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Abstract
Dieter Neuberts zentrale Frage ist die nach einer potentiellen Massenbasis für einen „pluralen, demokratischen und liberalen Rechtsstaat“ (Neubert 2015: 135) in Afrika und anderswo im globalen Süden. Eine verbreitete, in der „Rumsfeld Utopie“ besonders prominent gewordene (und im Irak prominent gescheiterte) Antwort lautet: Es gibt diese Basis, und sie liegt in den allüberall anwachsenden Mittelschichten. Diese umfassen nach einer gängigen Definition alle Menschen mit einem Prokopfeinkommen zwischen 2 $ und 20 $ pro Tag. Diese Personengruppe ist zwar recht heterogen, sie umfasst Angestellte, Arbeiter, Bauern und Kleinunternehmer; aber sie weist im allgemeinen Verständnis eine ganze Reihe von gemeinsamen Eigenschaften und Orientierungen auf neben guter Ausbildung, Aufstiegsund Konsumorientierung „eben auch eine unterstellte Orientierung an demokratischen Werten und ihre Rolle als ‚Rückgrat' der Zivilgesellschaft“ (Neubert 2015: 132). Mit der Etablierung eines Systems freier Wahlen nahezu überall in Afrika sollte damit doch eigentlich eine solide Basis für den „pluralen, demokratischen und liberalen Rechtsstaat“ gegeben sein. Die Ergebnisse sind jedoch ziemlich enttäuschend. Autoritäre Herrscher, Quasi-Ein-Partei-Staaten und großflächige gewalttätige Konflikte sind trotz Wahlen und wachsenden Mittelschichten eher die Regel als die Ausnahme. Dabei erscheint Neubert (2015: 132) die behauptete Verbindung zwischen Mittelschicht und Zivilgesellschaft auf den ersten Blick „durchaus plausibel“. In Nichtregierungsorganisationen sind Mittelschichtangehörige besonders zahlreich und aktiv vertreten – aber eben auch Teile der ärmeren Bevölkerung. Es gibt nur Überschneidungen, keine Identitäten. Anders als Neubert (2015: 133f.) erscheint mir die Verbindung zwischen Mittelschicht und Zivilgesellschaft von vornherein wenig plausibel – zumal, wenn man die Ansprüche an „Zivilgesellschaft“ so hochschraubt wie er: ohne „Zivilität“, ohne „Bürgersinn“ keine Zivilgesellschaft. Das einzige Argument, das er für jene Verbindung vorbringt, ist die Beteiligung der Mittelschichten an Nichtregierungsorganisationen. Dass aber die real existierenden Nichtregierungsorganisationen in Afrika als bestenfalls „gemeinnützige Consulting Unternehmen“ nicht per se als lupenreine Hü-