete Deuteverfahren.2 Nach diesem ersten Teil werden wir in einem zweiten Schritt vergleichend einen Blick auf den auf dem Physiologus aufbauenden mittelalterlichen Hymnus und dessen Verfahren in der Deutung der Tiere werfen, um so im Spiegel der Rezeption die jeweiligen Besonderheiten besonders deutlich hervortreten zu lassen. Dabei nehmenwir auchOla Gjeilosmodernemusikalische Umsetzung des Hymnus in einer zeitgenössischen Komposition für achtstimmigen Chor a-capella mit in den Blick, wodurch wir gewissermassen ein dreidimensionales Bild im Spiegel der Rezeption erhalten. Ziel des Physiologus ist eine christologische Gesamtdeutung der Natur. ImHintergrund steht die Überzeugung, so wäre meine These, dass der göttliche Schöpfungslogos, der nach dem Johannesprolog Joh 1,1–18 in die Welt eingegangen ist und sie so ins Sein gerufen hat, aus dieser Welt erkennbar ist. Dieser Schöpfungslogos aber ist Christus, wie dem Prolog ebenfalls zu entnehmen ist (1,17). Um diesen Logos innerhalb der Welt zu entdecken und aufzudecken, gehendie einzelnenAbschnitte oft vonbiblischen, vielfach den Psalmen entnommenen Zitaten aus, in denen 1 Die Arbeit trägt den Titel „Spiritalis Unicornis. Das Einhorn als Bedeutungsträger in Literatur und Kunst des Mittelalters“ (Einhorn [1998]). 2 T. Kraus diskutiert am Beispiel des Einhorns den typischen Aufbau eines Physiologus-Abschnitts (im vorliegenden Band S. 68): 1. Septuaginta-Stelle; 2. Formelhafte Überleitung zum Physiologus, 3. Explikation/Charakterisierung durch den Physiologus, 4. Auslegung/Allegorese; 5. Abschlussformel. Auch wenn mich die Unterscheidung von 3 und 4 nicht wirklich überzeugt, weil bereits die Charakterisierung durch den Physiologus verschiedentlich von der Deutungsebene her gearbeitet und nur von dort her verständlich ist, wie es für eine Allegorie kennzeichnend ist, so ist der Ansatzm.E. wichtig und richtig, dass wir mehr über die Deutungstechnik des Physiologus erfahren müssen, die von Tier zu Tier durchaus signifikant variiert, wobei sich bestimmte Deutungsmuster herausarbeiten lassen. Open Access. ©2019 Rainer Hirsch-Luipold, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons AttributionNonCommercial-NoDerivatives 4.0 Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110494143-011 Unauthenticated Download Date | 12/10/19 5:26 AM s o u r c e : h t t p s : / / d o i . o r g / 1 0 . 7 8 9 2 / b o r i s . 1 4 7 5 6 1 | d o w n l o a d e d : 1 2 . 1 1 . 2 0 2 0 134 Rainer Hirsch-Luipold Tiere erscheinen,3 und verbinden diese mit naturkundlichem Handbuchwissen oder Details aus Mirabiliaoder Paradoxa-Sammlungen.4 So ist in Blick auf den Hirsch in mehreren naturkundlichen Texten5 tatsächlich zu lesen, dass er die Schlange mit seinem Atem (nicht freilich mit Wasser) aus einem Versteck herauszieht. Es ist eine scheinbar kleine Änderung, die der Physiologus vornimmt – Wasser statt Atem. Sie zeigt indes, wie die naturkundlichen Darlegungen des Physiologus bisweilen bereits von der Deutungsebene, also der Christologie, her konstruiert sind6: nicht mit seinem Atem besiegt nämlich Christus die Schlange, den Tod, sondern mit Blut und Wasser, das aus seinem Leib fließt (Joh 19,34). So gelingt es, die für das Evangelium zentrale Wassermetaphorik (Christus