{"title":"Artistic Research als Wissensgefüge. Eine Praxeologie des Probens im zeitgenössischen Tanz by Katarina Kleinschmidt (review)","authors":"Katja Schneider","doi":"10.1353/fmt.2021.0027","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"suchungsgegenstandes gehört zudem, dass neben der theaterwissenschaftlichen Untersuchung der Entstehung und institutionellen Rahmung der Massenspiele, ihrer Sprechund Bewegungschöre und – besonders eindrücklich – ihrer jeweiligen (Theater-)Architekturen auch eine dezidiert mediengeschichtliche Perspektive verfolgt wird. Denn derVersuch, nationalsozialistische Festspiele zu schaffen, lässt sich ohne die Entwicklung des Radios und seiner Techniken der Lautverstärkung nicht verstehen. In dem in der Regimephase dominant werdenden Unterhaltungsspektakel schließlich gewann das Visuelle gegenüber dem Akustischen die Oberhand; ohne transmediale Formzitate und den Mediendispositivwechsel vom Radio zum Film mit seiner Mobilisierung einer kollektiv eingenommenen Vogelperspektive ist der Wandel der NS-Massenspiele vom Thingzum Stadionspiel nicht zu erklären. Stand beim Thingspiel noch die gemeinsame (notwendig theatrale) Volkwerdung im Mittelpunkt, zu der auch die performative Exklusion ‚der Anderen‘ und die Ausschlussdrohung gegenüber unentschiedenen „Volksgenossen“ gehören konnte, verschob sich mit der Etablierung des Regimes der Fokus auf die „formierte Volksfigur“ (S. 58), die nun als Spektakel der Reichsparteitage in Erscheinung trat. Als spezifisch nationalsozialistisches Formproblem macht Annuß dabei durchgängig die Notwendigkeit aus, Gefolgschaft als Einheit von Volk und Führer inszenieren zu müssen. Sie veranschaulicht diese Problematik insbesondere am spannungsreichen Verhältnis von Chor und Einzelfigur, das immer wieder zu missglückten Inszenierungen führte – etwa wenn die Einzelfigur in der Weite des Raumes unterging oder ‚der Führer‘ evoziert werden musste, aber nicht selbst anwesend sein konnte und es somit zu einemwiederkehrenden „Widerstreit von Präsenzbehauptung und exponierter Nichtidentität“ (S. 164) kam. Keineswegs alsowar die NS-Propaganda durchgängig erfolgreich: Langeweile beim Publikum war eines der Probleme, mit denen die Theaterleute zu kämpfen hatten und die zu disziplinierendenMaßnahmen führten. Das vom Oberammergauer Passionsspiel übernommene Klatschverbot wäre als Beispiel für eine versuchte Rezeptionssteuerung zu nennen – oder aber der von Ordnern vereitelte Aufbruch der Besucher*innen eines Thingspiels in Heidelberg im Jahre 1935, die vor einem nahenden Unwetter flüchten wollten. Mit Beispielen wie diesen gelingt es der Autorin, eigensinniges Agieren und damit auch Momente des Scheiterns der (frühen)Massenspiele in den Blick zu nehmen. Darüber hätte man gerne nochmehr gelesen; dasselbe gilt für die geschlechterhistorischenAspekte des Themas, die zwar aufscheinen, wenn etwa die geringe Zahl von Frauen im Hauptchor des Thingspiels Der Weg ins Reich von 1935 erwähnt und damit erklärt wird, dass diesem „eine männliche Stimme und Erscheinungsform“ verliehen werden sollte (S. 272). Systematisch aber wird die geschlechtertheoretische Dimension nicht erschlossen. Annuß‘ Studie bietet eine genaue, (teils zu) detaillierte Analyse, welche die kleinen und großen Veränderungen in der Figurierung der Masse im Laufe der 1930er Jahre theaterund medienwissenschaftlich reflektiert darlegt und damit die bisherige Forschung überzeugend differenziert. Erst mit der „geordneten Arenamasse“ (S. 409) ging laut Annuß eine neue Art der (form)politischen Regulierung einher, die nun auf Überwältigungsästhetik setzte. Hinsichtlich des Immersionscharakters der Massenspiele kann Annuß vielfältige Kontinuitätslinien über 1945 hinaus verdeutlichen – hin zu Reenactments in der heutigen Eventkultur oder aktuellen Werbeästhetiken mit ihrem Erlebnisversprechen. Auch derartigen postdisziplinären Subjektivierungsangeboten, die Annuß genealogisch bis in die NSZeit zurückverfolgt, kritisch zu begegnen, ist ein zentrales Anliegen der Studie, die darüber aber keineswegs die thanatopolitische Dimension der NS-Regierungskünste vergisst.","PeriodicalId":55908,"journal":{"name":"FORUM MODERNES THEATER","volume":"32 1","pages":"304 - 306"},"PeriodicalIF":0.1000,"publicationDate":"2021-12-16","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"1","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"FORUM MODERNES THEATER","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.1353/fmt.2021.0027","RegionNum":4,"RegionCategory":"艺术学","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"0","JCRName":"THEATER","Score":null,"Total":0}
