{"title":"Gibt es ein Recht auf Suizid? Die Anmaßung des Rechts gegenüber der Politik im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sterbehilfe","authors":"J. Fischer","doi":"10.14315/zee-2020-640408","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"In seinem Urteil zum Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung hat das Bundesverfassungsgericht ein Recht auf Selbsttötung bekräftigt.1 Es argumentiert, dass im allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) das Recht auf selbstbestimmtes Sterben enthalten ist. »Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben erstreckt sich auch auf die Entscheidung des Einzelnen, sein Leben eigenhändig zu beenden. Das Recht, sich selbst das Leben zu nehmen, stellt sicher, dass der Einzelne über sich entsprechend seinem Selbstbild autonom bestimmen und seine Persönlichkeit wahren kann.«2 Nach Auffassung des Gerichts ist also im Recht auf selbstbestimmtes Sterben das Recht auf Selbsttötung enthalten. Mit der Aussage, dieses Recht stelle sicher, »dass der Einzelne ... seine Persönlichkeit wahren kann«, wird ihm überragende Bedeutung zuerkannt. Dies ist nicht zuletzt von der Zielrichtung des Urteils her zu verstehen, die der Aufhebung des Verbots der geschäftsmäßigen Sterbehilfe gilt. Indem dieses Verbot den Einzelnen der Möglichkeit beraubt, sein Recht auf Selbsttötung unter Beihilfe Dritter wahrzunehmen, beraubt es ihn der Möglichkeit, seine Persönlichkeit zu wahren. Damit aber steht es in direktem Widerspruch zu Art. 2 Abs. 1 GG, wonach jeder das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit hat. Doch inwiefern ist im Recht auf selbstbestimmtes Sterben ein Recht auf Selbsttötung enthalten? Dafür bleibt das Urteil eine Begründung schuldig. Die vordergründige Plausibilität dieser Behauptung resultiert aus einer Mehrdeutigkeit des Ausdrucks ›Recht auf selbstbestimmtes Sterben‹. Dieser Ausdruck kann auf zweierlei Weise verstanden werden: Mit ihm kann das Recht auf Selbstbestimmung in Bezug auf das eigene Sterben gemeint sein; und mit ihm kann das Recht auf ein bestimmtes Sterben gemeint sein, nämlich auf dasjenige Sterben, das jemand selbst für sich bestimmt. Das Erste ist allgemein anerkannt, und von ihm her bezieht der Ausdruck ›Recht auf selbstbestimmtes Sterben‹ seine große Plausibilität. Doch ist im Recht auf Selbstbestimmung in Bezug auf das eigene Sterben kein Recht auf Selbsttötung enthalten. Im Zweiten ist zwar ein solches Recht enthalten, aber es ist alles andere als plausibel. Was zunächst das Erste betrifft, so legt das Recht auf Selbstbestimmung fest, wer zu bestimmen befugt ist, nämlich man selbst und nicht andere. Es sichert solchermaßen die Freiheit,","PeriodicalId":41129,"journal":{"name":"ZEITSCHRIFT FUR EVANGELISCHE ETHIK","volume":"64 1","pages":"289 - 295"},"PeriodicalIF":0.1000,"publicationDate":"2020-10-01","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"ZEITSCHRIFT FUR EVANGELISCHE ETHIK","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.14315/zee-2020-640408","RegionNum":4,"RegionCategory":"哲学","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"0","JCRName":"RELIGION","Score":null,"Total":0}
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Abstract
In seinem Urteil zum Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung hat das Bundesverfassungsgericht ein Recht auf Selbsttötung bekräftigt.1 Es argumentiert, dass im allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) das Recht auf selbstbestimmtes Sterben enthalten ist. »Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben erstreckt sich auch auf die Entscheidung des Einzelnen, sein Leben eigenhändig zu beenden. Das Recht, sich selbst das Leben zu nehmen, stellt sicher, dass der Einzelne über sich entsprechend seinem Selbstbild autonom bestimmen und seine Persönlichkeit wahren kann.«2 Nach Auffassung des Gerichts ist also im Recht auf selbstbestimmtes Sterben das Recht auf Selbsttötung enthalten. Mit der Aussage, dieses Recht stelle sicher, »dass der Einzelne ... seine Persönlichkeit wahren kann«, wird ihm überragende Bedeutung zuerkannt. Dies ist nicht zuletzt von der Zielrichtung des Urteils her zu verstehen, die der Aufhebung des Verbots der geschäftsmäßigen Sterbehilfe gilt. Indem dieses Verbot den Einzelnen der Möglichkeit beraubt, sein Recht auf Selbsttötung unter Beihilfe Dritter wahrzunehmen, beraubt es ihn der Möglichkeit, seine Persönlichkeit zu wahren. Damit aber steht es in direktem Widerspruch zu Art. 2 Abs. 1 GG, wonach jeder das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit hat. Doch inwiefern ist im Recht auf selbstbestimmtes Sterben ein Recht auf Selbsttötung enthalten? Dafür bleibt das Urteil eine Begründung schuldig. Die vordergründige Plausibilität dieser Behauptung resultiert aus einer Mehrdeutigkeit des Ausdrucks ›Recht auf selbstbestimmtes Sterben‹. Dieser Ausdruck kann auf zweierlei Weise verstanden werden: Mit ihm kann das Recht auf Selbstbestimmung in Bezug auf das eigene Sterben gemeint sein; und mit ihm kann das Recht auf ein bestimmtes Sterben gemeint sein, nämlich auf dasjenige Sterben, das jemand selbst für sich bestimmt. Das Erste ist allgemein anerkannt, und von ihm her bezieht der Ausdruck ›Recht auf selbstbestimmtes Sterben‹ seine große Plausibilität. Doch ist im Recht auf Selbstbestimmung in Bezug auf das eigene Sterben kein Recht auf Selbsttötung enthalten. Im Zweiten ist zwar ein solches Recht enthalten, aber es ist alles andere als plausibel. Was zunächst das Erste betrifft, so legt das Recht auf Selbstbestimmung fest, wer zu bestimmen befugt ist, nämlich man selbst und nicht andere. Es sichert solchermaßen die Freiheit,