{"title":"Aufstieg, Fall oder Wandel der Erlebnisorientierung? Eine Positionsbestimmung nach 30 Jahren „Erlebnisgesellschaft“","authors":"Jan Delhey, Christian Schneickert","doi":"10.1515/zfsoz-2022-0008","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Zusammenfassung Vor dreißig Jahren veröffentlichte Gerhard Schulze die Theorie der Erlebnisgesellschaft, der zufolge die Menschen in wohlhabenden Ländern zunehmend nach Erlebnissen streben, um ihr Projekt des schönen Lebens zu gestalten. Angesichts neuerer Gegenwartsdiagnosen, die insgesamt ein sehr krisenhaftes Bild der Spätmoderne zeichnen, erscheint diese Idee heute eigentümlich aus der Zeit gefallen. Vor diesem Hintergrund erörtern wir in diesem Beitrag zwei Fragen. Die erste, vor allem auf die zurückliegenden Jahre gerichtete Frage ist, ob der Erlebnisgesellschaft mit ihrer starken Innenorientierung tatsächlich nur eine kurze Blütezeit beschieden war und inzwischen die Außenorientierung der kompetitiven Gesellschaft wieder an Bedeutung gewonnen hat – oder ob sich die Erlebnisgesellschaft, gewissermaßen unter dem Radar des aktuellen Krisendiskurses, doch weiter entfaltet hat. Mit Daten des European Social Survey 2002–2018 für Deutschland zeigen wir, dass die Erlebnisorientierung in den letzten zwei Jahrzehnten auf hohem Niveau noch einmal zugenommen hat, während die Statusorientierung vorübergehend angestiegen war, um dann in den 2010er Jahren spürbar zurück zu gehen. Die zweite, stärker auf die kommenden Jahre gerichtete Frage ist, welche neuen existenziellen Problemdefinitionen jenseits des erfolgreichen und des schönen Lebens, die beide einer Steigerungslogik folgen, sich abzeichnen. Perspektivisch halten wir es für wahrscheinlich, dass begrenzungslogische Lebensmaximen in Gestalt des achtsamen Lebens und insbesondere des nachhaltigen Lebens wichtiger werden. Angesichts des hohen subjektiven Gratifikationspotenzials der postmodernen Konsumgesellschaft ist allerdings von einer starken Beharrungskraft der Steigerungslogik auszugehen – und damit auch der Erlebnisorientierung.","PeriodicalId":47292,"journal":{"name":"Zeitschrift Fur Soziologie","volume":"51 1","pages":"114 - 130"},"PeriodicalIF":0.8000,"publicationDate":"2022-06-30","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"1","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Zeitschrift Fur Soziologie","FirstCategoryId":"90","ListUrlMain":"https://doi.org/10.1515/zfsoz-2022-0008","RegionNum":4,"RegionCategory":"社会学","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"Q3","JCRName":"SOCIOLOGY","Score":null,"Total":0}
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Abstract
Zusammenfassung Vor dreißig Jahren veröffentlichte Gerhard Schulze die Theorie der Erlebnisgesellschaft, der zufolge die Menschen in wohlhabenden Ländern zunehmend nach Erlebnissen streben, um ihr Projekt des schönen Lebens zu gestalten. Angesichts neuerer Gegenwartsdiagnosen, die insgesamt ein sehr krisenhaftes Bild der Spätmoderne zeichnen, erscheint diese Idee heute eigentümlich aus der Zeit gefallen. Vor diesem Hintergrund erörtern wir in diesem Beitrag zwei Fragen. Die erste, vor allem auf die zurückliegenden Jahre gerichtete Frage ist, ob der Erlebnisgesellschaft mit ihrer starken Innenorientierung tatsächlich nur eine kurze Blütezeit beschieden war und inzwischen die Außenorientierung der kompetitiven Gesellschaft wieder an Bedeutung gewonnen hat – oder ob sich die Erlebnisgesellschaft, gewissermaßen unter dem Radar des aktuellen Krisendiskurses, doch weiter entfaltet hat. Mit Daten des European Social Survey 2002–2018 für Deutschland zeigen wir, dass die Erlebnisorientierung in den letzten zwei Jahrzehnten auf hohem Niveau noch einmal zugenommen hat, während die Statusorientierung vorübergehend angestiegen war, um dann in den 2010er Jahren spürbar zurück zu gehen. Die zweite, stärker auf die kommenden Jahre gerichtete Frage ist, welche neuen existenziellen Problemdefinitionen jenseits des erfolgreichen und des schönen Lebens, die beide einer Steigerungslogik folgen, sich abzeichnen. Perspektivisch halten wir es für wahrscheinlich, dass begrenzungslogische Lebensmaximen in Gestalt des achtsamen Lebens und insbesondere des nachhaltigen Lebens wichtiger werden. Angesichts des hohen subjektiven Gratifikationspotenzials der postmodernen Konsumgesellschaft ist allerdings von einer starken Beharrungskraft der Steigerungslogik auszugehen – und damit auch der Erlebnisorientierung.
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