Korrespondenzadresse Fritz Koller B.Sc., Georg Thieme Verlag Rüdigerstr. 14 70469 Stuttgart Fritz.Koller@thieme.de In den letzten Jahren konnte man dem Begriff evidenzbasierte Praxis fast nicht ausweichen. Dem Enthusiasmus, den forschende Kollegen für dieses Konzept aufbringen, stehen zahlreiche, oft von Praktikern entgegengebrachte Kritiken gegenüber. Immer wieder wird diskutiert, ob wissenschaftliche Studienergebnisse therapeutisches Können und Erfahrung ersetzen können. Was sind eigentlich die Anliegen der evidenzbasierten Praxis? Deren „Vater“, der 1934 geborene kanadische Mediziner David Sackett, integrierte in ihr 3 Interessenslagen: die der Praktiker, der Forscher und vor allem der Patienten [1]. Evidenzbasierte Praxis bedeutet für Sackett [1] die bei individuellen Patienten angewandte Integration individueller klinischer Expertise mit der bestmöglichen externen Evidenz aus systematischer Forschung. Mit individueller klinischer Expertise sind das Können und die Urteilskraft eines jeden Physiotherapeuten gemeint, die durch Erfahrung und praktischer Tätigkeit erworben wird. Je erfahrener Physiotherapeuten sind, desto treffsicherer werden ihre therapeutischen Entscheidungen am Patienten, und desto besser können sie sich in die individuelle Situation des Patienten hineindenken und mitfühlen. Mit bester verfügbarer externer Evidenz ist klinisch relevante Forschung gemeint, insbesondere patientenorientierte Forschung mit dem Ziel, exakte Untersuchungsverfahren, aussagefähige prognostische Faktoren und wirksame rehabilitative und präventive Maßnahmen zu beschreiben. Externe klinische Evidenz kann dazu führen, dass bisherige Tests und Therapien neu bewertet werden, wenn es genauere, aussagekräftigere und wirksamere Verfahren gibt. Selbstverständlich ist bei einer solchen Entscheidung die methodische Qualität der herangezogenen wissenschaftlichen Studien kritisch zu beurteilen; ebenso, ob dabei die überprüften Untersuchungsoder Behandlungsmaßnahmen im Sinne bester klinische Praxis ausgeführt wurden. Mit der individuellen Situation des Patienten ist gemeint, dass jede Therapie individuell an jeden einzelnen Patienten angepasst werden muss. Dieses Vorgehen lässt sich mit dem Befolgen eines „Kochrezepts“ zur Patientenbehandlung nicht vereinen. Externe Evidenz kann klinische Erfahrung zwar ergänzen, aber nie ersetzen. Gerade die klinische Erfahrung und Expertise der Therapeuten entscheidet darüber, ob externe Evidenz bei einem individuellen Patienten angewandt werden kann und wenn ja, in welchem Maß die Anwendung erfolgt. Nimmt man die evidenzbasierte Praxis ernst, muss man sein therapeutisches Handeln kritisch reflektieren – vor dem Auge der Wissenschaft, vor dem Auge des eigenen handwerklichen Könnens und in Bezug auf seinen Patienten. Man wird neue Therapien gegen veraltete eintauschen oder bewährte Therapien weiterentwickeln. Ziel wird es immer sein, den vor einem sitzenden Patienten in diesem Moment bestmöglich zu behandeln. Nutzen Sie die evidenzbasierte Praxis – im Sinne von David Sackett!