als Geber lebenstiftenden Wassers; Joh 4,10.13–15; vgl. 7,38) in das Bild aufzunehmen.ManchesMal bestimmt die christologische Aussageabsicht die Darstellung wie die Deutung in einer solchen Weise, dass man sich durchaus fragen mag, ob überhaupt ein Interesse an dem vorgegebenen biblischen Text bzw. den tatsächlichen Naturzusammenhängen besteht oder diese lediglich als „Sprungbrett“ für die entsprechenden Deutungen fungieren.7 AmBeispiel desHirschs lässt sich einDeutungsverfahren im Dreischritt sichtbar machen, das auch eine Reihe anderer Kapitel prägt. 1.1 Analyse/Dekonstruktion Zunächst einmal wird der vorangestellte Bibelvers („Wie den Hirsch nach Wasserquellen dürstet, so dürstet meine Seele nach Dir, o Gott“; Ps 41,2LXX) im Physiologus in seine 3 Fast in der Hälfte der Fälle steht ein Bibelvers am Anfang, der allegorisierend gedeutet wird, oftmals – wie hier – aus den Psalmen. 4 Die Grenze zwischen naturwissenschaftlichem Handbuch und Mirabilienliteratur ist hier vielfach fließend – es kann im Folgenden nicht darum gehen, die Deutungen des Physiologus zu bewerten und auf ihre wissenschaftliche Exaktheit im modernen Sinne hin zu befragen, sondern zunächst einmal darum, die Hermeneutik und Auslegungstechnik des Physiologus zu verstehen. 5 Plinius, Naturalis historia 8.118; Aelian, De natura animalium 2.9; Oppian, Kynegetika 2.236–240; vgl. Schönberger (2001, 120). 6 Dass etwader Löwemit demSchwanz seine Spuren verwischt,wird sich wohl kaum durch Naturbeobachtung untermauern lassen, obwohl sich Ähnliches durchaus in antiker naturkundlicher Literatur findet (vgl. dazu den Beitrag von S. Vollenweider im vorliegenden Band). Es versteht sich nur von einer christologischen Gesamtdeutung her. 7 Die Formulierung „Sprungbrettargument“ hat Heinz Gerd Ingenkamp in einem 2001 in Leuven unter dem Titel: „οὐκ ἀηδῶς δεῦρο μετενεγκεῖν. Sprungbrettargumente bei Plutarch“ gehaltenen, bislang aber unveröffentlichten Vortrag zu Plutarch geprägt. einzelnen Bilder aufgelöst und die einzelnen Bildfelder je für sich betrachtet (Hirsch/Schlange/Wasser) und christologisch ausgedeutet. 1.1.1 Einbeziehen weiterer Bibelstellen zum jeweiligen Motivfeld Dieses dekonstruktive Verfahren macht es möglich, das Bildmaterial des jeweiligen Bibelverses mit anderen biblischen Verwendungen der enthaltenen Einzelmotive kurzzuschließen. Bestimmte Schriften treten dabei favorisiert auf, so in den christologischen Deutungen das Johannesevangelium und in den ethischen Deutungen das Matthäusevangelium. In unserem Beispiel können, nachdem Hirsch und Wasser zu zwei Einzelbausteinen auseinandergenommen worden sind, alle Stellen hinzugenommen werden, in denen eines der Motive vorkommt. Die Dekonstruktion des Bibelverses und die christologische Deutung der Einzelmotive erlaubt es, das Verhältnis vonHirsch und Wasser in doppelter Weise neu zu bestimmen. Nicht nur dürstet den Hirsch nachWasser wie im Psalmvers. Im Physiologus lässt der Hirsch umgekehrt Wasser aus sich heraussprudeln, wird also zur Quelle des lebenspendenden Wassers. Damit wird eine Verbindung von Ps 42 mit der Wassermetaphorik des Johannesevangeliums hergestellt. Der Hirsch wird so zum Bild des johanneischen Christus als des Gebers von lebendigemWasser (Joh 7,38; 19,34).