{"title":"“Kärnten”=Austria, “Koroška”=Yugoslavia? Some RevisionistPerspectives on the 1920 Carinthian Plebiscite","authors":"G. Tiemann","doi":"10.12759/HSR.45.2020.4.309-346","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"In den vergangenen einhundert Jahren haben sich Geschichtswissenschaft und -publizistik ausfuhrlich mit der Karntner Volksabstimmung befasst. Kaum einer dieser Beitrage diskutiert aber das eigentliche Kernthema, die systematische Aufklarung von handlungsleitenden Interessen und Praferenzen der Wahler und Wahlergruppen. Einschlagige Spekulationen greifen stets und meist ausschlieslich eine ethno-nationale Dimension des Grenzkonflikts behauptet und aufgegriffen. Wenn das Abstimmungsgebiet zu etwa 70% von der slowenischen Volksgruppe bewohnt ist, aber etwa 60% der Wahlberechtigten fur Osterreich stimmen, wird regelmasig unterstellt, dass dieses Votum durch alle \"Deutschen\" und durch gerade soviele \"Slowenen\" wie notig getragen wird. Deutsch-nationale Beitrage danken deshalb 10.000 einsichtigen \"Slowenen\", jugoslawische Beitrage fragen sich, wie man 10.000 der eigenen Stimmen an die Gegenseite verlieren konnte. \nDieser Beitrag zur historischen Wahlforschung versucht besser zu bestimmen, welche Anteile der beiden linguistischen Gruppen jeweils fur den Anschluss an Osterreich gestimmt haben. Immer wenn individuelle Umfragedaten nicht (mehr) vorliegen oder systematisch verzerrt sind, kann die Wissenschaft auf moderne Methoden der Aggregatdatenanalyse zuruckgreifen. Verfahren zur \"okologischen Inferenz\" verbinden deterministische Ober- und Untergrenzen mit stochastischen Schatzverfahren. Mit den demografischen Daten und Referendumsresultaten aus 51 Abstimmungsgemeinden zeigt die Analyse, dass nur knapp mehr als 75 Prozent der \"Deutschen\" und tatsachlich eine knappe Mehrheit von 51 Prozent der \"Slowenen\" fur Osterreich votierten. Bisherige Befunde haben deshalb die Anzahl der Osterreich-Befurworter bei deutschen Muttersprachlern uber- und bei slowenischen Muttersprachlern unterschatzt. Beitrage der deutsch-nationalen Geschichtsschreibung sollten deshalb nicht nur 10,000, sondern knapp 13.000 \"Slowenen\" fur die Unterstutzung der osterreichischen Option danken. \nZudem relativieren diese Befunde deutlich den ethno-linguistischen Charakter des Karntner Referendums: Die jeweilige Umgangssprache wirkte sicher auf das Wahlverhalten beim Referendum. Ihr Einfluss wird jedoch maslos uberschatzt. Vielmehr waren es wohl die okonomischen Interessen slowenisch-sprachiger Bauern und der Einfluss der organisierten Sozialdemokratie, die das Karntner Abstimmungsgebiet als Teil Osterreichs erhalten haben.","PeriodicalId":47073,"journal":{"name":"Historical Social Research-Historische Sozialforschung","volume":null,"pages":null},"PeriodicalIF":0.9000,"publicationDate":"2020-12-01","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"1","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Historical Social Research-Historische Sozialforschung","FirstCategoryId":"98","ListUrlMain":"https://doi.org/10.12759/HSR.45.2020.4.309-346","RegionNum":3,"RegionCategory":"历史学","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"Q1","JCRName":"HISTORY","Score":null,"Total":0}
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Abstract
In den vergangenen einhundert Jahren haben sich Geschichtswissenschaft und -publizistik ausfuhrlich mit der Karntner Volksabstimmung befasst. Kaum einer dieser Beitrage diskutiert aber das eigentliche Kernthema, die systematische Aufklarung von handlungsleitenden Interessen und Praferenzen der Wahler und Wahlergruppen. Einschlagige Spekulationen greifen stets und meist ausschlieslich eine ethno-nationale Dimension des Grenzkonflikts behauptet und aufgegriffen. Wenn das Abstimmungsgebiet zu etwa 70% von der slowenischen Volksgruppe bewohnt ist, aber etwa 60% der Wahlberechtigten fur Osterreich stimmen, wird regelmasig unterstellt, dass dieses Votum durch alle "Deutschen" und durch gerade soviele "Slowenen" wie notig getragen wird. Deutsch-nationale Beitrage danken deshalb 10.000 einsichtigen "Slowenen", jugoslawische Beitrage fragen sich, wie man 10.000 der eigenen Stimmen an die Gegenseite verlieren konnte.
Dieser Beitrag zur historischen Wahlforschung versucht besser zu bestimmen, welche Anteile der beiden linguistischen Gruppen jeweils fur den Anschluss an Osterreich gestimmt haben. Immer wenn individuelle Umfragedaten nicht (mehr) vorliegen oder systematisch verzerrt sind, kann die Wissenschaft auf moderne Methoden der Aggregatdatenanalyse zuruckgreifen. Verfahren zur "okologischen Inferenz" verbinden deterministische Ober- und Untergrenzen mit stochastischen Schatzverfahren. Mit den demografischen Daten und Referendumsresultaten aus 51 Abstimmungsgemeinden zeigt die Analyse, dass nur knapp mehr als 75 Prozent der "Deutschen" und tatsachlich eine knappe Mehrheit von 51 Prozent der "Slowenen" fur Osterreich votierten. Bisherige Befunde haben deshalb die Anzahl der Osterreich-Befurworter bei deutschen Muttersprachlern uber- und bei slowenischen Muttersprachlern unterschatzt. Beitrage der deutsch-nationalen Geschichtsschreibung sollten deshalb nicht nur 10,000, sondern knapp 13.000 "Slowenen" fur die Unterstutzung der osterreichischen Option danken.
Zudem relativieren diese Befunde deutlich den ethno-linguistischen Charakter des Karntner Referendums: Die jeweilige Umgangssprache wirkte sicher auf das Wahlverhalten beim Referendum. Ihr Einfluss wird jedoch maslos uberschatzt. Vielmehr waren es wohl die okonomischen Interessen slowenisch-sprachiger Bauern und der Einfluss der organisierten Sozialdemokratie, die das Karntner Abstimmungsgebiet als Teil Osterreichs erhalten haben.