{"title":"Pathologie des Leibes","authors":"Jörg Sternagel","doi":"10.1515/jbmp-2017-0006","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Eingangs widerfährt jemand Anderem etwas überaus Rätselhaftes: »Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt. [...] ›Was ist mit mir geschehen?‹ dachte er. Es war kein Traum [...]«1 – Im Zuge einer regen Korrespondenz mit dem Verlag Kurt Wolff über die Veröffentlichung seiner Erzählung »Die Verwandlung« wendet sich der junge Franz Kafka im Oktober 1915 strikt gegen eine mögliche Illustration dieser Geschehnisse um Gregor Samsa durch den Künstler Ottomar Starke, die Gregor Samsa als Insekt zeigen würde: »Das nicht, bitte das nicht!« Kafka insistiert vehement: »Das Insekt selbst kann nicht gezeichnet werden. Es kann aber nicht einmal von der Ferne aus gezeigt werden.«2 Stattdessen mache er einen Vorschlag, der Szenen wählen würde wie: »die Eltern und der Prokurist vor der geschlossenen Tür oder noch besser die Eltern und die Schwester im beleuchteten Zimmer, während die Tür zum ganz finsteren Nebenzimmer offensteht.«3 Der Autor verweigert damit die Abbildung des Insekts, die er als unmöglich erachtet und verlagert seinen Schwerpunkt auf eine hingegen mögliche Bildgebung der Gregor Samsa umgebenden, menschlichen Antagonisten – die Eltern, die Schwester Grete und der Prokurist – während der Protagonist Gregor Samsa selbst im Dunkeln verbleiben, nicht sichtbar gemacht werden soll. Kafka beharrt auf diese Weise darauf, das Andere zu schreiben, nicht jedoch abzubilden und gibt so augenscheinlich, zumindest in diesem Briefwechsel mit seinem Verleger, einer literarischen Poetik den Vorzug gegenüber einer fotografischen, wie sie Gesa Schneider in ihrer Dissertation Das Andere schreiben. Kafkas fotografische Poetik in genauer Lektüre von Kafkas Arbeiten im allgemeinen thematisiert und in »Der Verwandlung« im besonderen hinterfragt: »Das Ungeziefer muss ›aus dem Dunkeln‹ entstehen, denn jedes visuelle Äquivalent wird in dieser","PeriodicalId":340540,"journal":{"name":"Internationales Jahrbuch für Medienphilosophie","volume":"48 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"1900-01-01","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Internationales Jahrbuch für Medienphilosophie","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.1515/jbmp-2017-0006","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"","JCRName":"","Score":null,"Total":0}
Eingangs widerfährt jemand Anderem etwas überaus Rätselhaftes: »Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt. [...] ›Was ist mit mir geschehen?‹ dachte er. Es war kein Traum [...]«1 – Im Zuge einer regen Korrespondenz mit dem Verlag Kurt Wolff über die Veröffentlichung seiner Erzählung »Die Verwandlung« wendet sich der junge Franz Kafka im Oktober 1915 strikt gegen eine mögliche Illustration dieser Geschehnisse um Gregor Samsa durch den Künstler Ottomar Starke, die Gregor Samsa als Insekt zeigen würde: »Das nicht, bitte das nicht!« Kafka insistiert vehement: »Das Insekt selbst kann nicht gezeichnet werden. Es kann aber nicht einmal von der Ferne aus gezeigt werden.«2 Stattdessen mache er einen Vorschlag, der Szenen wählen würde wie: »die Eltern und der Prokurist vor der geschlossenen Tür oder noch besser die Eltern und die Schwester im beleuchteten Zimmer, während die Tür zum ganz finsteren Nebenzimmer offensteht.«3 Der Autor verweigert damit die Abbildung des Insekts, die er als unmöglich erachtet und verlagert seinen Schwerpunkt auf eine hingegen mögliche Bildgebung der Gregor Samsa umgebenden, menschlichen Antagonisten – die Eltern, die Schwester Grete und der Prokurist – während der Protagonist Gregor Samsa selbst im Dunkeln verbleiben, nicht sichtbar gemacht werden soll. Kafka beharrt auf diese Weise darauf, das Andere zu schreiben, nicht jedoch abzubilden und gibt so augenscheinlich, zumindest in diesem Briefwechsel mit seinem Verleger, einer literarischen Poetik den Vorzug gegenüber einer fotografischen, wie sie Gesa Schneider in ihrer Dissertation Das Andere schreiben. Kafkas fotografische Poetik in genauer Lektüre von Kafkas Arbeiten im allgemeinen thematisiert und in »Der Verwandlung« im besonderen hinterfragt: »Das Ungeziefer muss ›aus dem Dunkeln‹ entstehen, denn jedes visuelle Äquivalent wird in dieser