{"title":"Gespenstischer Materialismus. Eine Vorbesprechung zu Joseph Vogl: Kapital und Ressentiment","authors":"F. Raimondi","doi":"10.6094/BEHEMOTH.2021.14.1.1052","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Kapital und Ressentiment ist der jüngste Band in einer Serie von brillanten Analysen des gegenwärtigen Finanzkapitalismus, die Joseph Vogl 2010/11 – an seine frühere Arbeit Kalkül und Leidenschaft anknüpfend – mit Das Gespenst des Kapitals eingeleitet hat. Zusammen mit Der Souveränitätseffekt (2014) ordnen sich die drei Bücher keinem übergreifenden Systemgebäude unter, bereiten aber einander den Boden und weisen etliche Überschneidungen auf. Das Gespenst des Kapitals untersucht das Ordnungsdenken der Politischen Ökonomie, das seit den Theorieentwürfen des klassischen Liberalismus nie nur ökonomisch, sondern immer auch als eine Sozialtechnik konzipiert war. Von der „Idylle des Marktes“ bis hin zum gegenwärtigen „Überraschungsraum“ des krisengeschüttelten Finanzkapitalismus entlarvt Vogl die unterstellte Rationalität und Ordnung eines sich durch eine „unsichtbare Hand“ oder nach Maßgabe einer Efficient Market Hypothesis – wie es bei der neoliberalen Chicago School heißt – selbst regulierenden Marktes als Theologem (Vogl 2010, 11, 31 und 141). Was sich durch die Abstraktion von den realen gesellschaftlichen Verhältnissen etabliert, ist keine Harmonie und allgemeine Wohlfahrt, sondern ein Un-Ordnungsgefüge, in dem schließlich „die Launen und die Gefährlichkeit alter Souveränitätsfiguren [...], die in ihrer Ungebundenheit, in ihrer Gesetzeslosigkeit schicksalhaft werden“ (Vogl 2010, 178), regieren. Die Genealogie dieser „seignoralen Macht“, die sich in parademokratischen Institutionen wie den Zentralbanken, der EZB oder der WTO verkörpert, wird inDer Souveränitätseffekt entwickelt, in dem Vogl die wechselseitige Abhängigkeit von Staat und Markt und die Geschichte einer Ökonomisierung des Regierens bis in die Anfänge moderner Politik verfolgt (Vogl 2015, 69). Kapital und Ressentiment setzt dahingehend den Souveränitätseffekt fort, als hier mit dem Plattformkapitalismus eine „wechselseitige[] Verschränkung bzw. Verstärkung von Finanzund Informationsökonomie“ analysiert wird, die zur „Hegemonie des Finanzmarktkapitalismus“ führt, mit dem neue polit-ökonomische Monopolbildungen und zugleich eine neue informatisierte Öffentlichkeit entstehen, aus der sich Mehrwert extrahieren lässt (Vogl 2021, 5). Gerade die ressentimentalen Bewegungen, die sich gegenwärtig selbst als kritische Öffentlichkeit stilisieren, macht Vogl als Produkt und Produktivkraft des Informationskapitalismus aus, sofern ihr antisoziales Verhalten eben jene Form von Sozialität darstellt, mit der der Kapitalismus seit je her am besten funktionieren konnte.[1] 10.6094/behemoth.2021.14.1.1052","PeriodicalId":30203,"journal":{"name":"Behemoth a Journal on Civilisation","volume":"14 1","pages":"22-29"},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"2021-03-09","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Behemoth a Journal on Civilisation","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.6094/BEHEMOTH.2021.14.1.1052","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"","JCRName":"","Score":null,"Total":0}
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Abstract
Kapital und Ressentiment ist der jüngste Band in einer Serie von brillanten Analysen des gegenwärtigen Finanzkapitalismus, die Joseph Vogl 2010/11 – an seine frühere Arbeit Kalkül und Leidenschaft anknüpfend – mit Das Gespenst des Kapitals eingeleitet hat. Zusammen mit Der Souveränitätseffekt (2014) ordnen sich die drei Bücher keinem übergreifenden Systemgebäude unter, bereiten aber einander den Boden und weisen etliche Überschneidungen auf. Das Gespenst des Kapitals untersucht das Ordnungsdenken der Politischen Ökonomie, das seit den Theorieentwürfen des klassischen Liberalismus nie nur ökonomisch, sondern immer auch als eine Sozialtechnik konzipiert war. Von der „Idylle des Marktes“ bis hin zum gegenwärtigen „Überraschungsraum“ des krisengeschüttelten Finanzkapitalismus entlarvt Vogl die unterstellte Rationalität und Ordnung eines sich durch eine „unsichtbare Hand“ oder nach Maßgabe einer Efficient Market Hypothesis – wie es bei der neoliberalen Chicago School heißt – selbst regulierenden Marktes als Theologem (Vogl 2010, 11, 31 und 141). Was sich durch die Abstraktion von den realen gesellschaftlichen Verhältnissen etabliert, ist keine Harmonie und allgemeine Wohlfahrt, sondern ein Un-Ordnungsgefüge, in dem schließlich „die Launen und die Gefährlichkeit alter Souveränitätsfiguren [...], die in ihrer Ungebundenheit, in ihrer Gesetzeslosigkeit schicksalhaft werden“ (Vogl 2010, 178), regieren. Die Genealogie dieser „seignoralen Macht“, die sich in parademokratischen Institutionen wie den Zentralbanken, der EZB oder der WTO verkörpert, wird inDer Souveränitätseffekt entwickelt, in dem Vogl die wechselseitige Abhängigkeit von Staat und Markt und die Geschichte einer Ökonomisierung des Regierens bis in die Anfänge moderner Politik verfolgt (Vogl 2015, 69). Kapital und Ressentiment setzt dahingehend den Souveränitätseffekt fort, als hier mit dem Plattformkapitalismus eine „wechselseitige[] Verschränkung bzw. Verstärkung von Finanzund Informationsökonomie“ analysiert wird, die zur „Hegemonie des Finanzmarktkapitalismus“ führt, mit dem neue polit-ökonomische Monopolbildungen und zugleich eine neue informatisierte Öffentlichkeit entstehen, aus der sich Mehrwert extrahieren lässt (Vogl 2021, 5). Gerade die ressentimentalen Bewegungen, die sich gegenwärtig selbst als kritische Öffentlichkeit stilisieren, macht Vogl als Produkt und Produktivkraft des Informationskapitalismus aus, sofern ihr antisoziales Verhalten eben jene Form von Sozialität darstellt, mit der der Kapitalismus seit je her am besten funktionieren konnte.[1] 10.6094/behemoth.2021.14.1.1052