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Abstract
suchungsgegenstandes gehört zudem, dass neben der theaterwissenschaftlichen Untersuchung der Entstehung und institutionellen Rahmung der Massenspiele, ihrer Sprechund Bewegungschöre und – besonders eindrücklich – ihrer jeweiligen (Theater-)Architekturen auch eine dezidiert mediengeschichtliche Perspektive verfolgt wird. Denn derVersuch, nationalsozialistische Festspiele zu schaffen, lässt sich ohne die Entwicklung des Radios und seiner Techniken der Lautverstärkung nicht verstehen. In dem in der Regimephase dominant werdenden Unterhaltungsspektakel schließlich gewann das Visuelle gegenüber dem Akustischen die Oberhand; ohne transmediale Formzitate und den Mediendispositivwechsel vom Radio zum Film mit seiner Mobilisierung einer kollektiv eingenommenen Vogelperspektive ist der Wandel der NS-Massenspiele vom Thingzum Stadionspiel nicht zu erklären. Stand beim Thingspiel noch die gemeinsame (notwendig theatrale) Volkwerdung im Mittelpunkt, zu der auch die performative Exklusion ‚der Anderen‘ und die Ausschlussdrohung gegenüber unentschiedenen „Volksgenossen“ gehören konnte, verschob sich mit der Etablierung des Regimes der Fokus auf die „formierte Volksfigur“ (S. 58), die nun als Spektakel der Reichsparteitage in Erscheinung trat. Als spezifisch nationalsozialistisches Formproblem macht Annuß dabei durchgängig die Notwendigkeit aus, Gefolgschaft als Einheit von Volk und Führer inszenieren zu müssen. Sie veranschaulicht diese Problematik insbesondere am spannungsreichen Verhältnis von Chor und Einzelfigur, das immer wieder zu missglückten Inszenierungen führte – etwa wenn die Einzelfigur in der Weite des Raumes unterging oder ‚der Führer‘ evoziert werden musste, aber nicht selbst anwesend sein konnte und es somit zu einemwiederkehrenden „Widerstreit von Präsenzbehauptung und exponierter Nichtidentität“ (S. 164) kam. Keineswegs alsowar die NS-Propaganda durchgängig erfolgreich: Langeweile beim Publikum war eines der Probleme, mit denen die Theaterleute zu kämpfen hatten und die zu disziplinierendenMaßnahmen führten. Das vom Oberammergauer Passionsspiel übernommene Klatschverbot wäre als Beispiel für eine versuchte Rezeptionssteuerung zu nennen – oder aber der von Ordnern vereitelte Aufbruch der Besucher*innen eines Thingspiels in Heidelberg im Jahre 1935, die vor einem nahenden Unwetter flüchten wollten. Mit Beispielen wie diesen gelingt es der Autorin, eigensinniges Agieren und damit auch Momente des Scheiterns der (frühen)Massenspiele in den Blick zu nehmen. Darüber hätte man gerne nochmehr gelesen; dasselbe gilt für die geschlechterhistorischenAspekte des Themas, die zwar aufscheinen, wenn etwa die geringe Zahl von Frauen im Hauptchor des Thingspiels Der Weg ins Reich von 1935 erwähnt und damit erklärt wird, dass diesem „eine männliche Stimme und Erscheinungsform“ verliehen werden sollte (S. 272). Systematisch aber wird die geschlechtertheoretische Dimension nicht erschlossen. Annuß‘ Studie bietet eine genaue, (teils zu) detaillierte Analyse, welche die kleinen und großen Veränderungen in der Figurierung der Masse im Laufe der 1930er Jahre theaterund medienwissenschaftlich reflektiert darlegt und damit die bisherige Forschung überzeugend differenziert. Erst mit der „geordneten Arenamasse“ (S. 409) ging laut Annuß eine neue Art der (form)politischen Regulierung einher, die nun auf Überwältigungsästhetik setzte. Hinsichtlich des Immersionscharakters der Massenspiele kann Annuß vielfältige Kontinuitätslinien über 1945 hinaus verdeutlichen – hin zu Reenactments in der heutigen Eventkultur oder aktuellen Werbeästhetiken mit ihrem Erlebnisversprechen. Auch derartigen postdisziplinären Subjektivierungsangeboten, die Annuß genealogisch bis in die NSZeit zurückverfolgt, kritisch zu begegnen, ist ein zentrales Anliegen der Studie, die darüber aber keineswegs die thanatopolitische Dimension der NS-Regierungskünste vergisst.