{"title":"Das anekdotische Erzählen als moderne poetische Form im Kontext der tschechischen und der ungarischen Literatur","authors":"Tibor Gintli","doi":"10.1556/060.2022.00020","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Die Anekdote wird durch den in der Literaturwissenschaft entstandenen Konsens als eine Gattung angesehen, die im 20. Jahrhundert endgültig veraltet ist. In meinem Beitrag möchte ich am Beispiel von Bohumil Hrabal und Péter Esterházy zeigen, auf welche Weise sich die anekdotische Tradition in der tschechischen und der ungarischen Literatur auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts als auch weiterhin fortsetzbar erwies. Die Erzählweise von Jaroslav Hašek auf das Lebenswerk von Bohumil Hrabal eine bedeutende Wirkung ausgeübt hat. Inwieweit erneuert Hrabal diese anekdotische Tradition?\n Hinsichtlich der Betrachtungsweise ist ein wesentlicher Unterschied, dass Hrabals Texte mit Vorliebe über die im allgemeinen Sinne genommene existenzielle Situation des Menschen reflektieren. Man kann kaum bezweifeln, dass sich hinter der ausgelassenen Heiterkeit und der gesteigerten Lebensfreude in den Werken Hrabals immer die durch das Bewusstsein der Endlichkeit ausgelöste Beklemmung abzeichnet. Das anekdotische Erzählen wird in diesem Kontext zum Ausdruck des dionysischen ekstatischen Rausches. Auf die Deutung der Existenz auch die existentialistische Philosophie eine Wirkung ausgeübt hat, doch zugleich antworten die Werke Hrabals nicht mit einem hoffnungslosen Heroismus auf das Gefühl der Ziellosigkeit des Seins, sondern mit einer exzessiven, beinahe verzweifelten Lebensfreude.\n Péter Esterházy hat ebenfalls eine Anregung aus der anekdotischen Tradition geschöpft. Kálmán Mikszáth und noch mehr die anekdotische Erzählweise des 19. Jahrhunderts mit seinem Werk Kornél Esti neu inter-pretierenden Kosztolányi stellten für ihn die wichtigste Anregung dar. Kosztolányi hat die ungarische anekdotische Erzähltradition dadurch umgeformt, dass er die anekdotische Oralität mit der plaudernden Art der Gattung des Feuilletons verband. Dank dieser Verbindung erhielt die anekdotische Sprechweise so eine Art intellektuelle Schichtung, dass sie dabei auch ihren unterhaltenden Charakter behielt. Diese spielerisch ernste Sprechweise konnten aus dem Grund auf die postmoderne Prosa von Esterházy eine anregende Wirkung ausüben, da sie eine Möglichkeit zur Verwirklichung des spielerischen Crossovers der Register und Gattungen bot, beziehungsweise den durch den postmodernen Geschmack derart bevorzugten selbstreflexiven Verfahren des literarischen Textes einen Raum eröffnete. Auf dem Gebiet des Abbaus der Großerzählung betrachtet Ein Produktionsroman die Poetik von James Joyce als das zu befolgende Beispiel, so hatte die Neudeutung der traditionellen Form eine Art neoavantgarder narrativen Invention zum Ergebnis.","PeriodicalId":35127,"journal":{"name":"Studia Slavica Academiae Scientiarum Hungaricae","volume":" ","pages":""},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"2022-08-12","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Studia Slavica Academiae Scientiarum Hungaricae","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.1556/060.2022.00020","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"Q4","JCRName":"Arts and Humanities","Score":null,"Total":0}
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Abstract
Die Anekdote wird durch den in der Literaturwissenschaft entstandenen Konsens als eine Gattung angesehen, die im 20. Jahrhundert endgültig veraltet ist. In meinem Beitrag möchte ich am Beispiel von Bohumil Hrabal und Péter Esterházy zeigen, auf welche Weise sich die anekdotische Tradition in der tschechischen und der ungarischen Literatur auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts als auch weiterhin fortsetzbar erwies. Die Erzählweise von Jaroslav Hašek auf das Lebenswerk von Bohumil Hrabal eine bedeutende Wirkung ausgeübt hat. Inwieweit erneuert Hrabal diese anekdotische Tradition?
Hinsichtlich der Betrachtungsweise ist ein wesentlicher Unterschied, dass Hrabals Texte mit Vorliebe über die im allgemeinen Sinne genommene existenzielle Situation des Menschen reflektieren. Man kann kaum bezweifeln, dass sich hinter der ausgelassenen Heiterkeit und der gesteigerten Lebensfreude in den Werken Hrabals immer die durch das Bewusstsein der Endlichkeit ausgelöste Beklemmung abzeichnet. Das anekdotische Erzählen wird in diesem Kontext zum Ausdruck des dionysischen ekstatischen Rausches. Auf die Deutung der Existenz auch die existentialistische Philosophie eine Wirkung ausgeübt hat, doch zugleich antworten die Werke Hrabals nicht mit einem hoffnungslosen Heroismus auf das Gefühl der Ziellosigkeit des Seins, sondern mit einer exzessiven, beinahe verzweifelten Lebensfreude.
Péter Esterházy hat ebenfalls eine Anregung aus der anekdotischen Tradition geschöpft. Kálmán Mikszáth und noch mehr die anekdotische Erzählweise des 19. Jahrhunderts mit seinem Werk Kornél Esti neu inter-pretierenden Kosztolányi stellten für ihn die wichtigste Anregung dar. Kosztolányi hat die ungarische anekdotische Erzähltradition dadurch umgeformt, dass er die anekdotische Oralität mit der plaudernden Art der Gattung des Feuilletons verband. Dank dieser Verbindung erhielt die anekdotische Sprechweise so eine Art intellektuelle Schichtung, dass sie dabei auch ihren unterhaltenden Charakter behielt. Diese spielerisch ernste Sprechweise konnten aus dem Grund auf die postmoderne Prosa von Esterházy eine anregende Wirkung ausüben, da sie eine Möglichkeit zur Verwirklichung des spielerischen Crossovers der Register und Gattungen bot, beziehungsweise den durch den postmodernen Geschmack derart bevorzugten selbstreflexiven Verfahren des literarischen Textes einen Raum eröffnete. Auf dem Gebiet des Abbaus der Großerzählung betrachtet Ein Produktionsroman die Poetik von James Joyce als das zu befolgende Beispiel, so hatte die Neudeutung der traditionellen Form eine Art neoavantgarder narrativen Invention zum Ergebnis.
期刊介绍:
Studia Slavica publishes essays in the field of philological and folkloristic research in Slavonic studies. It also contains minor contributions, and information on events in connection with Slavonic studies in Hungary. Publishes book reviews and advertisements.